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[ Mühlhausen ]

Bauernkrieg und Bibliothek

Mühlhausen in Thüringen hat schon sechs Kirchen umgenutzt – in teils mutigen und stets gelungenen Projekten.

Jakobikirche: Außen Gotik…

Roland Stimpel

„Bei uns läuten samstags um sechs die Glocken in allen Kirchen“, sagt Matthias Gliemann. „In den evangelischen, der katholischen und den städtischen.“ Und fast alle Glocken im thüringischen Mühlhausen betreffen ihn selbst. Zum einen ist er Protestant; die evangelische Kirche besitzt und betreibt in der Stadt noch fünf gotische Gotteshäuser. Noch mehr aber betrifft ihn Mühlhausens weltliches Geläut. Gliemann ist als Leiter des Hochbauamts verantwortlich für sechs gotische Kirchen, die die Stadt und eine von ihr unterstützte Stiftung umgewandelt haben. Mit dieser Quote liegt die 36 000-Einwohner-Gemeinde weit vorn im Land. Sie zeigt musterhaft, was man mit Engagement, Zähigkeit und architektonischem Geschick aus verwaisten und verfallenen Gotteshäusern machen kann.

Für Mühlhausen ist die Kirchenkonversion keineswegs neu. In der einst wohlhabenden Freien Reichsstadt waren Kirchen seit Napoleons Zeiten Werkstätten, Kornspeicher und Müllfahrzeug-Depots, Strohlager und Altenheime. Einzelne Kirchen wechselten im Lauf der Zeit mehrmals ihre weltliche Nutzung. Drei Häuser auf einmal gab die evangelische Kirche in den 70er-Jahren auf, als die Gemeinden ausbluteten und nicht nur für Christen Baumaterial und Handwerker chronisch knapp waren.

Die frühere Not war Voraussetzung für die heutige Tugend, meint Matthias Gliemann: „Wir konnten unsere historischen Kirchen nur deshalb so konsequent weiterentwickeln, weil die Stadt das Geschehen in der Hand hat. Die nötigen baulichen Eingriffe konnten wir viel besser realisieren, als wenn die Häuser noch im kirchlichen Besitz wären.“ Das sei nicht so sehr eine materielle Frage – arm ist auch die Stadt. Aber für die teils starken Eingriffe hätte nach seiner Ansicht die Kirche wohl zu viele Skrupel gehabt, wäre sie noch Eigentümerin.

… innen Stadtbibliothek. Das frei in den Kirchenraum gestellte dreigeschossige Stahlgerüst und die beiden „Funktionstürme“ links und rechts prägen heute den Raumeindruck.

Zwei Häuser umsorgte bereits die sonst kirchenfeindliche DDR. Denn ein einstiger Mühlhäuser Pfarrer stand beim Regime in hohem Ansehen: der Sozialrevolutionär, Bauernkriegsanführer und Märtyrer Thomas Müntzer, hingerichtet nach verlorener Schlacht im Jahr 1525. Also galt es 1975, ein Müntzer-Jahr zu feiern, in dem er als geistiger und geistlicher Vorläufer des realen Sozialismus gewürdigt werden sollte. Dazu bot sich vor allem die Marienkirche an, in der er damals zum Aufstand gepredigt hatte. Sie hat den höchsten Turm aller Thüringer Kirchen, ihr fünfschiffiger Innenraum ist der zweitgrößte nach dem des Erfurter Doms. Die DDR richtete eine Müntzer-Gedenkstätte ein, veränderte aber den Bau selbst kaum. Heute ist die Kirche ein städtisches Museum. Neben Müntzer würdigt es momentan auch Johann Sebastian Bach, der hier vor genau 300 Jahren Organist war und seine Ratswahlkantate uraufführte. Die Stadt hat die Kirche seit den 90er-Jahren sorgsam restauriert, inklusive des erst 1903 vollendeten neugotischen Turms mit seinem reichen Figurenschmuck.

Atmosphäre: Ein Ort mit besonderer Aura ist die Leseecke im Chorraum über dem früheren Standort des Altars.

Nur eine Gedenkstätte…

…für die Aufständischen von 1525 war der DDR nicht genug; sie machte auch die Kornmarktkirche zum Bauernkriegsmuseum. Schon seit mehr als 150 Jahre war sie kein Gotteshaus gewesen. Nachdem bis 1975 Zwischendecken und Haus-im-Haus-Einbauten herausgerissen worden waren, gewann der Raum viel von seinem ­ursprünglichen Charakter zurück. Heute dient die Kirche als Museum sowie als schönster und größter Konzertsaal der Stadt.

Museum ist auch die kleine gotische Allerheiligenkirche mit der führenden Sammlung Thüringer Malerei des 20. Jahrhunderts – freilich nur im Sommer, da sie nicht beheizbar ist. Ein weiteres kleines Exgotteshaus ist die Kapelle des mittelalterlichen Antonius-Spitals, das heute als „Antoniq“ private Begegnungsstätte und Seminarkomplex ist. Für die Sanierung erhielt der Eigentümer Knut Ewers, früher Bauer in Norddeutschland, 2006 den Thüringer Denkmalpreis. In der Kapelle, seit Jahrhunderten nicht mehr Gotteshaus und zu DDR-Zeit Speisesaal eines Altenheims, hat er wenig verändert – bis auf Schallschutzfenster in den Formen der Gotik, damit drinnen laut gefeiert werden kann.

Kornmarktkirche: Auch als Konzertsaal ist der Raum beliebt.

Die beiden jüngsten Kirchenumbauten Mühlhausens sind die spektakulärsten: mutige, zugleich das Erbe respektierende Projekte, die in historischen Mänteln völlig neue ­Innenräume schufen. Da ist zunächst die Jakobikirche aus dem 14. Jahrhundert – im Barock mit einer Flachdecke versehen, ab 1836 als städtisches Zigarren-, Woll- und ­Holzlager genutzt und allmählich verfallen, ungeachtet der Prägewirkung ihrer beiden Türme für Mühlhausens Stadtsilhouette.

Traditionsort: Hier entstand schon 1975 ein Bauernkriegsmuseum; Einbauten aus dem 19. Jahrhundert wurden dazu ­entfernt.

Schon 1973 gab es eine Nutzungsstudie des Erfurter Instituts für Denkmalpflege, die den Umbau zur Ausstellungs- oder Turnhalle, zum Mehrzwecksaal oder zur Bibliothek empfahl. Die Bibliotheksidee wurde 30 Jahre später rea­lisiert, in einem der gewagtesten und gelungensten Kircheneinbauten weit über Mühlhausen hinaus: einer ­dreigeschossigen schlanken Stahlkonstruktion, die frei im Gebäude steht, zwei Drittel seiner Fläche einnimmt und die meisten Bücherregale enthält. Hinzu kommen „Funktionstürme“ mit Büros und anderen Räumen. Entworfen hat die Einbauten das Erfurter Büro Winkler + Dehnel, realisiert dessen einstiger Partner Hans Winkler.

Er und Gliemann haben sich vor Eingriffen in den Bestand nicht gescheut. Kanzelaltar, Seitenempore, Doppelempore am Westgiebel und Orgelprospekt wurden demontiert und zum Teil ins Kunstmagazin der Evangelischen Kirche gebracht. Über der flachen Barockdecke ist die Haustechnik untergebracht und der Dachstuhl dazu mit neuen Hängewerken verstärkt. Im neu gedeckten Dach gibt es statt der früheren zwei Fledermausgauben jetzt sechs. Die neuen waren nötig für die Enden der Zu- und Abluftrohre, die von draußen aber nicht zu sehen sind. Unorthodox sind auch die Rettungswege von den oberen Etagen des offenen Bibliothekgerüsts. Der eine führt über eine Brücke in einen der Türme, in dem eine moderne Stahlwendeltreppe nach unten führt. Der zweite Weg führt zu einem gotischen Kirchenfenster, von dem sich per Motor ein recht­eckiges Stück öffnen lässt. Draußen kann die Feuerwehr ihre Leiter ausfahren. 2004 zog die Stadtbibliothek ein; ­seitdem verzeichnet sie ein Drittel mehr Leser als in ihren früheren Räumen.

Kiliankirche: Die Kirche ist mit einem modernen Anbau versehen…

Noch radikaler…

…war die Umgestaltung der kleinen Kilianikirche aus dem 13. Jahrhundert. Sie war in den 60er-Jahren als Gotteshaus aufgegeben worden, diente dann der Re­paraturwerkstatt „PGH Autoflott“ als Materiallager und ­verfiel nach deren Insolvenz in den 90er-Jahren zusehends. 2002 gründeten Mühlhäuser Bürger eine Stiftung, die den Bau rettete und der er jetzt gehört. Genutzt wird er als ­Jugendkulturzentrum der Theaterwerkstatt des Vereins „3 K“, in dem mehr als 60 engagierte Laien spielen.

Dazu ist die Kilianikirche vom Mühlhäuser Architekten Dietrich Hose noch stärker umgestaltet worden als St. Jakobi. An ihrer Querseite steht jetzt ein modernes Türmchen für Treppenhaus, Fahrstuhl und Technik, das in der Farbe und ein wenig auch in der Form mit dem Kirchturm korrespondiert. Durch den Eingang an der Längsseite kommt man zunächst ins Untergeschoss mit Kasse und Café; die Zwischendecke darüber ist neu. Der Theatersaal nimmt den oberen Teil des früheren Kirchenraums ein. Ihn prägen Bühnen- und Tribüneneinbau. Durch die Gestänge für Licht-, Belüftungs- und Tontechnik wirkt die Decke mit ihren restaurierten Barockbildern jetzt wie permanent eingerüstet.

Jakobi- wie Kilianikirche…

…werfen die Frage auf: Darf man das? Darf man Kirchenräume so mit Einbauten ­ver­sehen, dass der ursprüngliche Raumeindruck in der ­Bibliothek nur noch in Ausschnitten zu ahnen und im Jugendtheater ganz verschwunden ist? Raum- und religionspuristisch betrachtet darf man natürlich nicht. Doch Festhalten an der reinen Lehre hätte in beiden Kirchen deren unreine Leere bedeutet – und womöglich ­irgendwann das Ende der mittelalterlichen Bauten. ­Deren historische Substanz haben die Einbauten physisch, so weit es ging, verschont. Das Riesengerüst in der Jakobikirche steht zum Beispiel fast frei im Raum und wäre nahezu spurenlos demontierbar. So sind beide ­Projekte gut mit der herrschenden Lehre der Denkmalpflege vereinbar, für die der Substanzerhalt zählt und nicht so sehr der Erhalt des Sichtbaren. Die innen so ­extrem veränderte Kilianikirche bekam einen gemeinsamen Preis des Handwerksverbands und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.

… und wird als Jugendtheater genutzt. Dazu wurde ein Zwischenboden eingezogen; die Decke wird von Technik vor den Barockbildern dominiert.

Im kirchenreichen Mühlhausen ist sogar ein Argument legitim, das Denkmalpfleger sonst gar nicht gerne hören: Wer gotische Hallen erleben will, hat noch genug Auswahl. In der Marienkirche mit ihren fünf Schiffen zum Beispiel. Oder in der gleichermaßen hinreißenden Diviblasiikirche, die übrigens noch heute als Gotteshaus dient. Dagegen kann man in der Jakobi-Bibliothek und im Kiliani-Theater ganz neue Kirchenraumerfahrungen machen. Vor allem in einer Leseecke der Bibliothek auf halber Raumhöhe zwischen den Chorfenstern – also über dem früheren Altarstandort und ziemlich genau am üblichen Ort für den gekreuzigten Christus. Der Raum hier wirkt durch die fast greifbaren Fenster und die filigranen Wandabschnitte dazwischen besonders sanft umschlossen und intim. Solcher Zauber ist nur in einer Kirche möglich, die nicht mehr Kirche ist.

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