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[ Tradition und Moderne in Stuttgart ]

Giebelhaus und Wohnmaschine

Glaubenskämpfe am Bau sind nicht neu: Vor 75 Jahren tobten sie zwischen Weißenhof und Kochenhof in Stuttgart. Heute werden beide Siedlungen geachte

Simone Hübener

Wer zwischen den hellen Kuben der Stuttgarter Weißenhofsiedlung schlendert, begegnet fast immer eifrig knipsenden Hobbyfotografen und erfurchtsvollen Architektur-Enthusiasten. 800 Meter weiter herrscht zwischen den spitzgiebeligen Häusern der Kochenhofsiedlung meist Ruhe. Die eine Siedlung ist weltweit bekannt, die andere schrieb nur eine regionale Architekturgeschichte. Beide wurden von Mitgliedern des Deutschen Werkbunds initiiert, aber beide waren Gegenmodelle und standen für bitteren, auch politisch-ideologischen Streit unter Architekten. Heute aber werden beide Siedlungen als Zeugnisse der Zwischenkriegszeit geachtet – ein Fall von Versöhnung nach langem Streit.

Die Weißenhofsiedlung entstand als Teil der Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ im Jahr 1927. Es sollten neue Konstruktionen ausprobiert und die von Industriebauten bekannten Methoden der Vorfertigung auf den Hausbau übertragen werden. Durch kürzere Bauzeiten sollten die Mieten sinken und die Wohnungsnot gelindert werden. Die Grundrisse waren an den hygienischen Anforderungen nach Licht, Luft und Sonne orientiert. Die Stadt Stuttgart finanzierte die 63 Wohneinheiten aus dem städtischen Bauprogramm. Auch gestalterisch sollte die Siedlung ein Fanal der neuen Zeit setzen. Die künstlerische Leitung erhielt Ludwig Mies van der Rohe, zum örtlichen Bauleiter wurde der im progressiven Berliner „Ring“ engagierte Richard Döcker bestellt.

Überwältigendes Interesse

Der Plan sah eine versetzte, lockere Anordnung der 33 Gebäude vor. Heftige Diskussionen provozierte die Auswahl der 17 teilnehmenden Architekten aus dem In- und Ausland. Der Werkbund war nicht gewillt, Mitgliedern aus der konservativeren Stuttgarter Schule wie Paul Schmitthenner und Paul Bonatz Platz einzuräumen. Die Weißenhofsiedlung wurde 1927 nach nur fünf Monaten Bauzeit eröffnet. Einige Häuser waren zwar noch nicht ganz fertig, das Interesse aber überwältigend: Rund 500 000 Besucher schauten sich die Siedlung an. Günstiger Wohnraum wurde hier allerdings nicht geschaffen, denn die Grundrisse waren teils großzügig und die Baukosten durch Sonntagsarbeit und Überstunden hoch. So zog überwiegend gebildeter Mittelstand ein.

Schon 1927 waren die kubischen, strengen Flachdachbauten umstritten. Paul Bonatz sah einen „Vorort Jerusalems“, Paul Schmitthenner ein „italienisches Bergnest“. Eine Postkarte von 1932 zeigt in einer Fotocollage den Weißenhof als Araberdorf mit fliegenden Händlern, Kamelen und Löwen. Und die Nationalsozialisten denunzierten das Ensemble dann als „Schandfleck Stuttgarts“, den sie tilgen wollten. Das Reich kaufte die Weißenhofsiedlung der Stadt ab und plante einen Gebäudekomplex für das Generalkommando V des Heeres. Das erledigte sich glücklicherweise, als die Einheiten 1941 nach Straßburg verlegt wurden.

Vorgezeigt wurde die Siedlung da schon lange nicht mehr, es sei denn als Teil der Nazi-Schmähpropaganda. Als Positivbeispiel hielten sie die Kochenhofsiedlung entgegen. Die am Weißenhof gekränkten Vertreter der Stuttgarter Schule hatten mit einem Gegenprojekt zeigen wollen, dass mit traditionellen Baumethoden und -stilen die Wohnungsnot besser zu lindern sei. 1927 erstellte Paul Schmitthenner das erste Konzept für den Bauplatz am Kochenhof; der Gemeinderat lehnte es aber wegen der zu großen Häuser ab.

Das Projekt rückte erst 1932 wieder in den Mittelpunkt des Interesses, mitten in der Weltwirtschaftskrise. Nun hieß das übergeordnete Ziel, das Ansehen des deutschen Holzes als günstiger und vor allem regionaler Baustoff aufzupolieren. Dafür legte zunächst der am Weißenhof bewährte Richard Döcker einen Plan vor, den aber Schmitthenner lautstark kritisierte. Schließlich erhielt Schmitthenner den Planungsauftrag. Seine Gestaltungsvorgaben ließen den mehr als zwanzig Architekten wenig Spielraum. Beispielsweise mussten die Dächer eine Neigung von mindestens 35 Grad aufweisen, alle Häuser waren zu verputzen oder anzustreichen, für Wände und Decken durften nur bewährte Konstruktionen des Fachwerk-, Skelett-, Block- und Tafelbaus verwendet werden.

Die Bauherren waren individuell und privat. Am 23. September 1933 wurde die Kochenhofausstellung eröffnet. Das Echo auf die Siedlung war weitgehend positiv, die Reaktion aber fast nur auf Deutschland beschränkt. Den knapp acht Monate vorher an die Macht gekommenen Nationalsozialisten war dieses Projekt gerade recht: Auf dem Kochenhof bauten nur deutschstämmige Architekten, dem deutschen Holz als Baustoff sollte zu altem Ruhm verholfen werden, und die Häuser selbst griffen mit ihren Satteldächern und kleinen Fensteröffnungen eine traditionelle Formensprache auf.

Die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten belastete das Ansehen der Siedlung noch lange. Dabei wurde oft übersehen, dass die Initiatoren Schmitthenner und Bonatz noch immer Mitglieder des Deutschen Werkbunds waren und in dieser Funktion bereits 1926 ihre ersten Gedanken geäußert hatten. Den Werkbund rettete das nicht; die Nazis lösten ihn 1934 auf.

Ausgebombt und abgerissen

Im Zweiten Weltkrieg legte ein Bombenangriff auf dem Weißenhof sieben Gebäude im mittleren Teil in Schutt und Asche, auf dem Kochenhof fünf Häuser. Aber auch nach Kriegsende erlebten beide Siedlungen tief greifende Veränderungen. In den Lücken der Weißenhofsiedlung entstanden von 1949 bis 1954 Neubauten mit Satteldach. In den 1950er-Jahren wurden drei weitere Originalgebäude abgerissen, diesmal aber durch Flachdachhäuser ersetzt.

Eine erste Welle der Empörung löste der drohende Abriss des Einfamilienhauses von Le Corbusier und Pierre Jeanneret aus, dessen zunächst geplanter Umbau in ein Zweifamilienhaus als unwirtschaftlich galt. Dem Engagement der Bevölkerung und des damaligen Oberbürgermeisters Arnulf Klett ist es zu verdanken, dass die Siedlung 1958 unter Denkmalschutz gestellt wurde und das Haus erhalten blieb. Nach dem Denkmalschutzgesetz von 1972 ist sie nun „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ und genießt erweiterten Schutz vor einer etwaigen Umgestaltung.

Nach dem kurzen Aufschrei Ende der Fünfzigerjahre dümpelte die Siedlung als Ganzes zunächst jedoch weiter vor sich hin; lediglich bei Mieterwechseln gab es kleinere Instandsetzungen. Eigentümer war und ist der Bund als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Der Durchbruch gelang 1977 dank einer Initiative von Bodo Rasch, Frei Otto und Berthold Burkhardt.

Der Bund und die Stadt Stuttgart einigten sich auf eine Sanierung für fast zehn Millionen Mark. Zwischen 1981 und 1987 wurden mit diesem Kapital die elf erhaltenen Häuser denkmalgerecht wiederhergestellt und saniert, eine Dokumentation erstellt und in fünf Musterhäusern und Wohnungen die Grundrisse in den Originalzustand zurückgebaut. Ein wichtiger Impuls war 1982 die Gründung der Architekturgalerie am Weißenhof, heute eine der ältesten in Europa. Die Bewohner der anderen Häuser sind meist Bedienstete des Bundes; in einigen Häusern leben noch heute Nachkommen der Erstbezieher von 1927.

„Einfaches Kulturdenkmal“

Auch in der Kochenhofsiedlung wurden nach dem Krieg die zerstörten Häuser stark verändert wiederaufgebaut. Billigen Wohnraum zu schaffen, hatte Vorrang vor der Baukunst. Danach wurde es ruhig um die Holzhäuser; bis in die 1980er-Jahre interessierten sich weder die Stuttgarter Bürger noch die Behörden besonders für sie. Die Bewohner passten ihren Besitz den eigenen Wünschen an, was einerseits für die Raumqualität der Originalbauten spricht, andererseits weitreichende Veränderungen mit sich brachte, die aus heutiger Sicht abzulehnen sind. Erst 1983 wurden die 14 am besten erhaltenen Bauten der Kochenhofsiedlung unter Denkmalschutz gestellt; allerdings nur als „einfaches Kulturdenkmal“. Ein Haus strichen die Behörden 1991 wieder aus der Liste. Alle anderen waren grundlegend umgebaut worden, sodass der Umfang an Originalsubstanz nicht mehr ermittelbar war.

Schön restaurierte Gebäude sind nur ein Teilaspekt beim Erhalt baukulturellen Erbes. Mindestens genauso wichtig sind Informationen, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind – am besten vor Ort. Die Weißenhofsiedlung musste über sechzig Jahre alt werden, bis sie 1990 ein erstes Informationszentrum bekam. Im ehemaligen Milchladen des Mehrfamilienhauses von Mies van der Rohe präsentierten die „Freunde des Weißenhofs e. V.“ eine kleine Sammlung mit Plänen, Bildern und Modellen. Ein erster wichtiger Schritt war getan, doch das große Interesse verlangte mehr.

2002 trug die Stadt Stuttgart ihrer Verantwortung Rechnung und kaufte von der Bundesrepublik das Doppelhaus von Le Corbusier zurück. Es folgten eine akribische Bestandsanalyse und Renovierung, unterstützt von der Wüstenrot-Stiftung. Im September 2006 öffnete das Weißenhofmuseum im Haus Le Corbusier, so der offizielle Name, seine Türen. In der linken Hälfte lockt nun ein Museum über die Werkbundausstellung und die Geschichte der Siedlung, in der anderen wird dem Besucher vor Augen geführt, wie es 1927 im Innern aussah. Grundriss, Farbigkeit und Einbaumöbel wurden so originalgetreu wie möglich wiederhergestellt. Die anderen Originalbauten lassen sich beim Rundgang durch die Siedlung dank kleiner Hinweistafeln mit Lageplan, kurzem Text und Grundrissen identifizieren.

Wer dagegen die Kochenhofsiedlung nicht explizit sucht, wird sie bis heute kaum finden. Kein Straßenschild, keine Hinweistafel, nicht einmal ein Schriftzug im Stadtplan deuten auf diesen ebenfalls aufschlussreichen Beleg deutscher Baugeschichte hin. Ein von Andreas K. Vetter neu herausgegebener und kommentierter Ausstellungskatalog sowie ein Buch von Stefanie Plarre schließen zwar endlich in publizistischer Hinsicht eine Lücke, doch für den Besuch vor Ort wünscht man sich einen kompakteren Führer. Unauffällig ist die Siedung auch, weil später entstandene Nachbarbauten äußerlich mit ihr harmonieren.

Die Zwistigkeiten zwischen Modernisten und Traditionalisten haben im Lauf der Jahre nachgelassen. Die Weißenhof-Galerie präsentiert undogmatisch verschiedene Architekturrichtungen – zum Beispiel 2002 Leon Krier und 2006 als Versöhnungsakt unter einst feindlichen Nachbarn den „Innovativen Holzbau zwischen Kochenhof und Weißenhof“. Der Wert beider Siedlungen als Zeugnisse der Stuttgarter Wohnmodelle in der Zwischenkriegszeit ist anerkannt, auch wenn der Weißenhof ungleich mehr Wertschätzung und öffentliche Präsenz genießt.

Simone Hübener ist freie Architekturjournalistin in Stuttgart.

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