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[ Schwerpunkt: Gefahr ]

„Wo brauchen wir wirklich noch Gitter?“

Warum Anstaltsleiterin Anke Stein täglich gern an ihren Arbeitsplatz im neuen Gefängnis kommt

Bevor Sie hier Anstaltsleiterin wurden, haben Sie sechs Jahre in der Berliner Justizverwaltung das Projekt geplant. Was kam zuerst – Sicherheit, Resozialisierung oder Kosten?

Resozialisierung und Sicherheit sind die Aufgaben des Strafvollzugs. Geleistet werden sie von Menschen an Menschen, nämlich von den Bediensteten an den Gefangenen. Die Justizbediensteten sind die wahren Lebenslänglichen; sie verbringen hier viel mehr Zeit als die Gefangenen. Beide vereint das Recht auf eine Umgebung, die sie von psychischen und körperlichen Schäden verschont.

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Modell-Haft: Anke Stein präsentiert die drei kreuzförmigen Unterbringungstrakte, die Magistrale (links vom Finger) und darunter die Funktionsbereiche.

Was belastet sie in herkömmlichen Gefängnissen am stärksten?

Das Gefühl des Abgeschlossenseins, der Mangel an räumlichen Perspektiven, die oft schlechten Lichtverhältnisse und nicht zuletzt die immer wiederkehrenden harten Klangbilder – Metall auf Metall an den Türen, Schritte auf harten Böden, viel Hall, wenig weiche Geräusche. Wir haben hier auch ein Akustik-Gutachten beauftragt, um solche Klangbilder möglichst zu vermeiden. Das war Teil der Gesamtidee, all das, was die Isolierung und Abgeschlossenheit baulich sichtbar macht, auf das Nötige zu reduzieren. Wir haben uns zum Beispiel systematisch gefragt, ob wir an einer Stelle wirklich noch ein Gitter brauchen oder nicht.

Und die Insassen?

Die eben geschilderten Wirkungen erleben auch sie. Und da sie in der Haftzeit rund um die Uhr hier sind, erleben sie sie noch intensiver. Ihnen ist die Freiheit entzogen; ihr Tagesablauf ist streng geregelt. Das muss so sein, aber das muss man ihnen nicht auch noch baulich dauernd unter die Nase reiben. Ihnen soll deutlich werden, dass der Faden zur Außenwelt nicht völlig gerissen ist. Sie kehren dorthin zurück und sollen sich bei uns darauf vorbereiten, nicht nur ihre Zeit absitzen. Die Baulichkeit unterstützt sie darin, wenn sich nicht in jeder Ecke die hoheitliche Gewalt widerspiegelt.

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Besucherempfang: Die Sitze haben die gleiche Form wie die Hafttrakte und sind ebenfalls von Josef Hohensinn entworfen.

Sie sollen nicht sehen, dass sie im Gefängnis sind?

Unsichtbar machen kann man das natürlich nicht und das wäre auch gar nicht gewollt; im Bewusstsein ist es sowieso immer. Aber man kann das Gefühl der Isolation reduzieren. Die Anlage ist nicht von einer Mauer umgeben, sondern von zwei transparenten Zäunen. Man blickt in die umgebende Landschaft. Die Wandfarben sind hell; die Hafträume haben annähernd bodentiefe Fenster. Einen Fensterflügel kann man auch von drinnen öffnen, allerdings sind vor diesem Lochbleche. In den Loggien vor den Gemeinschaftsräumen sitzt man an der freien Luft, wenn auch hinter einem Gitter. Und die Magistrale zwischen den Hafttrakten und anderen Funktionsbereichen ist 260 Meter lang ohne jede optische oder physische Barriere. Man spürt hier auch die Wärme oder Kälte draußen.

Man geht frei durchs Gefängnis?

Ein Bediensteter gibt die Tür vom Unterbringungsbereich frei, dann geht man durch die Magistrale zu seinem Arbeits-, Schul- oder Sportraum. Hier wird der Zugang wieder von Bediensteten kontrolliert. Aber auf dem recht langen Weg dazwischen macht man auch physisch die Erfahrung, dass man seine Richtung lenken und seinen Schritt selbst bestimmen kann.

Unkontrolliert?

Überall im Haus gibt es gerade Linien und lange Sichtachsen. Damit leistet die Baulichkeit einen Teil der Sicherheitsaufgaben, und die Bediensteten können sich stärker auf die Betreuungsaufgaben konzentrieren. Das Gebäude funktioniert hier sehr gut. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass wir deutlich mehr Türen offen stehen lassen können, als wir beim Einzug vor einem Jahr angenommen haben. Diese Anstalt ist nicht starr und fixiert, sondern sie bietet Entwicklungspotenzial für einen zeitgemäßen Strafvollzug.

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Haupteingang: Nur neben dem Eingangsbau gibt es Mauern; ansonsten gewährt der Doppelzaun einen zwar stark gesiebten, doch leidlich klaren Blick in die freie Umgebung.

Die Zellentrakte wirken auf den ersten Blick sehr konventionell – es scheinen die sternförmigen Kreuzbauten zu sein, wie man sie aus Gefängnissen seit 200 Jahren kennt.

Die Idee ist eine ganz andere: In dem herkömmlichen panoptischen System saß ein Bediensteter in der Mitte und hatte die Flure von Hunderten Zellen auf mehreren Etagen im Blick. Kontrolle war der einzige Zweck. Auch bei uns sitzt der Justizvollzugsbedienstete am Schnittpunkt zweier Gänge. Er überwacht nicht nur, sondern er kommuniziert auch. Die einzelnen Etagen sind nicht mehr offen. Und in den Unterbringungsbereichen gibt es nicht nur Hafträume, sondern auch Gemeinschaftsräume für jeweils 18 Gefangene, in denen sie auch kochen können. Es geht schließlich auch darum, zivile Umgangsformen einzuüben und zu pflegen.

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Manchmal offen: Die Zellen, amtlich „Hafträume“ genannt, sind 10,3 Quadratmeter groß und haben separierte Toilettenbereiche.

Berliner Boulevardblätter sprachen von einem Luxus-Knast.

Freiheitsentzug ist der stärkste Eingriff in die Grundrechte eines Menschen und Eingesperrtsein ist niemals Luxus. Die Insassen werden eines Tages wieder unsere Nachbarn sein. Auch das Gebäude soll sie darauf vorbereiten.

Das Kunstwerk spricht Besucher, Bedienstete und Insassen an. Sein Thema ist die Beziehung von Innen und Außen, von geschlossenen Räumen und der umgebenden Offenheit – genau das, was auch Thema der Haft ist. Es erklärt, dass Justizvollzug nicht nach dem Prinzip „Tür zu – Schlüssel wegtun“ funktioniert. Ich bin erfreut über den Respekt, den das Kunstwerk erfährt. Die für Insassen zugänglichen Teile werden durchaus wahrgenommen und als Bilder erkannt, die aufgehängten Rotunden werden nicht als Sportgeräte missbraucht. Das spricht dafür, dass die Installation ankommt.

Wie wirkt es auf Sie, täglich in dieses Gefängnis zu gehen?

Ich komme wirklich gern her. Es ist ein normaler Arbeitsplatz, der seine speziellen Einschränkungen und Belastungen auf das Unvermeidliche beschränkt.


Den Bericht „Knackis und Goldmann“ zur Strafanstalt Heidering finden Sie hier.

Haft-Buch

Die als Architektin auf Gefängnisse spezialisierte Autorin will laut Verlagswerbung „Architekten und Planern einen unterstützenden Einblick in die Thematik geben“. Zu zwei Dritteln beschäftigt sich das Buch nicht unmittelbar mit Architektur, sondern mit der Geschichte des Gefängnisses und dem Freiheitsentzug als solchem, mit der Rechtslage in Österreich, wo die Autorin lebt, mit typischen Gefangenengruppen, Sicherheit und sogar dem Thema „Tiere“. Das letzte Drittel gibt unmittelbare Hilfen und Anregungen für eine gottlob seltene, doch umso verantwortungsvollere Entwurfsaufgabe.

Artikel19Andrea Seelich
Handbuch Strafvollzugsarchitektur
Parameter zeitgemäßer
Gefängnisplanung
Springer-Verlag, 2009, 312 S., 69,95 Euro

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