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[ Schwerpunkt: Quer ]

Dicke Bretter aus Beton

Wie erhält man einen Stadtkern aus der Nachkriegszeit, den viele Bürger öde finden? Und wie begrünt man einen Ort, in dem Straßenbäume als lästig gelten? Der eigenwillige Stadtbaurat von Siegen weiß, wie es geht

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Neue alte Ufer: Lange parkten über dem Fluss Autos. Bald soll die Sieg wieder so erlebbar sein wie auf dem Rendering dargestellt. Die Häuser am rechten Ufer sind aus der Nachkriegszeit.

Text: Roland Stimpel

Baurat Michael Stojan hat ein so schlichtes wie ehrgeiziges Ziel: „Jeden Tag ein bisschen verschönern.“ Dafür bietet ihm Siegen besonders großes Potenzial: Die Industriestadt in Südwestfalen hat sich dem funktionalen und autogerechten Städtebau der Nachkriegszeit besonders willig überlassen. Heute wirkt Siegen über weite Strecken wild zerrissen, von einer Hochstraße dominiert und nicht gerade als Produkt ambitionierter Stadtgestaltung.

Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: der historischen Oberstadt am steilen Siegberg mit zwei Schlössern, wichtigen Kirchen, zwei Kilometern erhaltener Stadtmauer und vielen Bürgerhäusern auf schmalen Parzellen. Sie wurde im Krieg fast völlig zerstört, danach rasch wieder aufgebaut und lange vernachlässigt. Jetzt aber ist es Stojan gelungen, bei Lokalpolitikern und vielen Bürgern den Wert dieses Nachkriegsquartiers bewusst zu machen. Die Oberstadt ist Objekt einer „Liebe auf den zweiten Blick“ geworden, wie Stojan das ausdrückt.

Über diesen Baurat am scheinbar falschen Ort haben wir vor sechs Jahren schon einmal unter dem Titel „Der Schöngeist und das Biest“ geschrieben, als er in Siegen gerade angefangen hatte. Stojan ist bekennender Verfechter eines Bauens, das auf regionalen Traditionen basiert und geschlossene Stadträume bildet. In früheren Ämtern hat er das unter anderem rund um den Gütersloher Kolbeplatz und den Rathaus-Neubau von Gladbeck realisiert. So einer schien im gewerblich-nüchternen, pietistisch-protestantisch geprägten Siegen völlig fehl am Platz zu sein. In dieser Tradition ist Sinnlichkeit im Zweifel Sünde; das galt und gilt auch fürs Bauen.

Aber es hatte schon einmal einen Baurat gegeben, der das anders sah. Günter Simony war von 1945 bis 1963 im Amt und versuchte, beim Neuaufbau der Oberstadt, so gut es ging, Zeitgenössisches und Überkommenes zu vereinen. Dazu trugen die beharrlichen, oft eigenbrötlerischen Grundstücksbesitzer Entscheidendes bei. Sie beharrten auf ihren alten, oft nur dreieinhalb Meter breiten Parzellen und verweigerten sich einer Umlegungssatzung. Aus den Trümmern entstand die alte Kleinteiligkeit neu.

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Siegen gewinnt: Baurat Michael Stojan will das erhaltenswerte Erbe der Nachkriegszeit pflegen – und beseitigt Auswüchse der späteren Epoche.

Günter Simony verfasste einen Aufbauplan, den der Rat Anfang 1948 verabschiedete. Der Kern sollte größtenteils nicht rekonstruiert, sondern zeitgenössisch mit ortstypisch gewesenen Gestaltungselementen wiederaufgebaut werden. Dafür schrieben der Stuttgarter Siedlungsarchitekt Paul Schmitthenner und sein Schüler Gerd Offenberg ein Gutachten. Sie bestärkten Stadt und Grundeigentümer in der Beibehaltung der Parzellen und schlugen als Neuerung traufständige statt der früher giebelständigen Häuser vor, harmonierende Fassadenmaterialien und Firstlinien sowie einheitlich geneigte und mit Erkern versehene Schieferdächer.

All das floss 1951 in eine Gestaltungssatzung zu Dachformen, Bauhöhen und Fassadenmaterialien ein. Simony, als Lyriker nicht ganz so sattelfest wie als Baurat, reimte dazu das Motto: „Ältestes, bewahrt mit Treue. Freundlich aufgefasstes Neue.“ Auf den kleinen Grundstücken baute dann eine Vielzahl von Architekten – rund 200 verschiedene Entwurfsverfasser sind für die Jahre bis 1962 aktenkundig. Sie entwarfen unterschiedliche Fenster, Erker und Dachaufbauten, was im Rahmen der Satzung zu einem recht individuellen Stadtbild beitrug. Auch die Außenräume waren fast die gleichen wie zuvor. Die früheren Fluchtlinien wurden wieder verbindlich; Fahrbahnen wurden in der Oberstadt kaum ausgeweitet und sogar die alten Fußwege („Pättken“) quer durch die oft entkernten Baublöcke beibehalten. Dem Drang zur autogerechten Planung gab Siegen dann anderswo überreichlich nach.

Dezente Altstadt-Pädagogik

Die Oberstadt am Berg, die heute Deutschlands steilstes Stück Fußgängerzone enthält, geriet bald darauf ins Abseits. In der flachen Unterstadt konzentrierten sich Kommerz und Modernität. Stojan erinnert sich: „Als ich 2009 herkam, gab es wenig Wertschätzung für die Qualitäten des Wiederaufbaus. Viele trauerten immer noch dem historischen Stadtbild nach, das 1944 untergegangen war. Den Wiederaufbau sahen sie als minderwertigen Ersatz ohne besonderen Wert.“

Der neue Baurat handelte dezent pädagogisch. Er gewann Volkshochschule, Universität und lokale Architekten als Mitakteure einer Bürgerwerkstatt. In ihr nahmen interessierte Siegener sich neuralgischen Punkten wie der wichtigsten Brücke über die Sieg, des Herrengartens und des Platzes vor dem Unteren Schloss an. Andere spürten früheren Akteuren nach – nicht selten waren diese Vorfahren heutiger Bürger. Teilnehmer einer Unter-Werkstatt „Chancen zur Erhaltung des Stadtbildes“ analysierten Oberstadt-typische Merkmale, vor allem die weitgehend erhalte Nachkriegs-Dachlandschaft. Und sie fanden Stojans Behauptung immer glaubhafter: „Mit einer derart gut erhaltenen Stadt habt ihr ein Kapital, das in dieser reinrassigen Form einzig ist.“

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Dachlandschaft: Kirchen und Schloss sind rekonstruiert; fast alles andere in der Oberstadt ist aus den 1950er-Jahren. Eine Gestaltungssatzung soll jetzt das Bild bewahren.

Im April 2014, vier Wochen vor der Kommunalwahl, wagte es der Stadtrat trotz des in solchen Fällen aufkommenden Unmuts zum zweiten Mal in 65 Jahren, der Oberstadt eine Gestaltungssatzung zu geben. Der Baurat hatte dafür CDU, Grüne, FDP und Linke gewinnen können; die SPD enthielt sich. „Altstadt-Themen wurden in Siegen nie ideologisch diskutiert“, freut sich Stojan. Dennoch war er erleichtert: „Als wir den Beschluss bekamen, habe ich drei Kerzen angezündet.“ Zwar ist die Oberstadt weit von einer Rein- und Idealform entfernt. Stojan beklagt die oft ausgewechselten und dann vergröberten Fenster, die oft grellen Ladenfronten und ihre „Mörder-Werbeanlagen“, störende Dachaufbauten und fragwürdige Fassadenverkleidungen, die nach seinen Worten dem Prinzip gehorchten: „Pflegeleicht hat es der Siegener besonders gern.“

Aber er sieht auch Erfolge wie den nachkriegsgerechten Rück- und Umbau erster Häuser und dessen Vorbildeffekt: „Das wird allmählich ein Selbstläufer, weil die Nachbarn merken, was für eine Ausstrahlung diese Häuser gewinnen. Bei immer mehr Eigentümern kommt die Botschaft an.“ Bei der Oberstadt-Verschönerung kommt ihm zupass, dass die Gegend gerade neu fürs Wohnen entdeckt wird. „Studenten und Senioren bringen da einen unheimlichen Druck.“ Noch mehr Nachwuchs-Akademiker werden kommen, wenn demnächst die Wirtschaftsfakultät der Siegener Universität ins Untere Schloss einzieht.

Stojans Verschönerungswerk beschränkt sich aber nicht auf die Oberstadt. Unmittelbar darunter hat er der Koblenzer Straße zwei von vier Fahrspuren genommen und zum Großteil den Fußwegen zugeschlagen. Wie so oft in diesen Fällen, prognostizierten Schwarzseher Dauerstaus, die nachher nicht kamen. Anfangs schimpfende Geschäftsleute freuen sich jetzt über die höhere Stadtqualität.

Besonders die an der Westseite der Straße, denn hier fließt auf der anderen Seite der schmalen Häuserreihe die Sieg. Das tat sie 45 Jahre lang fast im Verborgenen: 1968 hatte die Stadt die sogenannte Siegplatte für 141 Autoparkplätze über den Fluss betoniert. Drunter versiegelte man die Flusssohle mit dem gleichen Stoff. Ein als Wasserpromenade geplanter Weg verkam zur Hinterhofzone, erzählt Stojan: „Wir haben auf einem kurzen Stück die Mülltonnen gezählt und kamen allein hier auf 70.“ Jetzt hat die Stadt im Projekt „Siegen zu neuen Ufern“ den Fluss wieder freigelegt; das Berliner Landschaftsarchitektur-Büro Atelier Loidl und die Münchener BPR-Gruppe haben dafür einen schönen Plan mit Freitreppen am Wasser und einer neuen, breiten Oberstadtbrücke entworfen, die das Berg-Quartier direkt mit dem Bahnhof verbindet. Ringsum siedelt sich Gastronomie an. Siegen erhält die Flanier- und Bummelmeile, die es bisher im Zentrum nicht gab.

Ein Problemfall ist und bleibt die Unterstadt zwischen Berg und Bahnhof. Hier wucherten seit den 1960er-Jahren die Großkomplexe für Büros und Handel, zwei Einkaufszentren inklusive. Die Strukturen sind fixiert; viel mehr als Fußboden-Kosmetik durch einen neuen Belag der Bahnhofstraße kann auch Stojan nicht ausrichten. Um das Stationsgebäude von 1861 kämpft er seit Langem mit der Bahn. Bisher konnte er ihr das Projekt eines „Retro-Fittings in bundeseinheitlicher Corporate-Design-Soße“ ausreden.

Außerhalb des Zentrums traut sich Stojan etwas für Siegen bisher Ungewohntes, Neues: Er lässt Bäume an Straßen und umfunktionierten Grundstücken pflanzen. In einer Bürgerumfrage 2009 stellte sich der Grünmangel als meistbeklagtes Defizit heraus. In der Kampagne „Siegen blüht auf“ kämpft Stojan um jeden Baum auf jedem Grundstück; 80 kleinere Grün-Interventionen zählt er mittlerweile, „manchmal muss man monatelang um drei Bäume feilschen“. Das lässt ihn nachträglich stöhnen: „Es war mir klar, dass ich da dicke Bretter bohren muss. Dass sie oft aus Beton sind, wusste ich nicht.“ Selbst der bekannt sparsamen Firma Lidl trotzte er vor einem Markt im Stadtteil Eiserfeld große Platanen und „wunderbare Unterpflanzungen“ ab.

1 Gedanke zu „Dicke Bretter aus Beton

  1. Liebe DAB-Redaktion,

    über einen Beitrag über die städtebauliche Entwicklung meiner alten Heimatstadt Siegen hätte ich mich gefreut – auch die vorbildliche Bürgerkommunikation, die das Regionale-2013-Projekt „Siegen zu neuen Ufern“ begleitet hat, wäre einen Bericht wert gewesen.
    Stattdessen die Lobpreisung eines Stadtbaurats.
    Bei allem Verständnis für journalistische Personalisierung: der Autor schafft es den Eindruck zu erwecken, von der Freilegung des Flusses bis zum Einzug der Uni ins Untere Schloss sei alles das Werk eines weltgewandten Stadtbaurats, das dieser quasi gegen den Widerwillen der „gewerblich-nüchternen, pietistisch-protestantischen“ Siegener durchgesetzt habe.
    Mit diesen Klischees knüpft er wenig originell an den 1996er SZ-Artikel „Was ist schlimmer als verlieren – Siegen!“ an und wird einem architektonischen Fachmagazin nicht gerecht.
    Daher die Empfehlung für alle, die mehr an dem Thema „Stadtplanung“ interessiert sind: auf der Plattform siegen-zu-neuen-Ufern.de gibt es verständlich aufbereitete Informationen.
    Und: ein Besuch in Siegen lohnt sich, der Stadtbaurat bietet sogar persönliche Baustellenführungen an! Warnung: am Wochenende wird dieser zuweilen von „gewerblich-nüchternen, pietistisch-protestantischen“ Stadtführern vertreten, die einige Baumaßnahmen eher laienhaft und den Wegfall von Parkplätzen eher skeptisch kommentieren…

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