Hamburgs Großmarkthallen sind eine Nachkriegs-Ikone. Der Einbau eines Veranstaltungssaals erlaubt jetzt ganz andere Nutzungen – und steht zugleich für einen schonenden Umgang mit Bauten dieser Generation
Im weitgehend kriegszerstörten Hamburger Stadtteil Hammerbrook fanden 1962 die neuen Großmarkthallen der Architekten Bernhard Hermkes und Gerhart Becker ihren Platz. Direkt am Oberhafen gelegen, wurden sie zu einem neuen Stadtsignet, einem dynamischen Symbol des Wiedererstehens Hamburgs. Bis heute sind sie ein seltenes Beispiel einer geglückten Verbindung von funktionaler, dabei durchaus zeichenhafter Architektur und kühner Ingenieurbaukunst auf höchstem Niveau. Aus dem Nutzungsprofil und den technischen Bedingungen der Betonschalen-Bauweise entstand eine Gestalt, deren physischer und ästhetischer Wirkung sich niemand entziehen kann.
Der organische Schwung der Dachlinien steht im Kontrast zu den verschlossenen Giebelscheiben mit drei mächtigen Betonbögen, auf denen steilere Sheds aufsitzen. Deren Dächer beschreiben einen Gegenschwung und enden im First mit einer scharfkantigen Spitze. Mit riesigen Facettenaugen öffnet sich dahinter eine rhythmisch gewölbte Verglasung nach Norden. Nach Süden, den Bahnreisenden zum Hauptbahnhof zugewandt, bestimmt ein luftig auskragendes Doppelgeschoss für Büroräume das Gesicht des Baus. Auf den weiten Freiflächen stehen Entlüfter wie Schiffsschornsteine auf Asphalt.
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Ein Meisterwerk des Betonbaus
Es ist eine Welt der Zeichen und Formen, und alle haben eine Funktion. Innen öffnet sich ein atemberaubender, lichter Raum, 220 Meter lang, 180 Meter breit, die drei Hallen jeweils mit einer Spannweite von 48 Metern und bis zu einer Höhe von 21 Metern, alle drei zu einem Kontinuum unter auf- und abschwingenden Dächern miteinander verbunden.
Die Hamburger Architekten Bernhard Hermkes und Gerhart Becker hatten sich im Wettbewerb 1954 mit ihrem Entwurf qualifiziert und erhielten einen von zwei 1. Preisen. Zu ihrer Arbeitsgemeinschaft gehörte die im Stahlbetonbau schon früh innovative Baufirma Dyckerhoff und Widmann, deren leitender Ingenieur Ulrich Finsterwalder maßgeblichen Anteil an der Konstruktion der hauchdünnen, gewölbten Schalen hatte. Sie werden von überhöhten Beulrippen zwischen den Hauptbindern getragen, die im Dachkuppenbereich vorgespannt und ansonsten schlaff bewehrt sind. Dazwischen hängen zwei niedrigere Zwischenschiffe. Den zweiten 1. Preis im Wettbewerb erzielte das Hamburger Büro Schramm und Elingius, das dann allerdings nicht für den Hochbau, sondern nur für die Gesamtanlage sowie den Unterbau der vollständig unterkellerten und von Lkw befahrbaren Hallen verantwortlich zeichnete. Die städtischen Großmarkthallen werden bis heute betrieben, aber ihre Auslastung geht zurück. Sie stehen unter Denkmalschutz.
Jetzt hat Frans Dikmans, der Kopf von F 101 Architekten aus Berlin, den Hallen eine Box für das freie, nicht subventionierte und multifunktionale „Mehr!-Theater“ implantiert. Die Rahmenbedingungen waren ungewöhnlich: Das Denkmalschutzamt meldete eine strikt bewahrende Vorstellung vom Weiterbauen der in den letzten Jahren rundum, aber unsichtbar sanierten Hallen an. Von außen sollte der Eingriff nicht erkennbar und innen reversibel sein. Die Hallen sind nicht und das neue Theater ist nicht immer öffentlich zugänglich. Für die Spielzeiten wird jeweils eine Art Korridor geöffnet, weil ansonsten das Gelände gesperrt ist oder nachts und früh am Morgen hier der Marktverkehr braust. Es gibt keine weithin sichtbare Werbung, es gibt kein auf Anhieb auffindbares Entree, es gibt im Grunde keine Adresse. Der Zugang muss von Erst-Besuchern erobert werden, aber er wird sich den Wieder-Besuchern mit Sicherheit eingeprägt haben.
Ein Nährboden für Gegenwartsarchitektur sieht anders aus – sei sie als Kontrast zum Bestehenden oder sei sie als behutsames Weiterbauen angelegt. Die Übermacht der vorhandenen Großform und die bedingungslose Unterordnung unter ihre Qualität erlaubten nur Einbauten von äußerster gestalterischer Zurückhaltung.
Das Neue bleibt von außen unsichtbar, bis auf die einstigen Stahltore, die durch Glastüren ersetzt sind, und weitere Fenster in der Giebelfront. Sie sind gleichzeitig die einzigen Fluchtmöglichkeiten ins Freie. Frachtcontainer neben dem Eingang dienen als Räume für Kasse und Information, aber die Idee ist doch etwas banal, und außerdem kommen die Stahlbehälter der Halle viel zu nah. Innen ändert sich das Bild zum Guten. Mit geringem Aufwand ist hier etwas Eigenes und in sich Schlüssiges entstanden. Es trotzt den schon skizzierten widrigen Rahmenbedingungen für ein neues Theater und bietet 2.400 Sitzplätze oder sogar Raum für 3.500 Menschen, wenn die meisten von ihnen wie bei Rock- und Popkonzerten stehen. Ansonsten ist diese angemessen raue Spielstätte für alle Arten von Musik, Musical, Theater und Shows geeignet, aber auch für Boxkämpfe oder Gala-Veranstaltungen.
In den westlichen Kopf des Mittelschiffs ist die Box eingestellt, die mit ihren 6.000 Quadratmetern 15 Prozent der Hallenfläche beansprucht. Ihre drei „Außenseiten“, innen schwarz und außen hell, mit denen sie in die Großmarkthalle hineingreift, sind nur ungestaltete Raumgrenzen und einzig der Standsicherheit und dem Brandschutz verpflichtet. Und Gleiches gilt für den gesamten Backstage-Bereich. Auch dessen Räume sind ohne Gestaltung angelegt und unübersichtlich. Warum eigentlich?
Brandschutztechnisch ist alles zusammen ein Großraum mit entsprechenden Anforderungen an Entrauchung, Luftwechsel, Sprinkler- und Sprühflutsysteme. Lüftung und Heizung sind konventionell, werden aber intelligent gesteuert mit dem „Baopt“-System. Der Luftstrom wird so geregelt, dass eine langsame, ungerichtete, chaotische Raumströmung entsteht, ohne Zugerscheinungen und mit homogener Temperaturverteilung im gesamten Raum.
Die Ränge sind fest bestuhlt, alle anderen Sitzreihen sind dagegen frei beweglich, können nach Bedarf herangefahren werden und legen sich dann sanft ansteigend vor die Ränge. Diese werden über zwei plastische Treppentürme erreicht, auf denen sie als Brückenkonstruktion auflagern. Die Bühne ist variabel, sie kann 300 Quadratmeter klein oder über 1.400 Quadratmeter groß sein. Die Ränge an der Stirnseite der Halle sind hoch. Sie bieten den steilen Amphitheaterblick auf das Geschehen unten – und über ihnen weitet sich immer noch sehr viel lichter Raum bis zur offen sichtbaren Tragkonstruktion der Halle.
Neuer Raum mit Patina
Die Bühne lässt sich auch vierseitig bestuhlen, wobei die Sitzplätze auf den Rängen immer in der Überzahl sind. Das „Totaltheater“ ist möglich. Der schwarze Raum hat, obwohl neu, schon die Patina einer eingeführten „Off“-Spielstätte. Die beiden frei sichtbaren Bogenträger wurden mit einer gut gestalteten, vor Ort aus Segmenten zusammengefügten Stahlkonstruktion in die Zange genommen, denn die Ur-Träger hätten die Last der eingehängten Ebene für die Beleuchterbrücke, Bühnensegel und andere Notwendigkeiten unter der Decke nicht verkraftet.
Der gesamte hohe Raum ist schwarz, die Bestuhlung dunkel; an den Seiten stehen zwei schwarze Bar-Boxen. Die Stirnwand hinter den Rängen mit der überdimensionalen Uhr ist der einzige Farbakzent. Sie besteht aus dem gelben, kleinformatigen, glatt-rauen Ziegelstein, der so sehr an die Grindelhochhäuser und die Zeit des Aufbruchs in der Hamburger Architektur erinnert.
Ulrich Höhns ist freier Architekturkritiker in Oldenbüttel (Schleswig-Holstein).
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