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[ Der zweite Blick ]

Hinter den sieben Seen

Brandenburg-Kirchmöser ist ein riesiges, doch fast unbekanntes Denkmalgebiet des frühen 20. Jahrhunderts – in dem Baukultur und Wirtschaft Hand in Hand gehen.

Neu belebt nach 90 Jahren: Anspruchsvolle Technologiefirmen ziehen in die Industriekomplexe aus dem Ersten Weltkrieg.

Roland Stimpel
Bruno Taut wirkte hier, doch die Hufeisensiedlung trägt Satteldach. Einstige Zwangsarbeiterbaracken sind wegen ihrer Barrierefreiheit beliebt. Ein globalisierter Stahlkonzern betreibt den Chinaexport aus einer Halle mit Baujahr 1915. Kirchmöser ist ein merkwürdiger und denkwürdiger Ort. Das gilt auch für den Denkmalschutz, der hier den Überblick über rund sechs Quadratkilometer mit Industrie, Siedlungen und Infrastruktur behalten soll, in eher abseitiger Lage irgendwo zwischen Berlin und Magdeburg, umringt von Seen, Flussläufen und Kiefernwald.

Auf den ersten Blick scheint das gebaute Erbe permanent bedroht: von Arbeitsplatzmangel und Investorenmacht, von der Armut privater Hauseigentümer und ihrem Drang zur billigen Baumarktästhetik. Doch gemessen an den schwierigen Umständen funktionieren und harmonieren Denkmalschutz und Wirtschaftsentwicklung in Kirchmöser bemerkenswert gut. Bauhistoriker und Ökonomen haben eine gemeinsame Basis gefunden, auf der beide ihren Job machen können. Im Großen ergänzen sie sich, im Kleineren kann jeder auch mal geben und zurückstecken. „Wir haben uns halt zusammengerauft und immer Kompromisse gefunden“ – solche Sätze sprechen Brandenburgs Chefdenkmalpflege Katrin Witt und der städtische Projektentwickler Hans-Joachim Freund mit einer Stimme. Beider Tonfall und das Ergebnis deuten auf ziemlich konstruktives Raufen.

Repräsentative Achse

Das heute so harmonieträchtige Kirchmöser hat einen sehr kriegerischen Ursprung. Ab 1915 entstand hier eine „königliche Pulverfabrik“ in der Reichsmitte zwischen West- und Ostfront, nahe der Industriestadt Brandenburg und doch gut kontrollierbar, zudem bestens erschlossen per Bahn und Binnenschiff. Die Erbauer des Werkskomplexes mit Kraftwerk und Badehaus, Feuerwerkslabor und Binnenhafen hatten architektonische Ambitionen, die für die Kriegszeit frappierend hoch waren. Sie legten eine repräsentative Achse mit vier symmetrischen Torbauten an und waren großzügig bei der backsteinernen Verkleidung und Verzierung der Werkshallen. Nicht einmal der 65 Meter hohe Wasserturm durfte metallisch-nackt dastehen. Mehrere Tausend Kriegsgefangene aus Frankreich und Russland schufteten für die 400 Fabrikgebäude.

Wohnformen 1: Zwangsarbeiterbaracke von 1915. Heute frisch gedämmt und dem barrierefreien Seniorenwohnen gewidmet.

Zwei Kilometer nördlich entstand zugleich eine Wohnsiedlung für Kirchmösers Facharbeiter. Paul Schmitthenner entwarf für die Baugenossenschaft Plaue eine Gartenstadt mit ländlich anmutenden Reihenhauszeilen, aber fortschrittlicher Haustechnik mit elektrischem Licht und Wasserleitungen. Die Bauhistoriker Harald Bodenschatz und Carsten Seifert bezeichnen sie viel später als „ein Meisterwerk des Siedlungsbaus“ jener Zeit mit vielfältigen, oft geschlossen wirkenden Raumstrukturen, erzeugt durch unterschiedlich breite, gekrümmte oder zu Plätzen ausgeweitete Straßen.

So traditionell die Gartenstadt Plaue architektonisch daherkam und -kommt, so visionär war der Städtebau, schreiben Bodenschatz und Seifert: „Ihre Form verweist auf die im großen Stil erst während der Weimarer Republik realisierte städtebauliche Antwort auf die Großstadt, auf die Alternative der ‚Siedlungslandschaft‘.“ Als Bauleiter, nicht Entwerfer, agierte im Krieg auch Bruno Taut in Kirchmöser, dem so der Frontdienst erspart blieb.

Hufeisensiedlung im Heimatstil

Kaum war das Werk gebaut, endete der Krieg. Der Versailler Vertrag beschränkte Deutschlands Rüstungsproduktion und legte die Munitionsfabrik still. Aber schon ab 1920 reparierte die Reichsbahn hier Waggons und Lokomotiven. Bis 1924 baute sie Deutschlands damals modernste Bahnwerkstatt. Die Bahn prägt Kirchmöser bis heute. Ihre Werke brachten Arbeit und Menschen her; neue Siedlungen wurden gebraucht. 880 Werkswohnungen ließ die Deutsche Reichsbahn bis 1928 westlich und östlich des Industriekomplexes bauen. Laut Bodenschatz und Seifert entstanden „beschauliche, kleinstädtisch anmutende Idyllen.

Die durchgrünten Straßen- und Platzräume eröffnen reizvolle Perspektiven. Eine ausgeprägte Hierarchie öffentlicher, halböffentlicher und privater Räume bietet Möglichkeiten für individuelle Aneignung im Wohnumfeld und Rückzug in die Familie ebenso wie für Begegnung und Kommunikation.“

Auch hier dominieren Sattel- und Pultdach, Gaube und Rundbögen vor Ladenbauten. Keine Avantgarde, sondern konservativer Heimatschutzstil der Weimarer Zeit, politisch eher harmlos und architektonisch kuschelig. Ein Kuriosum ist das Wohnhufeisen in der Ostsiedlung, genau wie das von Taut 1927 gebaut. Das hiesige entwarf Regierungsbaurat Erich Teschenmacher, der Planer der gesamten Siedlung. Es umschließt aber nicht Rasen und Teich wie das in Berlin-Britz, sondern ein märkisches Kiefernwäldchen. Ein Stück Moderne aus dieser Zeit gibt es aber in Kirchmöser auch: ein kleineres, von einer SPD-geprägten Genossenschaft errichtetes Quartier nahe dem Bahnhof.

Wohnformen 2: Direktorenvilla

Alle Wohnsiedlungen gemeinsam sehen Bodenschatz und Seifert als „herausragende städtebauliche Zeugnisse“ ihrer Zeit. Doch sie waren und sind „in der Öffentlichkeit wenig bekannt – nicht einmal in der Fachöffentlichkeit“. Das stellten die beiden Autoren 1992 in ihrem Buch „Stadtbaukunst in Brandenburg an der Havel“ fest. Unbekannt sind sie noch heute. Das liegt am abseitigen Ort, aber auch an den manchen suspekten Formen von Straßenräumen, Häusern und Dächern – so was empfiehlt man einfach nicht. Wäre das Gleiche im Stil der damaligen Moderne gekleidet, es könnte Brandenburgs Kandidat für die Welterbeliste sein.

Nachdem Industriegebiete und Wohnsiedlungen weitgehend fertig waren, kamen und  gingen Nazis, Sowjets, DDR und Treuhand. Doch baulich geschah nicht mehr viel. Nach der deutschen Wiedervereinigung traten Spannungen auf: Viele Bewohner wollten den jahrzehntelangen Sanierungsstau mit Kunststofffenstern und -türen, Nostalgielämpchen und grellen Farben auflösen. Zugleich traten die Denkmalpfleger auf den Plan, stellten 1992 Schmitthenners Plauer Siedlung und 1995 weite Teile von Kirchmöser unter Schutz – mehr als tausend Wohn- und Industriegebäude, verteilt auf ein Gesamtareal von rund 600 Hektar.

DDR-Schicksal

„Unsere Position ist nicht einfach“, resümierte später Anja Castens von der städtischen Fachgruppe Denkmalpflege. Beim Wohnen waren die rasche Privatisierung und der Tatendrang der Bewohner das Problem, bei den Fabrikgebäuden Leerstand und Verfall. Kirchmöser erlitt das Schicksal vieler DDR-Industrieorte: Von mehr als 3 000 Arbeitsplätzen zur Wendezeit waren Anfang 2004 noch 640 übrig. „Kein Wunder“, sagt Hans-Joachim Freund. „Das Gebiet hatte immer noch die Infrastruktur von 1915.“ Die Stromversorgung aus dem fast 90-jährigen Kraftwerk schwankte. Nur die Hälfte des eingepumpten Frischwassers kam bei den Verbrauchern an, die andere versickerte unterwegs.

Die Wende zum Guten kam, als das Gebiet vom Bundeseisenbahnvermögen ins Eigentum der Stadt Brandenburg überging und diese ihre Projektgruppe unter der Leitung von Hans-Joachim Freund einsetzte. Sie entmüllte das Gebiet, entfernte Altlasten und baute Straßen. Statt eines maroden Kraftwerks gibt es jetzt zwei moderne, die mit Gas und Holzhackschnitzeln laufen. Rund 80 Millionen Euro sind in fünf Jahren in das Gebiet investiert worden. ABM-Kräfte machten sich an Fassaden, Dächer und Fenster der denkmalgeschützten Gebäude.

Die Mieteinnahmen musste Freund nicht an die Stadt abführen, sondern konnte mit ihnen das Gebiet pflegen und auffrischen. Jeder gehaltene und gewonnene Betrieb finanzierte die Instandsetzung weiterer Teile, was wiederum die Attraktivität erhöhte. Katrin Witt spricht von einem „Schneeballprinzip – je mehr Gebäude fertig saniert sind, desto eher finden sich weitere Nutzer“.

Neue Entwicklung

Projektentwickler und Denkmalschützer gingen die Entwicklung raumstrategisch an. „Wir haben an den Sichtachsen angefangen“, erzählt Freund. „Vor allem die vier Torhäuser an den Süd- und Nordeingängen waren uns wichtig für den Aha-Effekt.“ Das passte zum Konzept Katrin Witts. „Wir legen besonderen Wert auf die städtebauliche Figur. Gerade die Ecken sind uns wichtig.“ Bald kam wieder Leben in leere Hallen. „Auch die Unternehmen haben sich mit dem Denkmalschutz arrangieren können“, sagt Freund. Es gelang sogar, den Neubau eines Netto-Markts unauffällig-ansehnlich zu gestalten. Katrin Witt: „Er hat sogar auf seinen Pylon mit dem Firmenlogo verzichtet.“

Investoren im Bestand realisierten ihre Umbauwünsche häufig denkmalgerecht, berichtet sie: „Einer hat seine Bürocontainer einfach in die Halle hineingestellt.“ Bei anderen ging sie Kompromisse ein: Einem Nabenhersteller für Windturbinen waren Tore wie Halle zu klein – er durfte eine Giebelwand aufbrechen und eine neue Halle anbauen. Witt sieht die Sache pragmatisch: „Es ist schließlich ein Industriegebiet. Und wir können uns nicht mehr wünschen, als dass eine passende Nutzung gefunden wird.“

Das gelingt immer häufiger – auf der Basis der fast 90-jährigen Bahntradition. Die Bahntochter DB Systemtechnik hat hier Teststände; sie montiert, wartet und repariert Gleisbaufahrzeuge. Ein Unternehmen fabriziert Eisenbahnkräne, ein anderes Schwellen. Der österreichische Konzern Voest-Alpine baut Spezialweichen für Hochgeschwindigkeitsstrecken und exportiert sie bis nach China. In nur vier Jahren hat sich die Zahl der Arbeitsplätze fast verdoppelt. Das nördliche Industriegebiet ist zu 90 Prozent vergeben; schon kann Freund nicht mehr allen Ansiedlungswünschen gerecht werden: „Für einen Oldtimerrestaurateur haben wir schon keine passende Halle mehr gefunden – schade.“

Wohnformen 3: Reihenhäuser für Angestellte

„Wir werben auch mit der Architektur“ – das sagt nicht die Denkmalpflegerin, sondern der Wirtschaftsförderer. „Ein Grüne-Wiese-Gebiet hat doch jeder. Eine Allee im Zentrum  und schöne Häuser von 1915 nicht.“ Der Aufschwung der Industrie tut auch den Wohnvierteln gut.

„Wir haben hier Zuzug“, stellt Anja Carstens fest. „Es gibt nicht wenige Rückkehrer, die früher für die Arbeit weggegangen sind.“ Und es gibt Hauskäufer, die das Ortsbild schätzen – auch wenn sie teils weit weg leben und erst einmal vermieten, sich aber eines Tages hier niederlassen möchten. Kein Wunder, meint Carstens: „Aus manchen Dachgeschossen kann man hier gleich auf zwei Seen gucken.“ Steigt man auf den Wasserturm im Zentrum des Gebiets, dann sieht man sieben Seen – Kirchmöser ist fast eine Insel. Man sieht die Direktorenvillen am Ufer und die Baracken der Zwangsarbeitersiedlung aus dem Ersten Weltkrieg, von denen gerade eine zu vier altengerechten Wohnungen umgebaut ist, erkennt das wiederbelebte Farbkonzept der Westsiedlung mit ihrer Abfolge von roten und gelben Häusern.

Und fern im Osten sieht man die Türme der Brandenburger Altstadt, mit 90 Hektar eine der größten ihrer Art. Bodenschatz und Seifert definierten 1992 für die so unterschiedlichen Denkmalgebiete dieser Stadt ein gemeinsames Projekt, die „kulturelle Stadterneuerung“. In Kirchmöser gelingt sie gerade.

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