Text: Stefan Leupertz
Es wird in Deutschland bald keine freiberuflichen Hebammen mehr geben. Das hat wenig mit der hierzulande eher indolenten Fortpflanzungstätigkeit zu tun; es werden allemal noch genug Kinder geboren, um Hebammen in Arbeit und Brot zu halten. Für die stimmt allerdings der Ertrag nicht. Hebammen verdienen zu wenig, um die Prämien ihrer Haftpflichtversicherungen bezahlen zu können, die in jüngerer Vergangenheit stark gestiegen sind und weiter steigen werden. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Fehler bei der Geburtshilfe haben oft dramatische Auswirkungen, in erster Linie natürlich für die Betroffenen, dann aber auch für den Geburtshelfer, der für die nicht selten enormen monetären Folgen seines Fehlers einstehen muss. Am Ende steht der Versicherer für diese Kosten gerade, die er in seine Prämien einpreist.
Mehr Leistungspflichten – größeres Haftungsrisiko
Bei den Architekten gibt es, wenngleich weniger dramatisch, eine ähnliche Entwicklung. Auch dort steigen die Haftpflichtversicherungsprämien und es machen bereits Geschichten von Insolvenzen und Versuchen einzelner Architekten die Runde, Aufträge ohne bestehenden bzw. ausreichenden Haftpflichtversicherungsschutz abzuwickeln. Diese Alarmsignale müssen ernst genommen werden. Sie weisen auf eine sich verschärfende Schieflage hin, die im Wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt wird. Auf der einen Seite stehen Verdienstchancen, die für das Gros der Architekten durchaus als „überschaubar“ bezeichnet werden können. Die HOAI 2013 hat zwar einige Verbesserungen gebracht; dem von den Architekten etwas voreilig bejubelten Mehrverdienst steht allerdings eine mit der Neuordnung der Grundleistungen einhergehende, nicht unerhebliche Ausweitung der durch das HOAI-Honorar abgedeckten Leistungspflichten gegenüber, deren Erfüllung nicht nur mit erhöhtem Aufwand verbunden sein wird, sondern auch das Haftungsrisiko der Architekten weiter verschärft.
Dort liegt das eigentliche Problem. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte zur Architektenhaftung ist, zu Recht (!), geprägt vom werkvertraglichen Erfolgsbezug der Architektenleistungen und damit, folgerichtig und konsequent, von der Erwägung, dass der Architekt, gewissermaßen als Geburtshelfer (sic!), alle Fäden bei der Verwirklichung der Bauaufgabe in der Hand hält und eine zweckentsprechende, kostentreue Entwicklung und Umsetzung der Bauaufgabe im Sinne seines Auftraggebers gewährleisten muss. Diese Verantwortung wiegt schwer. Sie erzwingt, wie insbesondere die Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine vertragsgerechte Bauüberwachung zeigt, einen enormen Aufwand, den gerade kleinere Architekturbüros kaum noch ökonomisch sinnvoll erbringen können.
Hinzu kommen sich dramatisch entwickelnde technische Herausforderungen, etwa im Bereich des Brandschutzes und der Technischen Gebäudeausrüstung, die viele Architekten schlicht überfordern. Das allein kann mit Blick auf die zu Recht schützenswerten Interessen des Bestellers sicher kein Grund sein, den Architekten pauschal aus seiner werkvertraglichen Verantwortung zu entlassen. Gleichwohl erscheint es bedenklich, dass sich über den Mechanismus der Haftpflichtversicherung der Architekten im Laufe der Jahre eine Art „Vollkaskomentalität“ entwickelt hat, die den Besteller auch dort zur Inanspruchnahme des Architekten bzw. seiner Versicherung auf gesicherten monetären Ausgleich ermuntert, wo eigentlich das kooperative Bemühen um die vertragsgerechte Fertigstellung des Bauvorhabens im Vordergrund stehen müsste.
Anders ausgedrückt: Mit der sich rasant entwickelnden technischen Komplexität des Baugeschehens erhöhen sich die Haftungsrisiken der Architekten. Diese werden auch deshalb immer häufiger in Anspruch genommen, weil der Besteller mit Blick auf die hinter den Architekten stehende Haftpflichtversicherung keinen insolvenzbedingten Ausfall befürchten muss und auf diese Weise sicherstellen kann, seine berechtigten Ansprüche realisieren zu können. Das Ergebnis sind steigende Versicherungsprämien, ganz abgesehen davon, dass sich jüngst einzelne Versicherungsanbieter wegen eines kaum noch rentablen Verhältnisses zwischen Versicherungsleistung und marktgängiger Versicherungsprämie ganz aus dem Geschäft der Architektenhaftpflichtversicherung zurückgezogen haben.
Die Rechtsprechung wird dieses Problem nicht lösen können. Auch den Architekten, die erst langsam lernen, sich als „Unternehmer“ zu begreifen und ihre über viele Jahre sträflich vernachlässigten Betriebs- und Vertragsstrukturen den geänderten Verhältnissen anzupassen, wird es nicht gelingen, sich aus eigener Kraft aus der für ihren Berufsstand nicht ungefährlichen Situation zu befreien. Denn letztlich stellt sich eine Frage von ganz grundsätzlicher gesellschaftspolitischer Bedeutung: Inwieweit wollen wir das Interesse des Geschädigten schützen, von seinem Vertragspartner vollen Ausgleich für Fehlleistungen erlangen zu können, wenn die Vermeidung solcher Fehlleistungen in einem hochkomplexen tatsächlichen und rechtlichen Umfeld mit Aufwand verbunden ist, für den der Vertragspartner keine auskömmliche Vergütung erhält und den zu erbringen sich aus seiner Sicht deshalb ökonomisch nicht lohnt? Bleibt zu hoffen, dass die Architekten nicht auf einen Pfad gelangen, den die Hebammen bereits betreten haben.
Der Text ist zuerst als Editorial in der Zeitschrift Baurecht, Ausgabe 6/2014, erschienen. Für den Nachdruck erhielten wir die freundliche Genehmigung der Wolters Kluwer Deutschland GmbH, Verlagsgruppe Recht.
Eine Bestandsaufnahme der Bundesarchitektenkammer zur aktuellen Situation finden Sie hier.
Weitere Artikel zum Thema Haftung in unserer Übersicht.
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Die Situation ist noch viel schlimmer. Herr Leupertz schreibt, dass der Architekt als Geburtshelfer „alle Fäden bei der Verwirklichung der Bauaufgabe in der Hand hält“. Das ist grundlegend falsch.
Rechtlich haben haben wir keinen einzigen Vertrag mit irgend einer Firma, die auf dem Bau tätig ist. Die Verträge schließt der Bauherr mit den Firmen und nicht wir. Bestenfalls (!) haben wir über den Bauherrn einen mittelbaren Einfluss auf die ausführenden Firmen.
Desweiteren wird die Bauleistung konkret von Firmen und deren Mitarbeiter erstellt, also nicht durch uns. Trotzdem haften wir für die handwerkliche Qualität gesamtschuldnerisch.
Das Märchen, dass hierfür die Bauüberwachung ja zuständig wäre, ignoriert wesentliche Punkte:
Erstens ist die Honorierung so gering, dass eine permanente Anwesenheit auf der Baustelle, um die zahlreichen täglichen Prozesse zu überwachen, wirtschaftlich nicht möglich ist. Und das wäre die logische Konsequenz aus einer angeblich fehlervermeidenden Bauüberwachung.
Zweitens ist es selbst bei ständiger Anwesenheit auf der Baustelle nicht möglich an mehreren Stellen gleichzeitig zu sein. Da aber nicht nur einer auf einer Baustelle arbeitet, sondern mehrere zeigt sich auch hier schon die Unmöglichkeit einer tatsächlich in jedem Fall fehlervermeidenden und Fehler korrigierenden Bauüberwachung.
Drittens ist es so, dass keiner von uns behaupten kann, handwerklich in allen Gewerken besser zu sein als die Handwerker selbst. D. h., die Fachkompetenz für die Ausführung liegt bei den Firmen und deren Mitarbeiter und muss bei diesen liegen. Zudem ist festzuhalten, dass die technische Fachkompetenz der Firmen höher ist als unsere. Die ist so und sollte auch so sein. Diese haben nur ihr Gewerk im Überblick zu haben, wir müssen alle Gewerke im Überblick haben. Dass man als Generalist, die wir sind, nicht in allen Gewerken so tief einsteigen kann, wie die jeweilige Firma ist evident.
Um nicht zu langweilen, erspare ich mir hier eine weitere Aufzählung von Fäden, die wir nicht in der Hand haben.
Das WIE des Bauens hat sich grundsätzlich zu ändern. Wir leben nicht mehr im 19. Jhdt. und darauf fußt leider die juristische Beurteilung.
Dieser Artikel beleuchtet ein Problemfeld, welches zwischenzeitlich tatsächlich dramatische Ausmaße angenommen hat und leider von vielen (Kollegen) ignoriert wird. Gerade als „Einzelkämpfer“ muss man oder frau heutzutage die Annahme von Aufträgen genauestens prüfen. Im Besonderen gilt dieses für Marginalaufträge, deren Auftragssumme sich unterhalb der „Selbstbehaltsgrenze“ der Haftpflichtversicherung bewegt. Im Grunde genommen kann man die gar nicht mehr annehmen, da das Risiko erheblich ist und durch die neue HOAI auch noch vergrößert wurde. Ich finde das das mittlerweile an „Wahnsinn“ grenzt. Es ist eigentlich wurscht ob der Architekt über die erforderlichen Spezialkentnisse verfügt oder in der Lage ist die Gewerke am Bau rund um die Uhr zu überwachen. Eines scheint dabei vollkommen übersehen zu werden: Die gesamte Architektenleistung nach HOAI, im Besonderen die LPH 8 „Bauleitung“, ist dem Auftraggeber, sprich Bauherrn, geschuldet und NICHT dem ausführenden Unternehmen. D.h. der Handwerker hat KEINEN Anspruch auf Bauleitung durch den Architekten. Trotzdem gilt die „gesamtschuldnerische Haftung“, die gerade in heutigen Zeiten der erleichterten Insolvenzverfahren für Gewerbebetriebe, viele Architekten, die noch als Personengesellschaft auftreten und daher mit ihrem gesamt privaten Vermögen haften, hart trifft. Hinzu kommt der Umstand, dass wir, um den Titel „Architekt“ führen zu dürfen, in den Kammern eingetragen sein müssen und dadurch verpflichtet sind, diesen unsere ausreichende Haftpflichtversicherung nachzuweisen. Offensichtlich sehen es die Handwerkskammern da sehr viel lockerer, was den Versicherungsschutz ihrer Mitglieder betrifft. Wie oft hört man, das ein Handwerksbetrieb nicht versichert ist bzw. seine Versicherungsraten nicht gezahlt hat.
Richter Leupertz spricht von einer „Vollkaskomentalität“, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, und meint, daß die Rechtssprechung dieses Problem nicht wird lösen können. Als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Schäden an Gebäuden habe ich in den vergangenen 13 Jahren als Mitwirkender und Beobachter an zahlreichen Bauprozessen teilgenommen und den Eindruck gewonnen, daß die Rechtssprechung sehr wohl diese besorgniserregende Entwicklung befördert hat. Eine Inanspruchnahme des Architekten als Gesamtschuldner ist vor allem dann ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand, wenn seine Mitschuld gering ist, aber vom Hauptschuldigen wegen Zahlungsunfähigkeit nichts zu holen ist und deshalb auch kein Innenausgleich zwischen den Gesamtschuldnern stattfinden kann. In einem Seminar hat ein ehemaliger Vorsitzender Richter eines Oberlandesgerichts einmal zu so einem Fall kurz und bündig bemerkt: „Es gibt im Leben Recht und Unrecht, und es gibt Glück und Pech. Der Architekt hat hier einfach Pech gehabt.“ Baufirmen sind meistens Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH). Dies sollte auch bei Architekten zum Normalfall werden.
Seit längerer Zeit ist eine Unart der Versicherer auszumachen. Das Geschäft heißt „Sanierung“. Die meinen damit aber nicht Bestandsbauten, sondern ihren Vertragsbestand! Es flattert die Änderungskündigung zur Durchsetzung höherer Prämien auf den Tisch, Pistole auf die Brust, auch ansonsten sind die Mittel egal. Der Stärkere überlebt, auch hier. Und wer im Verhältnis Architekt und Versicherer der Stärkere ist, da darf der geneigte Leser kurz grinsen. Den Betroffenen allerdings bleibt hierbei sofort das Lachen im Halse stecken!
Bevor der Vorschlag einer disziplinübergreifenden Objekt-/Projekt-Versicherung Realität wird – wenn überhaupt (der Lehnstuhleffekt läßt grüßen!) – sollte ein weiterer Lösungsweg zusätzlich eingeschlagen werden. Dieser würde auch bis hinunter zu den zahlreichen kleinen Bauprojekten bessere Lösungen bringen. Dazu gehören 3 Teile:
Teil 1 – Die Forderung lautet: Versicherer, die Verträge für in der BRD tätige Architekten, Bauingenieure, Fachplaner, Bauträger und Co. unterhalten, müssen einem gesetzlichen Kontrahierungszwang unterworfen werden und ihre Tarife offenlegen. Einzelheiten wären sicher klärungsbedürftig, wie z.B. Transparenz (und notfalls Kontrolle) bei Schadenfreiheitsrabatten. So würde wenigstens zügig eine Konsolidierung dieses berufsständischen Problems eingeleitet und nicht erst wie bei den Hebammen bis zum Desaster geschlafen. Gleichzeitig werden ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile für ausländische Planungs- und Bauleitungs-Leister beseitigt zugunsten einer allgemeinen Versicherten-Solidarität, aber auch teure Schadensverursacher aussortiert.
Teil 2 – Flankierend gehört die bereits in der Vergangenheit vereinzelt erhobene Forderung dazu: Versicherungspflicht auch von Bauleitern, Nachweis bei ihrer Bestellung sowie Kontrolle im Genehmigungsverfahren! Was soll eine Versicherungspflicht nur bei Entwurfsverfassern, wenn das insgesamt gestrickte System eindeutig die großen Risikolücken im Rahmen von Objektüberwachung/Bauleitung aufzeigt?
Teil 3 – Der bekannte Klassiker der Forderungen: Einer überproportionalen Beanspruchung der Architektenschaft aus ungerechtfertigter Mithaftung über das Rechtskonstrukt der sog. „Gesamtschuld“ möglichst noch in Kombination mit der in Winkeladvokaten-Manier seit 2002 als Kür betriebenen „Arglist-Verjährung“ ist gesetzlich ein begrenzender Riegel nach dem Anteils-Prinzip vorzuschieben. Der beinhaltet selbstverständlich, daß bei Ausfall anderer Beteiligter nicht hierfür die Architektenhaftung eintritt. Im Zweifel bleibt ein Auftraggeber oder ein anderweitig Geschädigter auf seinem Problem sitzen, selbstverständlich! So ist das auch sonst im Leben. Für Vollkasko muß der Bauherr ggf. anderweitig zusätzlich teuer zahlen. Im Zweifel müssen z.B. Vertragserfüllungsbürgschaften drastisch hoch gezogen oder anteilig Ausfälle in Kauf genommen werden. Man kann aber nicht dem Architekten in die Tasche fassen und das auch noch judikativ abgesegnet! Motto: … ist so praktisch, wo es beim Anderen doch gerade schlecht klappt, wegen nackt und Taschen und so! Hauptsache Aktendeckel zu! Was ist das bloß für ein verschrobenes Rechtssystem?