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Sieg für die Stadt

Siegen baut sein Zentrum entschlossen um: Wo Autos parkten und Läden leer standen, findet man nun einen renaturierten Fluss, öffentliche Plätze und mehr Studierende im Stadtbild

Von: Heiko Haberle
Heiko Haberle ist Redakteur von der Kurzmeldung bis zum großen...

03.04.20187 Min. 1 Kommentar schreiben


Von Heiko Haberle

In Siegen hat man es gut gemeint mit den Autofahrern. Eine Schnellstraße schlängelt sich durch das enge Tal. In der Unterstadt zwängen sich Parkhäuser an die Siegufer, sogar am Abhang der historischen Oberstadt hat man im Verlauf der Stadtmauer eines untergebracht. Das Auto ist für die Pendler aus dem ländlichen Umland das Fortbewegungsmittel der Wahl, und auch die Stadt selbst lädt mit ihrer bergigen Topografie nicht gerade zum Fahrradfahren ein.

Unter dem Pflaster liegt der Strand: Von 1968 bis 2012 war die Sieg abgedeckelt.

Siegtreppe statt Siegplatte

Als erste Parkimmobilie war 1968/69 im Stadtzentrum die sogenannte „Siegplatte“ gebaut worden – als 260 Meter lange Überbauung der Sieg, die nur noch durch einen Spalt sichtbar blieb. Dreißig Jahre später musste die Plattform dringend saniert werden. Aber wollte man das wirklich? Schon seit 1991 war auch ein Abriss diskutiert worden, der sich aber erst im Rahmen des Strukturförderprogramms „Regionale 2013“ in Südwestfalen umsetzen ließ – mit Fördermitteln, die es für eine Sanierung nicht gegeben hätte. „Das war die Gelegenheit, mehrere radikale Maßnahmen auf einmal in Angriff zu nehmen. In kleinen Schritten wäre das nicht gegangen“, erklärt Stadtbaurat Henrik Schumann, der bereits unter seinem Vorgänger Michael Stojan das Projekt jahrelang betreut hatte. Den Wettbewerb unter dem Motto „Siegen – zu neuen Ufern“ gewannen 2009 die Landschaftsarchitekten von Atelier Loidl aus Berlin gemeinsam mit dem Ingenieurbüro BPR Dr. Schäpertöns aus München.

Anstelle der Siegplatte plante Atelier Loidl eine lange Freitreppe mit Sitzstufen (1). Über eine Rampe ist auch die untere Ebene barrierefrei erreichbar. Trittstufen führen in das renaturierte Flussbett. Einige Sitzpodeste wurden aus mächtigen Douglasienstämmen gefertigt, die sehr wasserbeständig sind. Das ist wichtig, weil sich bei Hochwasser die Wassermenge der Sieg verzehnfachen kann. Selbst ein Jahrhunderthochwasser, wie es an der Universität Siegen mit einem großen Modell getestet worden war, kann die Neugestaltung auffangen. Das Hochwasser war neben der erwarteten starken Nutzung auch ein Grund, warum Wettbewerbsentwürfe mit mehr Grün ausgeschieden waren.

1. Siegtreppe   2. Unteres Schloss   3. Sandstraße   4. Parkhaus   5. Herrengarten   6. Bahnhof         7. Kölner Straße   8. City-Galerie   9. Karstadt

Des Weiteren wurden neue Brücken errichtet, die Stützmauern des nahe gelegenen Unteren Schlosses (2) erneuert sowie die angrenzenden Fußgängerzonen neu gepflastert und mit Baumbeeten, Sitzbänken und Spielgeräten ausgestattet. Die Sandstraße (3) wurde von vier auf zwei Fahrspuren verengt. Der Gang an den Hausrückseiten der Sandstraße, der zuvor als Müllplatz diente, erhielt Balkone über dem Fluss, die gastronomisch genutzt werden können. Den Müll entsorgen die Anrainer nun über abschließbare Einwürfe in Depots unter der Sandstraße.

So überzeugend das seit 2016 zu besichtigende Ergebnis ist, so überraschend ist die lang anhaltende Kritik an der Planung, denn die Siegplatte war wegen ihrer zentralen Lage beliebt: „Die Autos standen hier Schlange, auch wenn das Parkhaus nebenan frei war“, erinnert sich Thomas Griese, der als städtischer Bauleiter für den Stadtumbau verantwortlich war. Mit einem Gutachten konnte man jedoch nachweisen, dass die Innenstadt genug Parkplätze besitzt. „Auch viele Einzelhändler waren skeptisch. Sie fürchteten, dass mit dem Wegfall der Parkplätze die Geschäfte entlang der Sandstraße sterben würden. Dabei gab es da sowieso kaum noch echten Einzelhandel, sondern vorwiegend Handy-Läden“, ergänzt Henrik Schumann. Außerdem würde mit dem südlichen Teil der Siegplatte eine Veranstaltungsfläche wegfallen. Als Reaktion darauf wurden die zwei neuen Brücken so breit ausgebildet, dass auch Weihnachtsmarktbuden auf ihnen Platz finden. Zudem soll demnächst das zweigeschossige Geschäftshaus „Herrengarten“ (5) abgerissen werden und stattdessen ein neuer Platz entstehen. Der Wettbewerb dazu wird in diesem Sommer stattfinden. Für den Kauf des Grundstücks erhielt die Stadt sogar eine Förderung aus Düsseldorf, wie Schumann berichtet: „Von der Landesregierung kam das Signal, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.“ Dort würde man es wohl am liebsten sehen, wenn bald auch die noch bestehende zweistöckige Überbauung am Südende des neuen Ufers verschwände. Doch der Drogeriemarkt dort hat gerade einen Mietvertrag über zehn Jahre unterschrieben.

Beengt: Wenige Meter nördlich der Siegtreppe ist der Autofahrer noch König. Ein Parkhaus (4) thront über der Sieg.

Den Wandel vermarkten

Um die Kritiker zu überzeugen und den Bürgern und Einzelhändlern die lange Bauzeit zu erleichtern, wurde der Stadtumbau offensiv kommuniziert, wie Henrik Schumann betont: „Wir wollten die Planung und den Bau transparent machen und wichtige Meilensteine zelebrieren.“ So bemalten Schulklassen die frei geräumte Siegplatte vor ihrem Abriss und verwandelten sie in ein überdimensionales Kunstwerk. Ein „Abrissfest“ leitete 2012 die Bauarbeiten ein. Bruchstücke der Siegplatte wurden als Andenken verkauft, deren Erlös der Stützmauersanierung am Unteren Schloss zugutekam. Ein Baustellenbüro und eine Website (www.siegen-zu-neuen-ufern.de), die sogar einen Marketingpreis erhielt, informierten über die Baufortschritte; der Bürgermeister, der alte und der neue Stadtbaurat übernahmen persönlich Baustellenführungen. „Auch die Bauzäune blieben offen, damit jeder die Veränderungen sehen konnte“, ergänzt Thomas Griese. Dass die beliebten Standbilder „Henner“ und „Frieder“, ein Bergmann und ein Hüttenmann, nun mitten auf der neuen Oberstadtbrücke stehen, entschieden fast 1.600 Bürger bei einer Umfrage von Stadt und Lokalpresse.

Siegens neue Ufer sollen auch eine bessere Verbindung zwischen der kommerziell geprägten neueren Unterstadt mit dem Bahnhof (6)und der historischen Oberstadt mit Rathaus und Marktplatz schaffen. Die dort hinaufführende Kölner Straße (7) wurde jüngst neu gestaltet. Hier sind Impulse tatsächlich dringend nötig, denn sogar zur Hauptgeschäftszeit ist die Fußgängerzone erschreckend unbelebt. Viele Läden stehen leer, Mietverträge wurden wegen der Bauarbeiten nicht verlängert. Auch sind die Verkaufsflächen wegen der steilen Hanglage klein und eignen sich kaum für die bekannten Filialisten. Die sind dafür seit 1998 in der City-Galerie (8) am Bahnhof zu finden, über die der Stadtbaurat sagt: „Die City-Galerie war für die Anziehungskraft der Stadt innerhalb der Region gut. Aber in der Stadt hat sie das Gleichgewicht verschoben.“

Großzügig: An warmen Sommerabenden wird die ganze Treppe gebraucht – auch weil es mehr Studierende in der Innenstadt gibt.

Freigesetzte Energien

Doch Henrik Schumann sieht schon positive Effekte durch den Stadtumbau, berichtet von Boutiquen und Gastronomie statt Handy-Läden in der Sandstraße und von ersten Neueröffnungen in der Oberstadt. Damit zahlt sich langsam aus, was die Stadt in weiser Voraussicht als Teil der Gesamtstrategie mitgedacht hat: nämlich für die neuen öffentlichen Räume ein neues Publikum gleich mitzugenerieren. So wurde das Untere Schloss, das auch schon als Behördenhaus, Gericht und Gefängnis diente, für die Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Universität umgebaut. Dass nun Studierende im Stadtbild sichtbar werden und in Cafés sitzen, ist ganz neu für Siegen, liegt doch der Uni-Campus auf einem Berg 5,5 Kilometer nördlich des Zentrums.

Genauso soll es weitergehen: Die Universität möchte in den nächsten Jahren mit insgesamt 12.000 Studierenden in das Stadtzentrum ziehen, nur noch die 5.000 Naturwissenschaftler sollen auf dem Campus bleiben. Die schwierige Suche nach Bauplätzen führt dabei zu kreativen Lösungen. So soll die oberste Etage von Karstadt (9), das trotz massiven Kundenschwunds noch in der Oberstadt ausharrt, in ein Hörsaalzentrum verwandelt werden. Anstelle eines Parkdecks ist eine Mensa geplant. Auch die Landschaftsplaner von Atelier Loidl bleiben Siegen treu und widmen sich nun der Oberstadt. Sie gewannen 2017 auch den Wettbewerb „Rund um den Siegberg“: Neu gestaltet werden der Marktplatz, der Garten des Oberen Schlosses und die verwilderten Abhänge hinab zur Unterstadt.

Siegens Bürger bevölkern nun schon bei den ersten Sonnenstrahlen das neue Ufer, das als „Siegtreppe“ bereits in den Sprachgebrauch eingegangen ist. Nun müssen die weiteren mutigen Schritte beweisen, dass auch die Wiederbelebung der Oberstadt gelingt. Dann hätte Siegen, wie wohl kaum eine andere Kommune bisher, gleich drei (zu ihrer Zeit stets gut gemeinte) Fehlplanungen der letzten Jahrzehnte zwar nicht besiegt, aber deutlich gemildert: die Stadt der Autos und der Campus-Universitäten der 1960er- und 1970er-Jahre sowie die Stadt der Shopping-Center der 1990er- und 2000er-Jahre.


Mehr Informationen und Artikel zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt wandelbar

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1 Gedanke zu „Sieg für die Stadt

  1. Danke für den Artikel! Meine Geburtsstadt Siegen hat gute Presse mehr als verdient und aufgrund ihres langlebigen Imageproblems bitter nötig. Da der schlechte Ruf der Stadt bei denjenigen, die sie nicht (oder nur von der Durchfahrt) kennen, hauptsächlich von einer journalistisch zugespitzten Verballhornung aus der ZVS-Ära herrührt, freue ich mich insbesondere über die gelungene Überschrift, die sich hoffentlich einprägen und das unselige Wortspiel aus den Köpfen verdrängen wird.
    Das Projekt „Siegen – zu neuen Ufern“ ist in Deutschland mit seiner puzzle-teiligen Stadtplanung ein selten gewordener großer Wurf. Machen Sie sich selbst ein Bild vor Ort – es lohnt sich!

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