Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Mit dem Viertel verwoben“ im Deutschen Architektenblatt 07.2018 erschienen.
Von Heiko Haberle
Das Viertel südlich der Krefelder Innenstadt hatte nicht mal einen geläufigen Namen. Neben der Verwaltungsbezeichnung „Südweststadt“ traten bei einer Bewohnerbefragung noch andere pragmatische Begriffe zutage: „Südstadt“ (nach der Himmelsrichtung), „Josefsviertel“ (nach der Kirche) oder schlicht „Netto-Ghetto“ (nach dem Discounter). Doch immer öfter wird vom „Samtweberviertel“ gesprochen. Kein Wunder, denn das neue Quartierszentrum in der alten Samtweberei an der Kreuzung von Lewerentzstraße und Tannenstraße wirkt mit seinen Aktivitäten weit in das (ehemalige) Arbeiterviertel hinein.
Von Gentrifizierung ist hier kaum etwas zu spüren, obwohl die Angst davor durchaus schon da ist. Schließlich ist die gründerzeitliche Bebauung attraktiv und das teure Düsseldorf nah. Zwar begegnen einem sichtbare Armut, Ladenleerstand und die eine oder andere Schrottimmobilie, doch sind hier auch Stadtteilinitiativen aktiv, die etwa gegen die Vermüllung im Viertel kämpfen. So sind es denn auch die grün beschrifteten öffentlichen Mülleimer, die als Erstes auffallen, weil sie „Multi Kulti Trash“ fordern oder „Danke, du edler Spender“ ausrufen. Solches Engagement und das soziale Leben vor Ort waren auch die Anknüpfungspunkte für die „Montag Stiftung Urbane Räume“, ihr Konzept einer gemeinwohlorientierten Immobilien- und Quartiersentwicklung genau hier umzusetzen. Durch den Einsatz von „Initialkapital“, also Geld, aber vor allem Ideen und Engagement soll in benachteiligten Stadtteilen ein weiterer Abstieg ebenso verhindert werden wie eine unverhältnismäßige Aufwertung. Stattdessen möchte man vorhandene, gemischte Strukturen stärken.
Motor fürs Quartier
Dass die ehemalige Samtweberei „Mottau & Leendertz“ als Impulsgeber dienen kann, hatten im Auftrag der Stadt Krefeld bereits 2012 der Architekt Heinrich Böll und der Ökonom Dieter Blase (beide aus Essen) mit einem Nutzungskonzept deutlich gemacht. Damals standen die zwei Fabrikbauten vom Ende des 19. Jahrhunderts, zwei Bürogebäude aus der Nachkriegszeit sowie eine Werkshalle im Blockinneren leer. Die Textilproduktion hatte allerdings schon 1970 geendet, woraufhin die Stadt das Ensemble bis 2008 als Verwaltungssitz nutzte. 2014 trafen dann der Wunsch der Stadt nach einer Nachnutzung und die bisher theoretisch gebliebene Idee der Stiftung aufeinander: Die Stadt übergab der neuen Projektgesellschaft „Urbane Nachbarschaft Samtweberei“ das Ensemble gegen einen symbolischen Euro für 60 Jahre in Erbpacht, wobei der Pachtzins ausgesetzt bleibt, solange die Projektgesellschaft gemeinnützig ist und die Vermietungsgewinne von jährlich mindestens 34.000 Euro dem Stadtteil zugutekommen.
Von den insgesamt circa 6,9 Millionen Euro Bausumme (1,6 Mio. Eigenkapital; 3,1 Mio. Fremdfinanzierung; 2,2 Mio. Landesförderdarlehen) flossen die ersten 200.000 Euro in die schnelle brandschutzgerechte Nutzbarmachung eines Verwaltungsgebäudes der Fabrik von 1960. Mit seinem außergewöhnlichen offenen Treppenraum, dem Flugdach zur Straße und einer auskragenden Etage zum Hof hätte es sogar Denkmalwert, aber ursprünglich wollte die Projektgesellschaft es abreißen. Doch als „Pionierhaus“ für überwiegend kreative Kleinunternehmen sei es zur Erfolgsgeschichte geworden, erzählt Monika Zurnatzis, die Designerin mit dem Schwerpunkt öffentliche Raumgestaltung und Beteiligungsprozesse ist. Als Projektleiterin der Samtweberei hat sie eine Zusatzausbildung zur Immobilienverwalterin abgeschlossen und managt nun den Betrieb vor Ort.
„Der Abriss ist vom Tisch. Stattdessen wird schrittweise weiterinvestiert“, sagt Zurnatzis, die selbst im Pionierhaus arbeitet. So wird gerade eine energetische Sanierung mit einem Austausch der Fenster geprüft. Diese sind allerdings mit dem Brüstungsfeld und den Heizkörpern fest verbunden, was eine komplette Demontage der Fassade bedeuten würde. Doch die Projektgesellschaft entwickelt mit Architekten gerade weniger radikale Modelle.
Günstige Miete gegen Engagement
Den „Pionieren“ – darunter Coaches, Designer diverser Fachrichtungen, Filmproduzenten, eine kleine T-Shirt-Druckerei und Studierende der nahen Hochschule Niederrhein – dürfte der bauliche Standard aber schon jetzt ausreichen, zumal sie Kaltmieten von nur 3 Euro pro Quadratmeter zahlen. Dafür übernahm man den Endausbau selbst und verpflichtete sich, im Stadtviertel jährlich pro gemietetem Quadratmeter eine freiwillige „Viertelstunde“ zu leisten. Dabei werden Feste organisiert, wird eine Stadtteilzeitung verfasst, mit Kindern gebastelt, in Altenheimen vorgelesen, Hausaufgaben- oder Sprachhilfe geleistet oder bei Veranstaltungen im nahen Nachbarschaftstreffpunkt „Ecke“ als Fotograf ausgeholfen. „Wir fragen vorher im Stadtteil, was gebraucht wird“, erklärt Monika Zurnatzis das Konzept, das Zusammenhalt und Teilhabe, aber auch die Selbstorganisation vor allem außerhalb der eigentlichen Samtweberei stärken soll: „Wir möchten die Menschen ermächtigen, sich selbst für ihr Viertel und ihre Interessen engagieren zu können.“ Bürgerinitiativen und soziale Träger können Ideen und Bedarfe formulieren. Auf einer „Viertelstundenbörse“ treffen sie dann mit den Ehrenamtlichen zusammen.
Viertelstunden – allerdings „nur“ eine halbe pro Quadratmeter und Jahr – leisten auch die Mieter im „Torhaus“ von 1950, das durch das Büro Strauß & Fischer Historische Bauwerke aufwändiger saniert wurde als das Pionierhaus und für 7 Euro kalt vermietet wird. Das Verwaltungsgebäude baute man bis auf seine Grundstruktur zurück, um loftartige Räume zu erhalten. Die Fenster blieben bestehen, wurden aber innen durch eine neue Ebene ergänzt und so zum Kastenfenster aufgerüstet. Eingezogen sind hier Architekturbüros – darunter das der Planer selbst –, aber auch das Krefelder Stadtmarketing. Im Erdgeschoss hat das von einem Verein betriebene Nachbarschaftscafé „Lentz“ eröffnet.
Sozialwohnungen mit Loft-Charme
Auch in den zwei historischen Produktionsgebäuden vom Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bürostruktur aus der Zeit als Stadtverwaltung zurückgebaut – hier durch Heinrich Böll, der 2012 das erste Nutzungskonzept entwickelt hatte. In nur einem Jahr entstanden 37 Wohnungen zwischen 25 und 110 Quadratmetern Größe, darunter 13 Sozialwohnungen. Das geringe Budget kam dabei den Baudenkmalen zugute, weil nur die nötigsten Eingriffe vorgenommen wurden. Viele Oberflächen haben ihre Patina behalten und in den meisten Wohnungen ist das Ziegelmauerwerk zum Vorschein gekommen. Um auf ein weiteres Treppenhaus verzichten zu können, entstanden auf der Hofseite breite gemeinschaftliche Balkone, die – aus Denkmalschutzgründen von der Fassade abgerückt – zugleich als Erschließung dienen und als halbprivater „Vorgarten“ bestens funktionieren.
Die Sozialwohnungen werden für 5,25 Euro kalt vermietet, die übrigen für maximal 8 Euro, was bereits 1,50 Euro über dem örtlichen Preisniveau – allerdings auch über dem üblichen Standard – liegt. Viertelstunden leisten die Bewohner auch, allerdings im Rahmen einer ideellen Selbstverpflichtung, denn eine entsprechende Sondervereinbarung wie bei Gewerbemietverträgen ist bei Wohnmietverträgen rechtlich nicht möglich, wie Zurnatzis erklärt. „Das klappt aber trotzdem ganz prima. Es werden sogar mehr Viertelstunden gemacht als vorgegeben.“ Jährlich kommen rund 2.500 ehrenamtliche Arbeitsstunden zusammen sowie bis zu 60.000 Euro Überschuss aus den Mieteinnahmen, die in das Viertel fließen. Initiativen, Vereine und soziale Träger können daraus Mittel beantragen, über deren Vergabe dann ein 12-köpfiger „Viertelsrat“ entscheidet. Unterstützt werden neben der Begegnungsstätte „Ecke“ ein Projekt zur Baumbeetpflege, interkulturelle Kochabende, ein Repair-Café oder ein Kirschblütenfest. Die Website des Samtweberviertels quillt von Projektideen geradezu über.
Planung am Spielbrett
Der letzte große Meilenstein war 2017 mit der Instandsetzung der 3.000 Quadratmeter großen „Shedhalle“ durch das Büro Strauß & Fischer erreicht. Dass die ehemalige Produktionshalle einen Großteil des Blockinneren besetzt, kann man als einen Mangel an Freiraum beklagen oder in einen Vorteil ummünzen: Für das Konzept eines regensicheren öffentlichen Treffpunkts konnte die Stadt Krefeld 1,1 Millionen Euro aus dem Programm „Stadtumbau West“ bereitstellen. Bei einem Stadtteilfest 2015 testete man verschiedene Nutzungen und sammelte Wünsche. In einem eigens entwickelten Brettspiel mit dem Grundriss der Halle wurden dann Flächen und Finanzierung ausgehandelt. Welche Nutzungen können nebeneinander bestehen? Ist für jeden etwas dabei? Wann geht das Geld aus?
Über dem südlichen Hallenteil wurde schließlich das Shed-Dach abgedeckt und ein öffentlicher Nutzgarten sowie eine Sportfläche mit Tartanbelag angelegt. Im überdachten Bereich sind die vorhandenen Parkplätze erhalten geblieben. Hinzugekommen sind Fahrradstellplätze, eine kleine Bibliothek, ein Trampolin und Sitzgelegenheiten. Als mobiler und abschließbarer Raum dient ein Bauwagen. Die Fläche ist wenig strukturiert und kann je nach Anlass neu aufgeteilt und möbliert werden, sodass vielfältige Nutzungen möglich sind. Diese Ideen sollen zukünftig Akteure aus dem Viertel selbst entwickeln und kommunizieren. Das Team der Montag Stiftung Urbane Räume hat das nötige Engagement jedenfalls angestoßen.
Krefeld, Halle, Wuppertal
Die Samtweberei in Krefeld muss sich nun im Alltag des Viertels bewähren. Unterdessen wurden bereits zwei Folgeprojekte gestartet: Mit „Freiimfelde“ in Halle (Saale) werden gerade öffentliche Freiräume entwickelt und örtliche Akteure vernetzt. Der „Campus BOB“ in Wuppertal-Oberbarmen wird erneut als Immobilie mit Mehrwert fürs Quartier entwickelt.
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