Von Christoph Gunßer
Fangen wir mit den Extras an. Für die rund 190 Erwachsenen und 120 Kinder im Projekt wagnisART gibt es rings um „Dorfplatz“ und „Oasenhof“ einen Veranstaltungsraum, verschieden große Gemeinschaftsräume und ein Waschcafé mit Nähstube. Hier liegen gewerbliche Werkstätten, Ateliers und Praxen, Gästeapartments und, nicht zu vergessen, ein Parkplatz für Bobbycars, auf den man sich geeinigt hat. Im Keller warten Werkstatt, Toberaum, Sauna und Baderaum, auf dem Dach mehrere Terrassen, breite Brücken und ein „Acker“, wo ganzjährig Gemüse wächst. Hinterm Haus liegt eine Streuobstwiese. Dieses Stadtdorf gibt es je nach Einkommen für ein genossenschaftsübliches Nutzungsentgelt zwischen fünf und neun, maximal 13 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche.
Rund statt Raster
Für dieses Experiment reservierte die Stadt München früh zwei der 24 Hektar Land der ehemaligen Funkkaserne im Norden Schwabings. Während der von Frankfurter Ring und Autobahn begrenzte neue „Domagkpark“ ein enges und letztlich leider ziemlich ödes gestalterisches Korsett nach dem Geschmack der Immobilienentwickler bekam, legte man auf dem Areal neben den Domagk Ateliers – dem einzigen Relikt der künstlerischen Zwischennutzung der Kaserne – nur wenig fest: eine umlaufende Baugrenze, fünf Geschosse, Putzfassaden.
Die erst im Jahr 2000 gegründete Genossenschaft wagnis eG (das Kürzel steht für „wohnen und arbeiten in gemeinschaft; nachbarschaftlich, innovativ und selbstbestimmt“) nutzte diese Freiheit für ihr fünftes Wohnprojekt. Im kreativen Umfeld der Künstlerkolonie gab es genug aufgeschlossene Menschen, die Raum für ein ungewöhnliches Wohnen suchten, und so moderierten die Architekten von bogevischs buero gemeinsam mit Schindler-Hable Architekten sowie dem Büro Landschaftsarchitektur und partizipativer Planungsprozess Freiräume: bauchplan ).( mit Auböck+Kárász und der Projektleiterin der wagnis, Elisabeth Hollerbach, ab 2009 einen intensiven Prozess der Teilhabe. In mehreren Workshops im Haus 49 spielten die Interessenten mit Umzugskisten, Schuhkartons und Dachlatten, um ihr gemeinsames Wunschwohnen zu entwickeln.
Wagnis-Vorständin Rut-Maria Gollan hat selbst Architektur studiert und berichtet von Fragen wie: „Wie verorte ich mich? Wie viel Privatisierung gestehen wir zu?“ Von eher abgeschotteten Konzepten eines „Pueblo“ und einem von einer Radfahrrampe erschlossenen Ringbauwerk gelangte die Gruppe schließlich zum differenzierten Layout aus fünf polygonalen, durch Brücken verbundenen „Stadtsteinen“. Während die zwei Höfe sich zum Quartier öffnen, bieten die luftigen Verbindungen oben geschützte halböffentliche Bereiche, von denen sich alles überblicken lässt, ab und an auch die Alpen.
Zwischenräume und Clusterwohnungen
Vertikal erschließen geräumige, kommunikativ angelegte Treppenhäuser die vieleckigen Blöcke. Zugunsten wertvoller Zwischenräume hielt man die Wohnflächen kompakt. Da Stadt und Freistaat insgesamt 70 Prozent der Wohnungen einkommensabhängig fördern, galten ohnehin die Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus. 57 der insgesamt 138 Haushalte wurden zu neun „Clustern“ gruppiert, in denen vier bis zehn Apartments an einem Gemeinschaftsraum liegen. Der ist flexibel und wurde mal mit Designerküche, mal mit Möbeln vom Sperrmüll ausstaffiert. Eine Gruppe hat hier sogar eine Bühne eingebaut.
Die Wohnungen verteilte die Gemeinschaft nach Neigung, nicht nach Geldbeutel – die frei finanzierten Einheiten sind keineswegs nur die Penthouses und der Standard ist überall gleich. Es gibt eben extrovertierte Leute, die gern am Hof wohnen und bei denen „einem oft ein Kuchen herausgereicht wird“, wie Gollan erzählt, und andere, die sich gern nach „Australien“ zurückziehen – im Kosmos der fünf Blöcke liegt es am Rand.
Mitgestalten am Gegenüber
vier Jahren des gemeinsamen Planungsprozesses war man 2013 bei den Fassaden angelangt. Die Bewohner durften sie gestalten, allerdings nicht am eigenen Haus, sondern an dem, auf das sie blicken. In der eigenen Wohnung durften die Gruppen nur eines der Fenster verändern. Dazu gab es ein stehendes und ein liegendes Format sowie ein Küchenfenster zur Auswahl, die entlang gewisser Achsen platziert wurden. „Es muss nicht zwingend so aussehen“, findet Rut-Maria Gollan, „aber solch sichtbare Konsequenzen eigener Wirksamkeit sind von großer Bedeutung für Baugruppen.“
Die Planer setzten die Regeln, haben aber dann die Kontrolle über die konkrete Gestaltung abgegeben. Doch die ansonsten eher ruhigen Baukörper mit einheitlichen Brüstungsgittern und wenigen Nischen behalten gestalterisch die Oberhand. Im Gewusel der Leute – Architekt Rainer Hofmann von bogevischs buero nennt es „Stadttheater“ – bilden Details, ob derb oder delikat, ohnehin nur den Hintergrund.
Trotz der Vielgliedrigkeit erreicht wagnisART übrigens den Passivhaus-Standard. Es ist ein flexibler Hybridbau aus einem Ortbetonskelett mit Holzrahmenfassade, dessen Baukosten trotz Parkettböden bei günstigen 2.060 Euro pro Quadratmeter in den Kostengruppen 3 und 4 liegen. Was einem dafür alles geboten wird, lässt ahnen, welche Margen die übliche Meterware auf dem Immobilienmarkt abwirft.
Demokratie statt Service
Allerdings wird erwartet, dass sich die Bewohnerschaft einbringt. Es gibt neben dem monatlichen Plenum diverse „Kümmerergruppen“, die eine Hausverwaltung überflüssig machen. Wer hier lebt, möchte ohnehin teilhaben am Dorfleben. Die Tiefgarage unterm Hof wurde gemeinsam bunt angemalt. Um den Toberaum auszustatten, gab es einen Flohmarkt im Hof. „Die Feste und Aktionen, davon lebt das Ganze“, schwärmt Rut-Maria Gollan.
Im dritten Jahr vor Ort ist die Fluktuation gleich null. Niemand will hier wieder weg. Zwei Drittel der rund 1.600 Mitglieder von wagnis haben ihre Einlage von (mindestens) 1.000 Euro gezahlt, aber noch keine Wohnung. Im nächsten Frühjahr wird darum bereits das sechste wagnis-Projekt eingeweiht. Wagnis 7 ist gegenüber der Riemer Messe in Planung – es wird fast 200 Meter lang.
Die Stadt München setzt bei der Vergabe von Bauland weiterhin stark auf die neuen Genossenschaften, denn die Erfahrungen mit deren Quartieren sind durchweg positiv – für die Menschen, die eine verlässliche Nachbarschaft schätzen, und für die Stadt, die so monotone Neubauviertel belebt. Rechnen dürfte sich der Aufwand am Ende für alle Beteiligten, auch für die Planer – nicht nur, wenn es einen Haufen Architekturpreise dafür gibt.
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Leider hat es auf mich in dem Artikel den Eindruck gemacht, als ob Sie den latenten Zwist zwischen Architekten und Projektentwicklern/Bauträgern noch unnötig schüren.
Sätze wie „ödes gestalterisches Korsett nach dem Geschmack der Immobilienentwickler“ entbehren jeglicher Grundlage.
Auch der Vergleich (im Printartikel) der 2.060 € KG 3 und 4 zu den Preisen der „Meterware am Immobilienmarkt“ sind einfach substanzlos. Was wird denn hier verglichen? Herstellungskosten mit Verkaufspreisen? Netto- mit Bruttokosten? Quadratmeter BGF mit Quadratmeter Wohnfläche?
Etwas mehr Recherche, z.B. zur Frage zu welchem Preis die Genossenschaft das Grundstück erwerben konnte und zu welchem Preis die „bösen“ Projektentwickler die Nachbarflächen, hätte wohl gut getan. Immer in die vorhandene Kerbe zu schlagen und den Sündenbock Bauträger weiter zu belasten ist schon recht mager.
VG an Hr. Gunßer, er kann ja mal bei einem Projektentwickler hospitieren – vielleicht geht ihm dann ein Licht auf!