Dieses Interview ist unter dem Titel „Der liebevolle Blick verändert alles“ im Deutschen Architektenblatt 11.2020 erschienen.
Von Kerstin Kuhnekath
Frau Fröbe, die Meinung über Architektur geht zwischen Laien und Fachwelt oft meilenweit auseinander. Warum eigentlich?
Ich glaube, da gibt es ein Missverständnis. Architekten meinen oft, dass Architektur aufgrund ihrer physischen Präsenz nicht vermittelt werden muss. Schon im Studium fällt es angehenden Architekten schwer, ihren Entwurf zu beschreiben. Oft sagen sie: Man sieht das doch. Das Problem ist: Man sieht es nicht. Man muss darüber sprechen. Und zwar über die gesamte gebaute Umwelt, nicht nur über das Herausragende wie die Spektakel-Architektur oder Bauskandale.
Wessen Aufgabe ist es, Architektur zur vermitteln?
Im Moment ist die baukulturelle Bildung fest in der Hand von Architekten. Das ist ein Problem, weil sie dazu tendieren, die Alltagsarchitektur auszuklammern. Viele Kammern wollen gerne den Bauherrn von morgen erziehen. Aber Architektur geht alle an. Jeder muss mit ihr leben. Um eine Wertschätzung der Architektur zu erreichen, brauchen wir einen multiprofessionellen Ansatz, der Lehrkräfte, Historikerinnen, Architekturtheoretiker und Kritikerinnen mit einbezieht. Das ist dann nicht Architekturvermittlung, sondern Baukultur-Vermittlung.
Was ist der Unterschied?
Wenn man Bürgerinnen nach Architektur fragt, dann zählen sie Sehenswürdigkeiten auf. Die meisten halten Architektur und Städtebau für Spezialdisziplinen, die mit ihrem Leben nicht viel zu tun haben. Aber alles Gebaute ist Baukultur, ob es uns gefällt oder nicht. Die baukulturelle Bildung soll die Bürger hinführen zu den Alltagsbauten, die sie umgeben. Sie hat die Aufgabe, den Menschen eine Hilfestellung zu geben für den Umgang mit dem, was da ist.
Viele schauen bei diesem Thema neidisch nach Finnland. Wieso?
Finnland hat sich in der baukulturellen Bildung schon vor Jahren an die Spitze gesetzt. Die Finnen haben sich 1998 eine Architekturpolitik gegeben, in der sie die Architecture Education zum Lern-Thema gemacht haben für jeden finnischen Bürger. Es geht ihnen darum, eine lebenslange Bindung zur Architektur zu schaffen.
Ist das übertragbar?
Lange Zeit hieß es, das sei auf Deutschland nicht zu übertragen, weil Finnland viel kleiner ist und keine föderalen Strukturen hat. Ich wollte wissen, ob das stimmt, und habe daher eine Feldstudie dazu gemacht.
Und?
Die Voraussetzungen sind komplett unterschiedlich – und doch können wir viel von dem kleineren Land lernen. Finnland ist erst seit 103 Jahren unabhängig. Die starke Beziehung der Finnen zur Architektur rührt daher, dass die Architekten – namentlich Eero Saarinen und Alvar Aalto – die finnische Nation und deren Identität wortwörtlich aufgebaut haben. Die finnische Architekturgeschichte ist im Prinzip eine Geschichte der Moderne – schon weil jahrhundertelang traditionell mit Holz gebaut wurde, das eine vergleichsweise kurze Lebensdauer hat. So sind zum Beispiel aus der schwedischen Besatzungszeit fast nur noch Burgen oder Brücken aus Stein erhalten. In Deutschland ist die Architekturgeschichte viel älter und unübersichtlicher. Die Wahrnehmung ist eine andere, weil mit Baukultur auch eine große Verlusterfahrung verbunden ist – durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Die Stadtzentren wurden modern und schnell aufgebaut. Diese Moderne bereitet uns nach wie vor große Schwierigkeiten. Am liebsten würde man vieles rückgängig machen und wiederaufbauen, was vorher war.
Warum hadern die Deutschen so mit der Architektur?
Die Deutschen blicken auf ein Trauma zurück. Nach dem Krieg und in der Nachwendezeit wollte man den Deckel auf der Architektur lassen. Man wollte gar keine starke Architektur haben. Und von staatlicher Stelle ist das genauere Hinsehen nicht unbedingt gefördert worden – möglicherweise aus Angst davor, an dem Trauma zu rühren.
An welcher Stelle sollte baukulturelle Bildung Ihrer Ansicht nach vermittelt werden?
In der Schule. Denn sie ist ein Garant dafür, dass alle erreicht werden.
Aber ist Architektur nicht in den Rahmenlehrplänen aller Bundesländer vorhanden?
Ja, im Fach Kunst gilt das für alle Schularten und Altersklassen. Aber die Lehrkräfte werden nicht daraufhin ausgebildet. Sie können es also nicht anbieten. Architektur ist ein sehr komplexes Thema, das viel Wissen voraussetzt. Das muss unbedingt in das Lehramtsstudium integriert werden. Es geht vor allem darum, zu lernen, die Alltagsumgebung wahrzunehmen. Viele verbringen ein ganzes Leben im architektonischen Raum, ohne hinzusehen. Das sollte sich ändern.
Wie kommt es, dass baukulturelle Bildung nicht zur Allgemeinbildung in Deutschland gehört – und deshalb auch wenig öffentliche Förderung erhält?
Deutschland muss die Baukultur als Kultur erst anerkennen! In Finnland wurde diese Brücke geschlagen: Noch vor dem Setzen der Architekturpolitik wurde Architektur offiziell zu Kunst und Kultur zugehörig erklärt. Das war der entscheidende Schlüssel! Von diesem Moment an standen die Kultur-Fördertöpfe offen. Im Rahmen der „Basic Education in the Arts“ konnten Architekturschulen für Kinder und Jugendliche gegründet werden, und auch ein „Architecture Information Centre“ – etwas, das alle anderen Kunstsparten bereits hatten.
Das heißt, die finnischen Lehrpläne strotzen nur so von Architektur?
Interessanterweise nicht! Die „Architecture Education“-Module, die 1998 eingeführt wurden, sind mit der Lehrplanreform 2018 wieder gestrichen worden. Trotzdem findet viel baukulturelle Bildung statt, weil sie in den 20 Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Insbesondere im fächerübergreifenden Unterricht, der mit der Reform sehr gestärkt wurde, spielt die Architektur eine wichtige Rolle. In Deutschland hingegen ist sie zwar offiziell verankert, findet aber nicht statt.
Wie groß ist der Aufwand, die baukulturelle Bildung zu aktivieren?
Von Finnland kann man lernen, dass es keine großen, personalstarken Institutionen braucht, um die baukulturelle Bildung voranzubringen. Als Erstes muss der Bedarf formuliert werden. Dann braucht es jemanden, der die Verantwortung und die Koordination übernimmt als Schnittstelle und Ansprechpartner. Und dann kann das Thema in die Fläche getragen werden. Professionelle Vermittlerinnen gibt es ja genug, aber jeder wurschtelt sich so durch. Das muss koordiniert und evaluiert werden. Fortbildungen müssten entwickelt und organisiert werden, damit sich die Vermittlung nicht mehr nur auf das Basteln von Milchkarton-Modell-Städten oder Wohnungen im Schuhkarton beschränkt. Denn das ist keine baukulturelle Bildung. Es geht darum, grundsätzlich für Architektur zu sensibilisieren und das Lebensumfeld als etwas Gestaltbares zu erfahren. Wenn man mit Kindern partizipativ arbeiten will, reicht es nicht, sie zu fragen, was sie irgendwo haben wollen. Man muss sie dazu anregen, das Lebensumfeld zu erforschen. Und wenn Externe in die Schulen kommen, wäre es grandios, wenn sie die Lehrkräfte gleich mitschulen und damit befähigen, die Lehre im nächsten Schuljahr selbstständig durchzuführen. So wächst die Kompetenz stetig. In Finnland passiert das ganz selbstverständlich und mit Erfolg.
Klingt trotzdem erst mal nach viel Arbeit. Warum lohnt sich die Investition für die Gesellschaft?
Die baukulturelle Bildung ist der Schlüssel zur architektonischen Qualität. Bürger und Bürgerinnen, die eine Beziehung zur Architektur haben, werden es nicht mehr hinnehmen, dass ihnen irgendwelche Lieblosigkeiten vor die Nase geknallt werden. So wie das heute in der Regel der Fall ist bei der Investorenarchitektur. Oder von der anderen Seite gedacht: Im Moment lockt das Verfahren der Partizipation ja eher Initiativen des Widerstandes an. Es steht ein Dagegen im Raum, kein Dafür. Das macht es für Planende unangenehm. Wenn Architektur aber breit und nicht mehr als Spezialdisziplin wahrgenommen wird, dann sind die Leute bereit, sich zu engagieren und positiv mitzuwirken. Der liebevolle Blick verändert alles.
Was ist Ihre dringlichste Forderung?
Baukulturelle Bildung muss als Fachdisziplin aufgenommen werden an den Universitäten, die unsere Lehrkräfte ausbilden. Man kann es nicht einfach mit der Kunstdidaktik verbinden. Es ist eine ganz andere Geschichte, die man anders angehen muss. Es muss eine Fachdidaktik entwickelt werden und es braucht Forschung in dem Bereich.
Wo stehen wir derzeit in diesem Prozess?
Der Bund erarbeitet gerade baukulturelle Leitlinien, auf die ich sehr gespannt bin. Wir stehen jetzt an dem Punkt, an dem die Finnen vor 20 Jahren angefangen haben mit ihrer Architekturpolitik. Und das, obwohl wir auch seit 20 Jahren eine Baukulturpolitik haben. Die baukulturelle Bildung ist nur scheinbar auf einem guten Weg. Noch stimmt das nicht. Alle denken, das kann so nebenbei laufen. Aber es braucht eine breite Verteilung, sodass wir alle erreichen. Denn der Schlüssel zur schöneren Stadt liegt im eigenen Kopf.
Turit Fröbe bietet mit ihrer Stadtdenkerei „spielerische, niedrigschwellige und unkonventionelle Baukulturvermittlung, die Spaß macht!“ Wie sie Menschen dazu bringt, ihre Stadt liebevoll zu betrachten und warum das der Schlüssel zu einer schöneren Stadt ist, berichtet sie im Gespräch in Kerstin Kuhnekaths Podcast „Architektur als Zweitsprache“.
Bücher von Turit Fröbe
Eine braune Metallfassade, bunte Mosaikfliesen, verspringende Fenster: relativ eindeutige Hinweise auf die Bauzeit. Tag für Tag gehen wir an eher jungen Gebäuden vorbei, ohne sie genau zu betrachten, geschweige denn einzuordnen – obwohl das Kindern und Erwachsenen oft ein Bedürfnis ist. Mit ihrem „Bestimmungsbuch“ legt Turit Fröbe augenfällige, aber nie so klar benannte Kriterien offen, strukturiert Stile und macht Architektur für alle lesbar.
Turit Fröbe
Alles nur Fassade?
Das Bestimmungsbuch für moderne Architektur
Dumont, 2018
176 Seiten, 20 Euro
Im Rahmen der im Interview erwähnten Feldstudie ist Turit Fröbe in Gesprächen mit Expertinnen und Experten der Frage nachgegangen, wie erfolgreich die international rezipierte finnische Architekturpolitik ist. Wie genau ist es gelungen, die baukulturelle Bildung im Bildungssystem zu verankern? Und was ist aus den finnischen Erfahrungen für Deutschland abzuleiten? Einen tieferen Einblick ins Buch gibt unsere Autorin Kerstin Kuhnekath hier.
Turit Fröbe
Architekturpolitik in Finnland
Wie Baukulturelle Bildung gelingen kann
Jovis, 2020
192 Seiten, 35 Euro
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Lernen.
Sehr lange musste ich das DAB lesen, um endlich in diesem Interview das geschrieben zu sehen, was mich seit Langem bewegt. Frau Fröbe spricht mir aus der Seele. Ich bin Kunsterzieherin an einem Gymnasium und hatte das Glück an der Bauhaus-Universität Kunst zu studieren, während mein Mann dort Architektur studierte. Als studentische Hilfskraft habe ich am Städtebaulehrstuhl gearbeitet. Deshalb war es für mich als Kunstlehrerin von Anfang an selbstverständlich, Architektur thematisch in den Unterricht einzubringen. Schnell konnte ich aber beobachten, dass sich die meisten Kolleg*innen aus Sorge, nicht kompetent genug zu sein, davor drücken. Wenn man als Kunstlehrer*in aber einmal realistisch betrachtet, wann unsere Schüler später vielleicht einmal dringend gestalterische Kompetenzen aus dem Kunstunterricht bräuchten, dann ist das in dem Moment, wenn sie an ein eigenes Heim denken, also ein Haus kaufen, sanieren oder bauen wollen. Wenn die Kunsterzieher im Studium tatsächlich über die übliche Architekturgeschichte hinaus professionell ausgebildet werden würden, hätten sie später als Architekturvermittler sicher Einfluss auf die zukünftigen Bauherren. Wenn ich mir die Neubaugebiete hier auf dem platten Land, aber auch in den umliegenden Städten so anschaue, besteht dringend Handlungsbedarf. In der Schule könnte das Thema „Architektur und Bauen“ auch wunderbar fächerübergreifend unterrichtet werden. Jetzt lese ich erst einmal die empfohlenen Bücher und bin gespannt, wie die „Baukulturelle Bildung“ vorangetrieben wird. Über Fortbildungsangebote in Rheinland-Pfalz würde ich mich sehr freuen.