Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Die Neuprogrammierung unserer Innenstädte“ im Deutschen Architektenblatt 01.2021 erschienen.
Von Caspar Schmitz-Morkramer
Der Druck der Veränderung liegt auf den Einkaufsstraßen und -vierteln unserer Städte. Mit der Corona-Pandemie hat auch die Generation, die dem stationären Handel bisher noch die Treue hielt, die Vorzüge der digitalen Welt entdeckt. Dabei stand der stationäre Handel gefühlt schon vorher mit dem Rücken zur Wand. Schon bevor wir das Wort „Lockdown“ kannten, entvölkerten sich einst hoch frequentierte Einkaufsstraßen – und das nicht erst nach Ladenschluss. Die ehemalige Laufkundschaft hatte immer öfter vom heimischen Sofa aus ein neuartiges Einkaufsverhalten praktiziert: „pick & click“ oder „click & collect“.
Digitales Flanieren statt Flaniermeilen der Innenstädte
Das digitale Flanieren gehört heute zum coolen Lifestyle der jüngeren und mittleren Generationen, die die Flaniermeilen ihrer Eltern zunehmend links liegen lassen. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: 2018 stiegen die rein digital generierten Umsätze in Deutschland auf 53,6 Milliarden Euro, was circa zehn Prozent des deutschen Umsatzes im Einzelhandel entspricht. Diese Zahlen wurden in Europa nur noch von Großbritannien übertroffen.
Sogar Shopping-Malls sind bedroht
Die Pandemie, die vielen Menschen die Lust am Einkaufsbummel vermiest, verschlimmert direkt und indirekt diese ohnehin schon prekäre Lage. Der Wandel unserer wohlvertrauten Stadtzentren ist durch die Corona-Maßnahmen in einen Turbo-Modus hochgefahren. Auch etablierten Händlern in Innenstadtlagen, inklusive Warenhäusern und Shoppingmalls, brechen nun die Umsätze weg. Im direkten Vergleich zum Vorjahr stieg 2020 das coronabedingte Umsatzplus im E-Commerce um satte 20 Prozent, entsprechend schrumpfte es im stationären Handel. Ein Zurück in die guten alten Zeiten nach dem Sieg über das Virus wird immer unwahrscheinlicher.
Die reine Einkaufsstraße hat ausgedient
Doch es sterben nicht die Stadtzentren – sondern es stirbt ein Geschäftsmodell unserer Innenstädte, das die europäische Stadt zuvor untergrub. Die reine Einkaufsstraße hat ausgedient. Vor uns liegt die Aufgabe einer post-industriellen Neugründung der Städte. Die technologische und soziokulturelle Transformation bildet dabei neue Erwartungshorizonte. Hier gilt es für uns als Architektinnen und Architekten, als Stadtplanerinnen und -planer, einzugreifen und mitzugestalten. Ob die Städte einem hemmungslosen dystopischen Verfall ausgesetzt sind, ist fraglich. Nur eines ist sicher: Wenn wir als Kreative – Händlerinnen, Stadtverwaltungen, Projektentwickler, Immobilienbesitzerinnen, Architekten, Stadtplanerinnen, Bauingenieure etc. – nicht handeln, wird es zu spät sein für die Auferstehung unserer vormals florierenden Städte.
Innenstädte müssen individueller werden
Für uns Architektinnen und Architekten heißt das zum Beispiel, Strategien für die Neuprogrammierung unserer Städte zu erarbeiten. Wir fühlen uns dabei von New-Store-Konzepten inspiriert, die alle einen hohen Grad an Vitalität, Dynamik, Individualität und Interaktion beinhalten. Der Flaneur muss zum Akteur werden. Genauso wie im Einzelhandel die Mehrzahl der Kunden exzellente Beratung, eine große Auswahl an Produkten und zudem einen Erlebnisfaktor, sprich Unterhaltung und Aktion, will, ist es letztlich die überproportionale Aufenthalts- und Erlebnisqualität, die die Qualität unserer Innenstädte ausmacht. Städte brauchen wieder eine eigene unverwechselbare DNA.
Funktionstrennung der klassischen Moderne aufgeben
Was die klassische Moderne noch strikt typologisch in Funktionsarten und -räume trennte, müssen wir heute umso mehr durchmischen. Wohnen und Arbeiten müssen wieder zurück in die Zentren. Digitale Technik ermöglicht Kleinteiligkeit, Reduzierung, Entmaterialisierung, Effektivität und natürlich eine enorme Beschleunigung. Umgemünzt auf die innerstädtische Gewerbeimmobilie, bedeutet dies einen neuen Mix von vormals divergenten Elementen. Auf diese Weise kommt wieder zusammen, was in der präindustriellen Zeit schon einmal unter einem Dach oder in einem Sozialverband stattfand.
Urbane Landwirtschaft im Stadtzentrum
Dabei müssen wir nicht von null starten. International liegt ein ganzer Fächer von Möglichkeiten einer innovativen, urbanen wie multifunktionalen Durchmischung der Einzelhandelskonzepte und des Stadtbilds (sowie der dafür essenziellen Mobilitätsformen) bereit. Konzepte der „Gastronomification“ wie H&Ms „It’s Pleat“ in Großbritannien oder der „Eataly“ in Mailand lösen die Grenzen von Gastronomie und Einzelhandel auf. Die Landwirtschaft wird stadtkompatibel weiterentwickelt: In Tokio wird seit 2010 auf 4.000 Quadratmetern des Firmensitzes von Pasona neben der Arbeit Reis und Gemüse angebaut, 2011 entstanden im kanadischen Montreal die weltweit ersten kommerziellen Dach-Gewächshäuser auf einem Industriebau (die verantwortliche Firma „Lufa Farms“ weihte im August 2020 ihr mit 164.000 Quadratmetern bisher größtes Dach-Gewächshaus ein).
Neue Wohn- und Arbeitsformen für die Innenstädte
Auch neue Wohnformen sind inzwischen schon aus den Kinderschuhen heraus: Vorreiter waren hier die Schweizer mit von Bürgern initiierten Projekten wie der Züricher Genossenschaft Kalkbreite, die seit 2014 Wohnen und Gewerbe mischt, aber auch kommerzialisierte „Co-Living“-Angebote wie das der Londoner Firma „The Collective“. Vor der Krise boomten Co-Working-Spaces auch in deutschen Städten; hybride Formen und „Urban Manufacturing“ wie im Rotterdamer „Makerspace“ mit der gemeinsamen Nutzung von Maschinen, Lasercuttern und 3D-Druckern sind vielversprechend auch für kleine Firmen und Start-ups.
Um kreative und kulturelle Zwischen- oder Umnutzungen des voraussehbaren neuen Leerstands muss man sich dabei erfahrungsgemäß keine Sorgen machen: Sind die Stadtverwaltungen mutig genug, können sie von Initiativen wie dem Berliner Holzmarkt nur profitieren, um bloß eines von unzähligen bundesweiten Beispielen einer Aneignung von Stadtraum mit viel Mehrwert für die Gesellschaft zu nennen.
Transformation der Innenstädte am Beispiel von Köln
Wie dieser neue vitale Mix, die kreative Komplexität und dynamische Dichte aussehen könnten, haben wir exemplarisch in Eigeninitiative am Beispiel der Kölner Innenstadt durchgespielt. In deren Einkaufsstraßen herrscht bisher die derzeit bundesweit typische mono-kommerzielle Ödnis, geprägt von nur noch wenigen international vertretenen Handelsketten. Kleine, individuelle Läden wurden schon längst durch die Mieten von teils weit über 200 Euro/Quadratmeter verdrängt. Der Druck der Innovation lastet besonders auf der Hohen Straße, der Ehren-/Breite Straße und der Schildergasse – Letztere vor der Corona-Krise mit durchschnittlich 16.835 Fußgängern pro Stunde die am meisten frequentierte deutsche Einkaufsstraße.
Eine Analyse der baulichen Struktur von Köln ergab sechs wiederkehrende Bautypologien: monofunktionale Blocks (faktisch gehören alle fünf Shopping-Center in der Kölner Innenstadt in diese Kategorie), monofunktionale Gebäude, zugängliche Erdgeschosszonen, Baulücken, Parkdecks und Innenhöfe. Jede Typologie eignet sich für unterschiedliche Um- und Mischnutzungen. So verbergen sich hinter den leuchtenden Farben der Visualisierungen ausgeklügelte Konzepte von mitunter kleinteiligen Mischnutzungen. Der Kombinationsfreude sind schier keine Grenzen gesetzt: Dächer werden begrünt und/oder genutzt zur Produktion von Energie und Lebensmitteln (Stichwort Urban Farming) und neue Wohn-, Arbeits- und Einzelhandelsformen durchziehen die Gebäude.
Es gilt, das lokale Kolorit unserer Städte wiederzuerwecken und zu entdecken. Kölnspezifisch war und ist dies die dichte Innenstadt um Dom und Hauptbahnhof. Vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg prägten schmale, aber umso tiefere Bauten von maximal fünf Geschossen das Straßenbild. Die Erdgeschosse strahlten eine visuelle Vielfalt sowie eine hohe kommerzielle Abwechslung aus, von deren Lebendigkeit wir heute, trotz inflationär angestiegener Barber- und Nailshops, meilenweit entfernt sind.
Alte Werte und frische Ideen
Es bleibt eine ästhetische Gratwanderung, unsere bedrohten Innenstädte zu sanieren. Hier liegt eine Gefahr für Architekten heute: Architektur darf nicht digitales Elend kaschieren, das heißt eine Pseudo-Wirtschaft hinter post-modernem Fassadenklüngel verstecken. Ausgehend von einem Bewusstsein einer Stadt mit alten Werten, jedoch gekoppelt mit frischen zeitgemäßen Ideen, verbergen sich im neuen Stadtbild zahlreiche Antworten und Lösungen für die Fragen unserer Zeit. Keine Utopien, sondern fassbare, praktikable Lösungen müssen es sein – eine Reminiszenz an die traditionelle europäische Stadt. Oder frei nach Shakespeares „All the world’s a stage“ sind die innerstädtischen Straßen und Plätze die Bühne unserer Gesellschaft. Die gilt es wieder zu bevölkern – was bedeutet, das Leben und den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu setzen – ganz Maßstab Mensch.
<<< Jump Mark: retail >>>
Studie: retail in transition
Die (englischsprachige) Studie „retail in transition“ des Forschungsteams caspar.research stellt weitere internationale Beispiele vor, des Weiteren finden sich auf den insgesamt 200 Seiten Interviews mit Handelsexperten und Stadtplanern und umfangreiches Zahlenmaterial zur Entwicklung des Online-Handels in den letzten 20 Jahren.
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Perspektiven.
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu:
Leider ist die Erkenntnis, schleunigst umzudenken in unserer Stadt noch überhaupt nicht angekommen: Hier werden neue Malls hochbetoniert, neudeutsch Karrees, hochgezogen, indem alte Bausubstanz aus Beton zuvor mühsam abgerissen wird. Völlig unökologische Vorgehensweise!
Wer hier shoppen gehen soll, ist mir ein Rätsel, zumal die Kaufkraft ( in Bochum ) rapide zu sinken scheint. Die Stadtplaner handeln nach immergleichen, völlig veralteten Mustern, indem sie die massenhaft vorhandene Liquidität der Immobilienfonds in unseren Städten in Beton gießen lassen . Die Aufenthaltsqualität sinkt m. E. weiter, ohne dass die verantwortlichen Ratsmitglieder, geschweige denn OB Eiskirch, nur ansatzweise eine Idee davon entwickeln, was sie mit ihrem veraltet überkommenen Aktivismus der Stadt antun. Bevor diese Riege an uneinsichtigen Betonköpfen nicht durch bessere, kreativere und bürgernäher handelnde Philantropen ausgetauscht wird, wird sich aber kaum Besserung einstellen!