8 Strategien für nachhaltiges Bauen: Fotos, von links oben im Uhrzeigersinn: Villa Heike (Sanierung von Christof Schubert Architekten), Bürogebäude 2226 (Baumschlager Eberle Architekten), Recyclinghaus (Cityförster), Walden 48 (Scharabi und Anne Raupach), Mehr.WERT.Pavillon (2hs Architekten), RAG-Gebäude (kadawittfeldarchitektur), Alnatura-Campus (haas cook zemmrich STUDIO2050), Kö Bogen II (ingenhoven architects). Zu allen Projekten finden Sie hier ausführliche Berichte.
Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Grüne Architektur oder grüne Märchen?“ im Deutschen Architektenblatt 05.2021 erschienen.
Von Christian Welzbacher
„Grüne Märchen“ – so bezeichnete die Journalistin Kathrin Hartmann 2015 in der Süddeutschen Zeitung die damals aufkommende „Green Economy“. „Green growth“ will Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander versöhnen – doch Hartmann steht dieser Behauptung regelrecht unversöhnlich gegenüber. Die „Idee, Wachstum und Naturzerstörung mithilfe neuer Technologien voneinander zu entkoppeln“ nähre den Glauben, man könne „die guten und die schlechten Effekte des Kapitalismus wie Lokomotive und Waggon“ einfach trennen. „Gerade weil in den vergangenen Jahren sämtliche Strategien zu einer nachhaltigen Entwicklung in den reichen Ländern gescheitert sind, klammern sich Politik und Gesellschaft an diese Illusion.“ Green Growth sei eine Beruhigungspille für diejenigen, die ihre eigene Einstellung unverändert, das System als Ganzes unterhinterfragt belassen wollten. Für die Mehrheit also.
Fast jeder Neubau ist heute „green“
Ob sich der harte Befund auf die Bauwirtschaft übertragen lässt, wo „green“ zur omnipräsenten Bezeichnung vieler Neubauten geworden ist? Ausgerechnet im Bausektor, der anerkannterweise rund 40 Prozent der Kohlendioxid-Emissionen der Gesamtwirtschaft verantwortet, wenn man Errichtung und Betrieb der Gebäude zusammenrechnet? Ist „grüne Architektur“ ein weiteres „grünes Märchen“?
In unserem Beitrag über Cradle to Cradle stellen wir die besten Projekte in Sanierung und Neubau vor und blicken zum Vorreiter Niederlande. Außerdem: nützliche Informationen und Planungshinweise.
Verwirrung der Begriffe
Die Antwort lautet: Ja und nein, denn wir haben es mit einer Verwirrung der Begriffe zu tun. Da „grün“ nun einmal im Trend liegt, klebt die Marketingbranche diese Bezeichnung auf nahezu jeden x-beliebigen Neubau. Juristisch ist man damit auf der sicheren Seite. Im Sinne eines klar definierten Rechtsbegriffs bedeutet „grün“ genauso wenig wie „nachhaltig“ oder „gemeinwohlorientiert“. Abseits des werbewirksamen Labelings sind jedoch alle drei Bezeichnungen einer intensiven Fachdebatte unterworfen, die sehr wohl inhaltliche Kriterien herausgearbeitet hat.
„Nachhaltigkeit“ ist nicht einklagbar
Nur gelang es nicht, den Begriffen in Form von anwend- und einklagbaren Gesetzesvorschriften auch Rechtskraft zu verleihen. Sie bleiben daher leere, gleichwohl wirkmächtige Werbeformeln, die beliebig „zertifiziert“ werden können. Und das lenkt dann auch davon ab, was sich eigentlich hinter „grüner Architektur“ verbirgt.
Kein Geringerer als James Wines, Gründer der legendären Architektengruppe SITE, hat für die Encyclopædia Britannica den Wesenskern echter „Green Architecture“ zusammengefasst. „Green“ gilt ihm als Synonym für ein Bauen, das sich am zyklischen Werden und Vergehen der Natur orientiert. Die Idee entwickelte sich analog zur „Kreislaufökonomie“ und versteht sich dezidiert als Gegenmodell zur liberalen Marktwirtschaft. Statt permanentes „Wachstum“ zum Dogma zu erheben, müsse „nachhaltiges“ Handeln den gesamten Naturzyklus mitdenken. Zum Werden gehört das Vergehen – erst aus der Umwandlung des Vergangenen wird Neues.
Lesen Sie in unseren Beitrag zur Umweltstation und zum Baustoff-Recycling, was machbar ist und woran es noch scheitert, inklusive Link zu einer kostenlosen Arbeitshilfe.
Kreislauf-Bauwirtschaft mit Mensch im Mittelpunkt
Eine solche „Kreislauf-Bauwirtschaft“ stellt nicht den kurzfristigen Profit, sondern den Menschen in den Mittelpunkt der Bautätigkeit. Errichtet werden soll zunächst nur das, was wirklich benötigt wird. Zudem fokussiert „Green Architecture“ auf die Erhaltung und energetische Ertüchtigung des Bestands. Wird doch neu gebaut, steht das Recycling von Abbruchmaterial an nächster Stelle. Aus Bauschutt lassen sich Zuschlagstoffe für Beton gewinnen. Ziegel, aber auch Ausstattungselemente wie beispielsweise Fenster, Türen und Badeinrichtungen lassen sich wiederverwenden.
Baustoffbörsen und Urban Mining
Dafür haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Baustoffbörsen etabliert, die in Deutschland sicher noch ausgebaut werden können. Idealerweise sollten Transportwege kurz gehalten werden, das wiederverwendete Material sollte aus der jeweiligen Region kommen. In diesem Zusammenhang ist auch von „Urban Mining“ die Rede. Die „alte“ Stadt gilt als Materiallager der Stadt der Zukunft. Können Baubestand und Baumaterial immer wieder transformiert werden, so sind neu hinzugefügte Baustoffe die Ausnahme.
Wie weit kommt man, wenn man nur recycelte oder recyclebare Bauteile einsetzt? Unser Beitrag über das Recyclinghaus schlüsselt im Detail und in einer Bildstrecke auf, woraus sich der Bau zusammensetzt. Außerdem: Links zu Bauteilbörsen und Online-Marktplätzen für gebrauchte Bauteile.
Öffentliches Bauen als Vorbild
Bislang aber ist „grüne Architektur“ die Ausnahme, wenngleich einige europäische Länder eine positive Entwicklung angestoßen haben. Seitdem die Schweiz beispielsweise mit der Anpassung ihrer Baugesetze in den 2010er-Jahren den Einsatz von Recyclingmaterial empfiehlt, entwickelten mehrere Kantone „grüne“ Musterlösungen im öffentlichen Bauwesen. In Waldau bei St. Gallen etwa entstand 2016/17 eine Fernwärmezentrale mit Außenwänden aus Mischabbruch-Recyclingbeton (Entwurf: Thomas K. Keller Architekten). Rote, braune und weiße Einsprengsel vermischen sich mit dem grauen Teint der Oberfläche.
Grüne Architektur tangiert diverse Gesetze
Auch in Deutschland haben sich die Behörden des Themas angenommen, in einigen Städten entstanden Musterprojekte, darunter die aus Recyclingbeton errichtete „Umweltstation“ in Würzburg nach einem Entwurf von Franz Balda (siehe DAB 01.21, „Vom Bauschutt zum Baustoff“). Sachsen-Anhalt entwickelte 2017 einen Leitfaden für den Einsatz von Recyclingmaterial in technischen Bauwerken. Dabei trat ein von Architektenkammern und -verbänden oft adressierter Aspekt auf neue Weise zutage: die verwickelte Gesetzeslage. „Grüne Architektur“ tangiert in Deutschland auf Landes- und Bundesebene mindestens 15 verschiedene Gesetze und Verordnungen.
Sie führen weit über die Planungsregulatorien im engeren Sinne hinaus – ebenfalls zur „Green Architecture“ gehörende Überlegungen zu Grauwasserrecycling oder autarke Energieversorgung durch Biomasse nicht einmal eingerechnet. Dieser komplizierte Rahmen macht „grüne Architektur“ zum Ausnahmefall. Er treibt Planungsaufwand und Kosten in die Höhe und hält die Wirtschaft unnötig auf Distanz.
Recycling und Reuse in Forschung und Kunst
Denn das Wissen steht längst bereit. Jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, welche Potenziale im „grünen Bauen“ schlummern. Am Karlsruher KIT etwa befasst sich Dirk Hebel mit „Buildings from Waste“ (so der Titel seines Buches von 2014). 2019 errichtete ein Team der KIT-Architekturfakultät mit 2hs Architekten in Heilbronn den nahezu vollständig aus Recyclingmaterial bestehenden „Mehr.WERT.Pavillon“. Recycling-Pavillons sind im Kunst- und Ausstellungskontext längst Standard, etliche Büros haben sich auf dieses Thema spezialisiert. In den Niederlanden gehört Superuse zu den Vorreitern. In Frankreich ist Encore Heureux zu nennen, die 2015 mit dem aus alten Holztüren gefertigten Pavillon Circulaire vor dem Pariser Rathaus bekannt wurden.
Wie wurde Europas größte Grünfassade gebaut und wie ökologisch ist sie wirklich? Wohin geht der Trend bei grünen Fassaden? Lesen Sie hier die Antworten in unserem Fachbeitrag über Gebäudebegrünung.
Gesucht: politische Initiative
Solange neue (auf unkomplizierte Weise vorschriftenkonforme) Baustoffe billiger zu beziehen sind als verwertungsfähiges Abbruchmaterial, dürfte es für die meisten Akteure der Planerbranche keinen Anreiz geben, „grüne Architektur“ ins Kalkül zu ziehen. Impulse hierfür kann nur die Politik setzen. Angesichts der Klimakatastrophe dürften die gern genommenen „Incentives“ nicht reichen. Vielleicht bringt der anstehende Wahlkampf Bewegung in die Debatte. Die neu gegründete Klimaliste Rheinland-Pfalz jedenfalls hat als erste deutsche Partei überhaupt „Kreislauf-Bauwirtschaft“ auf die politische Agenda gesetzt.
Gebäudesanierung vorantreiben
Konkrete Schritte fordert nicht nur die Bundesarchitektenkammer, die zuletzt gemeinsam mit der DGNB und der Deutschen Umwelthilfe ein Grundsatzpapier zum Thema „Nachhaltiges Bauen und Gebäudesanierung“ erarbeitet hat. Auch die „Architects for Future“ sind aktiv geworden. Im Januar 2021 überreichten sie Bundesbauminister Horst Seehofer eine Petition, die alle wesentlichen Aspekte der „grünen Architektur“ in einem sieben Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog bündelt. Fast 60.000 Unterschriften sammelte die Aktion innerhalb von vier Wochen ein, unterstützt auch von Verbänden wie dem Bund Deutscher Architektinnen und Architekten.
Grüne Architektur beginnt mit intelligenter Planung
Bis das Ministerium reagiert, dürfte es noch dauern. So lange müssen wir uns wohl weiter mit einzelnen Vorbildbauten begnügen, von denen zuletzt das 2019 errichtete „Recyclinghaus“ in Hannover viel Lob erntete (siehe DAB 09.2020, „Recycelt“). Das liebevolle Projekt nach dem Entwurf des Büros cityförster zeigt übrigens auch, dass „grüne Architektur“ im Kopf, in der Wahrnehmung beginnt. Was uns vor Augen steht und was wir mit „grün“ assoziieren, sind vor allem Oberflächen. Doch der größte Teil an „planerischer Intelligenz“ steckt in den Tiefen des Projekts und ist am fertigen Objekt gar nicht abzulesen. „Grüne Architektur“ funktioniert als komplexes System aus Ethik, Ästhetik und (Aus)Bildung. Sie verlangt einen ganzheitlichen Ansatz, der das Bewusstsein der Planer und der Gebäudenutzer einschließt. Sie ist ein im besten Sinne gesellschaftliches Projekt. Und damit von Etikettenschwindel und „grünen Märchen“ klar zu unterscheiden.
Wieviel Nachhaltigkeit Wohnungskäufer wirklich das Geld wert ist und was ihnen besonders wichtig ist, hat eine Umfrage ergeben. Weitere Beiträge finden Sie außerdem in unserem Schwerpunkt Nachhaltig.
Zusatzinfo & Webtipp
Earth Overshoot Day: Leben auf zu großem Fuß
Im Jahr 2021 ist hierzulande am 5. Mai Earth Overshoot Day. Ab dann leben die Deutschen ökologisch gesehen bis zum Ende des Jahres auf Pump und verbrauchen mehr natürliche Ressourcen als nachwachsen können. Wie ressourcenintensiv der Bau- und Immobilienbereich ist, lässt sich am Beispiel des im Entstehen begriffenen Münchner Stadtteils Freiham ablesen: In rund 2.400 Gebäuden werden dort circa 2,2 Millionen Tonnen Rohstoffe gespeichert, ein Großteil davon mineralische Baustoffe wie Zement. Hinzu kommen 110.000 Tonnen Metalle im Wert von 20,4 Millionen Euro. Dies hat Urban Mining-Experte Matthias Heinrich vom Umweltberatungsinstitut EPEA berechnet, der Städte, Kommunen und Unternehmen berät, wie sich Rohstoffe in diesem Sektor durch Kreislaufwirtschaft wiederverwenden lassen. Heinrich nahm am 4. Mai 2021 mit weiteren Experten an einem Pressegespräch zum Thema teil. Die Veranstaltung mit dem Titel „Leben auf zu großem Fuß“ steht auf dem YouTube-Kanal des PresseClub München auch nach dem Earth Overshoot Day zur Verfügung.
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