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Studierendenwohnheime: Sind das die Wohntrends der Zukunft?

Wohnheime sind längst nicht mehr nur Kästen voller Zellen an langen, öden Fluren. Sie können urbane Pioniere sein, flexibel und selbstbestimmt, und mit vielen Extras das Miteinander fördern. Eine Architektur, die möglicherweise das genügsamere Wohnen von morgen vorwegnimmt

Von: Christoph Gunßer
Christoph Gunßer ist für das DAB vor allem in Süddeutschland...

01.07.20229 Min. Kommentar schreiben
Studentenwohnheim Collegium Academicum im Bau
Das Heidelberger Wohnprojekt „Collegium Academicum“ wird von den Studierenden selbst verwaltet.

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Individuum und Gemeinschaft“ im Deutschen Architektenblatt 07.2022 erschienen.

Von Christoph Gunßer

Sie verhandelten professionell mit Behörden, Bauleitern und Banken, sammelten Mittel via Crowdfunding, und am Ende bauten sie sogar ihre Möbel selbst: die jungen Mitglieder des Collegium Academicum in Heidelberg. Seit dessen Gründung 2013 haben sie beharrlich ihr Vorhaben verfolgt, auf dem Gelände des ehemaligen US-Hospitals in Rohrbach ein innovatives, selbst verwaltetes Wohnprojekt zu verwirklichen.

Gang durch Holzkonstruktion
Der raffinierte Holzbau ist ein Leuchtturmprojekt der IBA Heidelberg und wird in diesem Sommer bezogen.

Collegium Academicum in Heidelberg

In diesem Sommer sind sie am Ziel: Die 176 rings um einen Hof gruppierten Wohnplätze werden bezogen. Für 310 Euro warm wird eine bunte Mischung aus Studis und Azubis, aber auch Orientierung suchenden Schulabgängern neben ihren hölzernen WG-Modulen auch Werkstätten, Seminarräume, eine 600 Personen fassende Aula und eine große Dachterrasse nutzen können.

Grundriss Heidelberger Wohnprojekt „Collegium Academicum“
Außer variablen WG-Zimmern gibt es eine Aula, Werkstätten und eine Dachterrasse.

Kleinteiliges Holzskelett für flexible Grundrisse

Unterstützung fand das Vorhaben früh bei der IBA Heidelberg, die es zu ihrem Leuchtturmprojekt erkor – knüpft es doch an ein legendäres WG-Haus der Nachkriegszeit an. Im Werkstatt-Verfahren entstand ein innovatives Holzbaukonzept, das Hans Drexler von DGJ Architekten aus Frankfurt mit dem Schweizer Holzbauingenieur Pirmin Jung entwickelt hat: Das kleinteilige Skelett-System aus vielen identischen Bauteilen hält allein mit Hartholz-Verbindern und bietet die Möglichkeit, das Modul-Gefüge nach Bedarf zu verändern. So lassen sich die 14 Quadratmeter individueller Wohnraum zugunsten der Gemeinschaft auf sieben verkleinern.

Verbindung einer Holzkonstruktion
Stützen und Decken sind mit solchen Hartholz-Verbindern aneinander gefügt.

Vom Bund geförderte Variowohnungen

Das brachte den Bund mit dem Programm „Variowohnungen“ mit ins Boot, und auch die Bundesstiftung Umwelt beteiligt sich an dem rund 13 Millionen Euro teuren Projekt, das den KfW-40-plus-Standard erfüllt. Die Variabilität der Konstruktion soll auch künftigen Bewohnern die Mitgestaltung ermöglichen. „Das Ziel ist, dass eine Bindung entsteht, die über die reine Nützlichkeit hinausgeht“, sagt Architekt Hans Drexler von DGJ. Das Hospital-Gelände, zu dem auch ein großer Altbau gehört, soll Mittelpunkt eines lebendigen neuen Stadtquartiers werden.


Norderoog und Süderoog in Berlin

Als so ein lebendiges Quartier ist der Berliner Stadtteil Wedding bereits weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Das macht ihn zu einem guten Ort für Architektur-Experimente wie die zwei Studentenwohnheime Norderoog und Süderoog, die 2019 fertiggestellt wurden. Die Initiative kam hier im Gegensatz zu Heidelberg nicht von der Basis, sondern eher Top-down: Die zwei Hingucker hinter Indus­trieglas gehen auf einen Projektaufruf der Berliner Senatsverwaltung von 2015 zurück, in dem neue, flexibel umnutzbare Wohnkonzepte gesucht wurden.

Variable WG-Cluster

Dichte Stadt gibt es am dafür gewählten Standort bereits genug, doch leider ist er auch sehr laut. Darauf reagieren die Häuser, die zwei Ecken einer Blockstruktur neu besetzen, mit einem innovativen Cluster-Konzept. Es wendet sich mit den zu WGs gruppierten Kleinstwohnungen konsequent nach innen und stülpt einen offenen Pufferraum darüber, der den Lärm abschirmt und zugleich viel Raum für gemeinsames Kochen oder Arbeiten bietet.

Gemeinschaftszone mit Werkstattcharakter

Das „Gesicht“ dieser robusten Multifunktionszone zur Straße hin war für die Anwohner etwas gewöhnungsbedürftig – wegen der breiten Bänder aus opakem Industrieglas titulierten manche die Neubauten als „Lagerhaus“. Doch Architektin Anna Lemme von Lemme Locke Lux, die das Doppelprojekt gemeinsam mit Carpaneto Schöningh bis Leistungsphase 5 geplant hat, kontert das mit dem Argument, dies sei eben eine neue Wohnform, deren Werkstatt-Charakter ruhig rüberkommen dürfe. Überdies schaffe die helle Front gerade abends im Stadtraum zwei lebendige Plätze, die das Sicherheitsgefühl erhöhten. Das in diesen Lagen sonst oft öde Erdgeschoss aktivieren zudem ein „Späti“-Laden sowie Praxisräume.

Damit hier indes nicht komplett von oben herab geplant würde, zogen die Architektinnen in der Konzeptphase Studierende des als progressiv bekannten Studentendorfes Schlachtensee hinzu. Am Ende werden die beiden Häuser aber von der Bauherrin Gewobag, einer alteingesessenen Berliner Wohnungsbaugesellschaft, verwaltet.

Klassischer Wohnungsbau möglich

Die Nähe zur Berliner Hochschule für Technik und zu Kliniken macht die Häuser mit 195 Plätzen attraktiv. Die WG-Zimmer, auch hier mit vielen Zusatzflächen für die Gemeinschaft, kosteten 2019 beim Bezug 350 Euro warm. Seither wurde die Flexibilität des räumlichen Gefüges aus Betonskelett und -schotten sowie verputzten Holztafelfassaden, das den KfW-55-Standard erfüllt, noch nicht groß ausprobiert. Doch prinzipiell lassen sich aus dem aktuellen Wohnheim-Layout auch relativ klassische Zweispänner machen. Küchenzeilen sind vorbereitet, und Treppenhäuser gibt es genug.

Ob die raue Ästhetik mit viel Sichtbeton unbedingt Senioren anspricht, sei dahingestellt; aber auch Studis werden ja mal alt. Momentan teilt sich über die halb transparenten Fassaden viel vom lebendigen Gewusel in den Häusern mit, die übrigens wegen ihrer Adresse an der Amrumer Straße nach benachbarten Halligen benannt wurden. Im Vergleich zum strahlenden „Leuchtturm“ in Heidelberg sind sie bei der konzeptionellen Offenheit ein eher neutrales, anonym wirkendes Projekt, das sich notgedrungen mehr nach innen wendet als zum Stadtteil.


Studinest in Rostock mit Innenhof
Das Wohnheim „Studinest“ in Rostock besteht aus Punkthaus und Zeile und besitzt einen vom Verkehrslärm abgeschirmten Innenhof.

Studinest in Rostock

Auf eine ebenfalls laute Lage ganz anders reagiert ein Projekt in Rostock: Das „Studinest“ wurde 2020 direkt an den dortigen Wallanlagen fertiggestellt. Es startete mitten in der Pandemie unter erschwerten Bedingungen, hat sich aber seither wirtschaftlich wie sozial etabliert.

„Richtig hässlich“ sei der Standort an der stark befahrenen Straßenkreuzung unweit des Kröpeliner Tors gewesen, sagt Architektin Anne Menke. Mit ihrem Berliner Büro Project Architecture Company gewann sie 2016 den dritten Preis im offenen Wettbewerb, den die Stadt dem privaten Investor für das zentral gelegene Grundstück zur Pflicht gemacht hatte. Dass für die eigentlich profane Aufgabe 60 Vorschläge eingingen, illustriert nur, wie rar solche Konkurrenzen geworden sind. Die Bauherrinnen, Mutter und Tochter mit russlanddeutschem Background, vertrauten dem jungen Büro, das so erstmals ein derart großes Projekt bis Leistungsphase 5 samt künstlerischer Oberleitung realisieren konnte.

Grundriss Studinest Rostock
Im Studinest gibt es 72 überwiegend kleine Studios ab 26 Quadratmeter, inklusive Mini-Bad und Kochnische.

Wenige Grundrissexperimente

Die Gliederung in Punkthaus und Riegel sowie eine öffentliche Passage waren bereits im Bebauungsplan festgezurrt. Der Schwung des Riegels vorn, der Zickzack der Fassade zum Hof und die Abstaffelung gen Süden machen das Ensemble jedoch zu einer Adresse, den Unort zum belebten Wohnumfeld. Die Grundrissgestaltung ist dabei konventioneller als in Berlin: 72 überwiegend kleine Studios ab 26 Quadratmeter (inklusive Mini-Bad und Kochnische) reihen sich in den bis zu sechs Etagen, meist an Mittelfluren und teilweise rein Nord-orientiert. Die Kosten dafür beginnen bei 400 Euro warm, inklusive Internet; Wasser und Strom zahlt man extra nach einem Prepaid-System – auch eine Art der Erziehung zur Nachhaltigkeit.

Gemeinschaftsraum im Wohnheim
Die Extras entschädigen für die kleinen und wenig flexiblen Wohnzellen. Im Erdgeschoss gibt es großzügige Gemeinschaftsräume.

Gemeinschaftsräume sorgen für Ausgleich

Im Erdgeschoss gibt es überaus großzügige Gemeinschaftsräume und Co-Working-Spaces mit Werkstatt-Atmosphäre; obenauf bieten zwei Dachterrassen Luft zum Atmen und Sicht fast bis zur Ostsee. Diese Extras entschädigen für die doch recht kompakten und in diesem Fall auch wenig flexiblen Wohnzellen. Für Flächenbilanz-Füchse: Nicht einmal die Hälfte der Bruttogeschossfläche ist Wohnfläche (2.920 Quadratmeter).

Selbst verwaltet: mithelfen ist Pflicht

Als „roh“ beschreibt die Architektin den nach Sparmaßnahmen letztlich gelieferten Ausbaustandard. Hier mussten die Studierenden noch vieles selbst gestalten. Überhaupt ist im selbst verwalteten Projekt Mithilfe Pflicht: beim Putzen und Schneeschippen zum Beispiel. Auch wie die Gemeinschaftsflächen bespielt werden, entscheidet die Bewohnerschaft in Eigenregie.

Zwei Studierende blicken von Dachterrasse
Zwei Dachterrassen bieten Sicht fast bis zur Ostsee.

KfW-40 Standard und E-Autos

Nicht gespart wurde indes beim Energiestandard: Hinter den schlichten, skulptural differenzierten Faserzementplatten der Fassade steckt dicke Dämmung, und die neckischen gelben Düsen daran sind die Auslässe der dezentralen Lüftung mit Wärmerückgewinnung. So erreicht der Bau den KfW-40-Standard. Fürs Mobilitätskonzept mit vier „geteilten“ ­E-Autos im Keller durfte man einige Stellplätze weglassen. Obwohl rein privates Investment, hebt sich das Studinest angenehm von einschlägigen Luxus-Anlagen ab – die Kosten lagen bei 7,1 Millionen Euro brutto in den Kostengruppen 3 und 4. In seiner robusten Schlichtheit ist das Ensemble ein überzeugender Beitrag zur Belebung der Innenstadt.


Gerhard-Uhlhorn-Kirche in Hannover

Solche Impulse müssen jedoch bei Weitem nicht nur von Neubauten kommen: Wohnbau-Reserven lassen sich auch an – oder eher in – ungewöhnlichen Orten mobilisieren, gerade für Studierende, die wohl am offensten sind für neue Möglichkeiten. So überrascht in Hannover ein deutschlandweit einzigartiges Pionierprojekt in einer ehemaligen Kirche aus den Sechzigerjahren.

Nahe der Uni am Rande des beliebten Stadtteils Linden gelegen, wurde das markante Gotteshaus (Architekt: Reinhard Riemerschmid) bereits 2012 entwidmet. Nach vier Jahren Leerstand verlockte der Skelettbau aus Beton und Holz schließlich zwei private Investoren zum Experiment. Mit der Planung beauftragten sie Pfitzner Moorkens Architekten aus Hannover. Behörden und Denkmalschutz spielten mit, und so zog Ende 2019 wieder Leben in den bergenden Sakralraum ein. Unterteilt ist er nun in 38 Einheiten, zwischen 13,5 und 46,5 Quadratmeter groß, darunter vier geförderte Apartments.

Denkmalgerechtes Haus im Haus

Die einstige Orgelempore ließ das Architektenpaar zu einer Gemeinschaftsküche umbauen, zum ehemaligen Mittelgang zwischen den Kirchenbänken öffnen sich jetzt die Zimmertüren. Die denkmalgeschützte Struktur blieb bis auf neue Dachfenster, einige Lichtöffnungen an der Fassade – beispielsweise für Loggien – und zwei Treppen im Inneren unverändert. Dort eine Wärmedämmung aufzubringen, wäre sicher unpassend gewesen. Die Lösung: ein Haus im Haus. Ein zweigeschossiger, schall- und wärmegedämmter Block wurde wie eine Schachtel in die Kirchenhülle hineingesetzt.

Vergangenheit als Kirche spürbar

Die weiterhin sakrale Anmutung des Gebäudekörpers mit seinem steil geneigten Dach schützt nun die neue, immer wieder wechselnde Gemeinschaft. Im Innenraum fällt das Licht durch die Buntglasfenster und färbt die weißen Flurwände. Die alten Kirchenbänke dienen jetzt als Sitzgelegenheit an einer zwölf Meter langen Tafel aus Eichenholz. Das Kreuz und der Altar blieben im Gebäude und sind weiterhin im Hintergrund präsent, stehen einem zeitgemäß multireligiösen Miteinander indes nicht im Wege, das hier für 9,50 Euro pro Quadratmeter in den frei vermieteten Einheiten zu haben ist. Die Baukosten für den Einbau: 1.978 Euro/Quadratmeter. Die Investoren haben inzwischen eine weitere Kirche in der Stadt umgebaut, unter anderem zu Wohnungen.

Studierende wollen und können anders wohnen

Unsere kleine Auswahl zeigt, wie vielfältig sich studentisches Wohnen heute gestalten lässt. Weil die Wohnraum-Not gerade in dieser Zielgruppe besonders groß ist, werden zwar weiterhin auch fantasielose Container-Dörfer für sie errichtet. Es lohnt sich aber, ihre Bedürfnisse zwischen Individualität und Gemeinschaft ernst zu nehmen und, wo möglich, mit ihr nachhaltige, suffiziente Strukturen zu entwickeln. Es sind, wie gesehen, Labore für das Wohnen für morgen.

 

Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Jung.

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