Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Materialkataster für Gebäude“ im Deutschen Architektenblatt 12.2022 erschienen.
Viel Fantasie ist nicht mehr nötig, um sich Folgendes vorzustellen: Für einen Neubau oder eine umfassende Bestandssanierung werden Baustoffe gebraucht. Die sind aber aufgrund knapper Rohstoffe, gestiegener Materialkosten und lückenhafter Lieferketten teuer. Hilfreich wäre jetzt eine Landkarte, die im Umkreis von etwa 30 Kilometern um das geplante Bauvorhaben anzeigt, wie viel Beton, Stahl, Holz und so weiter aus Rückbauprojekten frei werden.
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Materialwert von Immobilien
Genau hier setzt Madaster an. In den Niederlanden wird das Karten-Modell gerade im Rahmen eines Pilotprojektes erstellt. Der Name Madaster leitet sich aus den Begriffen Material und Kataster ab und ist als Online-Plattform angelegt. Das Ziel ist, analog zum Prinzip des Liegenschaftskatasters ein Materialkataster für Gebäude zu erstellen. Mithilfe einer Verknüpfung zu Rohstoffbörsen erfahren die Eigentümer am Ende auch, welcher Materialwert in der Immobilie steckt. Entscheidend ist aber, dass auch Art und Menge der verbauten Materialien angezeigt werden, welche davon recycelbar sind, welche wiederverwendbar, was stofflich verwertbar ist und was auf die Deponie muss. So muss es sein, soll die Kreislaufwirtschaft rundlaufen.
Madaster wurde 2017 in den Niederlanden gegründet und ist inzwischen in fünf Ländern aktiv; in Deutschland seit 2021. In allen Ländern wurden insgesamt bislang 16 Millionen Quadratmeter Baufläche registriert. Entsprechend der Intention, die Kreislaufwirtschaft maßgeblich mitzugestalten, richtet sich die Plattform an Gebäudeeigentümer, Projektentwickler, Architekten, Baustoffhersteller, Städte und Kommunen sowie an Rückbau- und Recyclingunternehmen.
„Den Schlüssel hält dabei der Gebäudeeigentümer in der Hand. Er muss sich mit dem Ziel der Plattform identifizieren und dem zustimmen. Die Daten sind sein Eigentum. Wechselt der Eigentümer, wird der Zugang weitergegeben“, erklärt Patrick Bergmann, Geschäftsführer Madaster Deutschland. Auf diese Weise bleiben die Daten über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes erhalten. Das ist für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft wichtig. Im Abrissfall kann der Eigentümer dann entscheiden, ob die Baustoffe auf eigenen Baustellen wieder eingesetzt, dem Hersteller zurückgegeben oder auf Materialbörsen gehandelt werden sollen.
Banken fordern Rückbaukonzepte
Für Einfamilienhäuser ist die Kreislaufwirtschaft zurzeit kaum relevant, für große Neubauvorhaben oder Eigentümer großer Immobilienbestände dagegen schon. Erste Banken knüpfen bereits bei Investitionssummen ab höheren zweistelligen Millionenbeträgen die Finanzierung an die Dokumentation der verbauten Materialien und fordern Rückbaukonzepte. Positiv auf die Wirtschaftlichkeitsbewertung der Immobilie weist sich zudem aus, wenn bereits ein Restwert aufgrund von Materialerlösen angegeben werden kann.
Materialdaten aus dem BIM-Modell
Grundlage für Madaster bilden die gebäudebezogenen Daten. Deren Integration in die Online-Plattform ist bei Neubauten relativ einfach. Via IFC-Schnittstelle können Architekten das BIM-Modell direkt hochladen. Da die Darstellung für die Auswertung in Listenform erfolgt, genügt alternativ auch eine Excel-Datei. Ist jedoch ein BIM-Modell hinterlegt, wird beim Anklicken des aus der Liste gewählten Bauteils dessen Einbauort im Gebäude sichtbar.
Erfolgt das Einstellen mittels BIM-Modell, benötigt Madaster zwar nur den Planungsendstand. Patrick Bergmann empfiehlt jedoch ein Hochladen, sobald die Materialien und Kostengruppen bekannt sind: „So können wir frühzeitig die Funktionstauglichkeit des BIM-Modells testen. Häufig nutzen es die Architekturbüros auch, um Planungsvarianten durchzuspielen.“ Zum Beispiel: Was ändert sich, wenn die Wände statt aus Beton aus Holz bestehen?
Die Auswertung bei Madaster umfasst unter anderem den CO2-Fußabdruck, einen Zirkularitätsindex und den Wert der Baustoffe. Der Zirkularitätsindex gibt den zirkulären Wert von Materialien und ihre Anwendung in Objekten wieder. Werden im Verlauf der Planung die Materialangaben präzisiert, passen sich die Ergebnisse entsprechend an. Ordnen dann die ausführenden Firmen den Bauprodukten noch die Hersteller zu, wäre der Idealzustand erreicht. Allerdings ist das derzeit die Ausnahme.
Materialdaten für Bestandsgebäude
Die Integration der Daten mittels Excel-Datei ist in erster Linie für Bestandsgebäude gedacht, denn in den seltensten Fällen liegt hier ein BIM-Modell vor. Zwar wäre das die genaueste Bestandsaufnahme, sie ist aber auch die aufwendigste. Das Gebäude müsste gescannt, darauf aufbauend das BIM-Modell nachgebaut und die Materialien müssten hinzugefügt werden.
Ebenfalls aufwendig, aber ohne BIM-Modell, ist die Generierung von Art und Masse der verbauten Materialien auf Basis eventuell vorhandener alter Planunterlagen und/oder der klassischen Objektbegehung. Diese Methode wird gerade beim Huthmacher-Haus in der Berliner City West praktiziert. „Es ist eines der ersten Bestandsobjekte bei Madaster Deutschland, das besonders detailliert bearbeitet wird“, sagt Patrick Bergmann.
Huthmacher-Haus: Akribische Bestandsaufnahme
Die Eigentümerin des Huthmacher-Hauses am Hardenbergplatz, die Bayerische Hausbau, nutzt die Teilsanierung der Immobilie, um die Nachhaltigkeitspotenziale mit Blick auf Kreislaufwirtschaft und Urban Mining analysieren zu lassen. Projektpartner ist neben Madaster das Umweltberatungsinstitut EPEA, eine Unternehmenstochter der Drees & Sommer SE. Projektleiterin Sybille Mai: „Unsere Aufgabe besteht darin, den Bestand zu analysieren und die neu eingesetzten Baustoffe zu erfassen. Die Daten fließen in unseren Gebäuderessourcenpass (Circularity Passport für Buildings) ein, wo sie hinsichtlich ihrer Kreislauffähigkeit bewertet werden.“ Bei Bestandsgebäuden besteht der Gebäuderessourcenpass aus zwei Teilen: Teil 1: Bestandserfassung, Teil 2: neu eingebaute Materialien, wobei die Erfassung Letzterer relativ leicht realisierbar ist.
Bei der Bestandsaufnahme wurden die Erkenntnisse aus Objektbegehungen sowie aus noch vorhandenen Bauunterlagen aus den 1950er und 1980er-Jahren verknüpft. „Darunter befanden sich auch Detailzeichnungen und statische Berechnungen, deren Durchsicht zeitaufwendig war. Wir konnten aber daraus die Abmessungen der Fassadenbauteile und Rippendecken einschließlich der verwendeten Bewehrung erkennen“, erläutert Sybille Mai. Ergänzend hat das EPEA-Team vor Ort unter anderem das aus Beton bestehende Tragwerk, die Fenster, die Dämmung sowie die Materialien des Innenausbaus, die nach der Teilsanierung im Gebäude verbleiben, aufgenommen.
Die 2021 begonnene Teilsanierung umfasst unter anderem die Erneuerung des Brandschutzes in den Büroetagen und die technische Gebäudeausrüstung. Sybille Mai betont, dass der Fokus bei der Wahl der neu eingebauten Materialien auf deren Kreislauffähigkeit liegt, und verweist auf die im Vergleich zur Gebäudehülle viel kürzeren Lebenszyklen: „Der Innenausbau folgt in der Regel dem Mieterwechsel. Deshalb sollte dort auch ein Schwerpunkt der Kreislauffähigkeit liegen.“
Heidelberg: Bestandsaufnahme durch Schätzung
Sollen die Baustoffe aus Abrissobjekten bereits in absehbarer Zeit möglichst vollständig in den Wertstoffkreislauf zurückfließen, dann muss die Erfassung von Altbauten schneller vorangehen. Eine Schätzung, wie sie jetzt im Rahmen des Pilotprojektes „Circular City – Gebäude-Materialkataster für die Stadt Heidelberg“ erfolgt, könnte den Prozess deutlich beschleunigen. EPEA und Madaster arbeiten auch hier zusammen. Ziel ist eine vollständige ökonomische und ökologische Analyse des gesamten Gebäudebestands.
Die Bestandsaufnahme erfolgt mit dem dafür von EPEA entwickelten Urban Mining Screener – einem Softwareprogramm, das auf Basis von Gebäudedaten wie Bauort, Baujahr, Gebäudevolumen und Gebäudetyp dessen materielle Zusammensetzung schätzen kann. Projektleiter Matthias Heinrich: „Die Datenbasis bilden verschiedene Datenbanken, darunter auch solche aus Bestandsbegehungen und Ökobilanzen, wobei der Datenbestand kontinuierlich erweitert wird. Je mehr Daten integriert sind, desto genauer werden künftige Schätzungen sein. Im Grunde handelt es sich um ein selbstlernendes System.“
Mit dem Patrick-Henry-Village, einer 100 Hektar umfassenden ehemaligen Wohnsiedlung für Angehörige der US-Armee, sind in Heidelberg die ersten 325 Gebäude bereits erfasst. Sie sollen im Zuge der Umgestaltung des Areals mit Wohnungen für 10.000 Menschen und Gewerbeansiedlungen zum Teil saniert und zum Teil abgerissen werden. Der Urban Mining Screener hat berechnet, dass in den Gebäuden rund 465.884 Tonnen Material stecken.
Etwa die Hälfte davon entfällt auf Beton, ein Fünftel auf Mauersteine und gut fünf Prozent auf Metalle. „Wir ermitteln derzeit hauptsächlich Materialien der Kostengruppe 300, also Beton, Ziegel, Metalle, Holz, Kunststoffe. Somit können wir Rückschlüsse auf die wesentlichen Baustoffe eines Gebäudes ziehen“, sagt Matthias Heinrich. Inwieweit die Schätzungen der Realität entsprechen, lässt sich zwar erst nach dem Abriss prüfen. Bei EPEA konnte man bei einem anderen Projekt jedoch Abweichungen von lediglich 15 bis 20 Prozent feststellen.
Zeitpunkte und Kapazitäten vorhersagen
Neben der Bestandsaufnahme soll im nächsten Schritt ermittelt werden, wann welche Materialien als potenzielle Baustoffe verfügbar sind. Da nicht alles wiederverwendbar ist, werden zudem Verlustraten ermittelt. Anhand dieser Informationen können beispielsweise Deponien und Recyclingwerke entsprechend geplant und eine regionale Wertschöpfung durch regionale Lieferketten und neue Geschäftsmodelle angestoßen werden. Das war auch für Heidelberg entscheidend für ihr Pilotprojekt. Bis spätestens 2040 will die Stadt klimaneutral werden und ihren Energiebedarf um die Hälfte senken. „Das schaffen wir nur, wenn wir uns bereits jetzt mit dem enormen Energie- und Ressourcenverbrauch auseinandersetzen“, erklärt Jürgen Odszuck, der als Erster Bürgermeister für die Ressorts Stadtentwicklung und Bauen zuständig ist.
Bis 2023 wird das Kataster auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. „Privatgrundstücke und Gebäude müssen für die Untersuchungen nicht betreten werden. Benötigen wir dennoch Daten, versuchen wir die Eigentümer von den Vorteilen zu überzeugen. Kosten fallen für die Eigentümer keine an“, sagt der Bürgermeister. Ein derart großflächiges und digitales Materialkataster für eine gesamte Stadt zu erstellen, ist in Europa bislang einzigartig. Patrick Bergmann: „Das hat auch andere Städte inspiriert, wie uns die Anfragen aus Düsseldorf, München, Duisburg oder Hamburg zeigen.“
Verknüpfungen zwischen Madaster und Datenbanken
Die Daten aus der Bestandserfassung werden durch einfaches Hochladen in die Gebäudedatenbank von Madaster überführt, dort automatisiert und gebäudebezogen ausgewertet. Madaster ermöglicht dieses Integrationsprinzip ebenso für eine Reihe weiterer Verknüpfungen. Das Spektrum reicht hier von Materialpässen und Gebäudepässen jeglicher Art und Produktdeklarationen (EPDs) über Datenbanken, wie die ÖKOBAUDAT oder die EPEA-Material- und Produktdatenbank, bis hin zu Bauteilbörsen.
Ein Beispiel dafür, wie relativ leicht das funktioniert, zeigt die ÖKOBAUDAT. „Der Betreiber, das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, nutzt unsere Schnittstelle, sodass wir seine Daten einfach ziehen und eigenständig die Funktionsfähigkeit testen konnten“, erklärt Patrick Bergmann. Madaster steht somit nicht im Wettbewerb zu Datenbanken, Bauteilbörsen und so weiter, sondern nutzt alle bereits verfügbaren Daten und ergänzt sie sukzessive. Damit ist auch das Ziel der Zusammenarbeit mit allen an der Kreislaufwirtschaft Beteiligten klar definiert.
Zahlreiche Unternehmen aus verschiedenen Bereichen des Planens, Bauens und Entwickelns von Gebäuden nutzen Madaster bereits.
Madaster im Überblick
Gründung
Die Online-Plattform Madaster wurde 2017 in den Niederlanden gegründet und ist inzwischen in der Schweiz, in Belgien, Norwegen, Deutschland und in Österreich aktiv. Initiator und Mitgründer ist der in den Niederlanden lebende deutsche Architekt Thomas Rau von RAU Architects, der sich seit vielen Jahren intensiv mit den Themen Nachhaltigkeit, Ressourcenknappheit und der Nutzung erneuerbarer Energien in der Architektur auseinandersetzt.
Struktur
Hinter Madaster steht eine gemeinnützige Stiftung. Das soll die Online-Plattform vor dem Verkauf schützen sowie die Datensicherheit langfristig gewährleisten.
Für die Gründung in einem Land sind jeweils 33 sogenannte „Kennedys“ erforderlich. Kennedys werden die Mitglieder in Analogie zu der visionären Ankündigung von John F. Kennedy 1961 genannt, vor Ablauf des Jahrzehnts einen Astronauten zum Mond zu schicken. Die Zahl 33 steht für die Anzahl der Wirbel der Wirbelsäule, da die Gründungs-Kennedys die Einführung in ein neues Land ermöglichen und damit sozusagen das Rückgrat der Plattform bilden. Die Wahl der Kennedy-Unternehmen erfolgt ausschließlich entlang der kreislauffähigen Wertschöpfungskette (siehe Grafik), da eine ganzheitliche Betrachtung des Gebäudes möglich sein muss. Sie arbeiten intensiv an der Weiterentwicklung von Madaster mit und sind zugleich Multiplikatoren.
Finanzierung und Zugangskosten
Die Kennedys leisten auch die Anschubfinanzierung für die Etablierung von Madaster in dem jeweiligen Land, denn bis sich die Plattform allein über die Nutzungsgebühren trägt, vergehen bis zu vier Jahre. Jeder, der Madaster nutzen möchte, benötigt einen kostenpflichtigen Zugang. Die Kosten betragen 900 Euro im Jahr, wofür alle Funktionalitäten der Plattform zur Verfügung stehen. Gebäudeeigentümer zahlen für jedes weitere Gebäude 100 Euro im Jahr. Erweiterte und damit teurere Pakete enthalten zusätzlich Schulungen und/oder einen Support.
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