Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Nachhaltige Nachbarschaft“ im Deutschen Architektenblatt 05.2023 erschienen.
Von Stefan Kreitewolf
Eingeschlagene Fenster, rostiger Stahl, überwuchertes Pflaster, Bauzäune: Noch vor wenigen Jahren war das stark sanierungsbedürftige Baudenkmal an der Wuppertaler Max-Planck-Straße allenfalls ein Eldorado für urbane Entdecker mit Herz fürs Morbide. Dabei war die ehemalige Fabrik der August Bünger Bob-Textilwerk GmbH für Generationen ein Ort der Arbeit und der Identifikation für die Menschen im Stadtteil Oberbarmen.
Bordüren, Gardinenbänder und Schnürsenkel wurden hier gefertigt. Seit 2012 stand das Werk leer. Von den Menschen im Viertel vergessen, tauchte die alte Fabrik danach allenfalls ab und an in Polizeimeldungen auf.
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Verlassene Textilfabrik wird zum BOB Campus
Die Kölner Architektin Ragnhild Klußmann besuchte den Ort erstmals 2017. Was sie vorfand, beschreibt sie so: „Ein verwildertes Gelände mit weitgehend ungenutzten Shedhallen von 1900, einer Fabrikhalle aus den 1970er-Jahren sowie zwei marode Gründerzeithäuser, bei denen lange ein Abriss zur Debatte stand – und überall Spuren der Geschichte.“
Gemeinsam mit der gemeinnützigen „Montag Stiftung Urbane Räume“ als Bauherrin gelang es Klußmann mit ihrem Büro raumwerk.architekten nicht nur, das Gebäudeensemble zu retten. Sie hauchten ihm neues Leben ein – und schufen mit dem sogenannten BOB Campus einen Ort für das Zusammenleben im Stadtteil.
Räume zum Lernen, Wohnen, Arbeiten
Neben Büro- und Co-Working-Flächen beheimatet der neue „Campus“ seit August Lern- und Werkräume für die benachbarte Max-Planck-Realschule, eine Kindertagesstätte, eine Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder sowie eine sogenannte „Nachbarschaftsetage“, in der sich das Viertel treffen kann.
In den beiden Gründerzeithäusern finden sich nun elf sanierte Altbauwohnungen, in denen große Familien, Senioren und inklusive WGs zu Hause sind. Fünf der Wohnungen sind barrierefrei erreichbar. Neun werden gefördert – der Quadratmeter kostet hier 5,70 Euro. Die Shedhallen sowie Teile der Fabrikhalle wurden zu Bürolofts und Ateliers, in die mittlerweile eine Agentur für Webentwicklung, ein Architekturbüro und eine Beratungsfirma eingezogen sind. Sie zahlen pro Quadratmeter zwischen sechs und neun Euro, ein marktüblicher Preis.
Benachteiligtes Viertel
„Dass wir so weit gekommen sind, war viel Arbeit“, berichtet Ragnhild Klußmann, die bereits mit der Machbarkeitsstudie in das Projekt einstieg. Besonders wichtig war ihr zu Beginn – neben einer eingehenden Prüfung der Bausubstanz –, sich ein detailliertes Bild vom Stadtteil zu machen. „Wer ein neues Herz für das Viertel schaffen möchte, sollte sich besonders aufmerksam mit dem Quartier und seinen Menschen auseinandersetzen“, sagt sie.
In diesem Fall sah sie viele unspektakuläre Funktionsklötze aus den 1950er-Jahren sowie nicht selten marode Gründerzeitbauten, Gebrauchtwaren-Geschäfte, Trinkhallen und viel Leerstand. Lkw und Kleintransporter bretterten durch die engen Straßen mit den allgegenwärtigen Schlaglöchern. Kinder spielten auf Garagenhöfen neben Männern, die auf Chrom starren. Am Hang gelegen und eng bebaut, fehlt es dem Stadtteil an Freiflächen.
Beteiligung der Menschen vor Ort
Ein Viertel wie geschaffen für die Montag Stiftung Urbane Räume, die sich gezielt in benachteiligten Gebieten engagiert – und viel Wert darauf legt, die Menschen vor Ort von Beginn an mitzunehmen. „Ins Gespräch kommen und zuhören“, beschreibt Vorständin Johanna Debik den Startpunkt des Projekts.
Nachdem klar war, dass die Stiftung in Oberbarmen aktiv werden würde, half dabei eine gemeinnützige Projektgesellschaft der Stiftung mit einem Projektbüro vor Ort. Sie vertiefte den Kontakt mit den Menschen aus dem Stadtteil in mehreren Workshops und Planungswerkstätten, wo Ideen ausgetauscht, Bedarfe angemeldet und Interessen erklärt werden konnten.
Für Ragnhild Klußmann war dieser partizipative Ansatz elementar, wenn auch nicht immer leicht: „Ein Planungsprozess mit vielen Beteiligten ist so komplex wie jede Gemeinschaft und jeder demokratische Prozess: genauso anstrengend wie inspirierend.“
BOB Campus ist Chance für den Stadtteil
Die Räume des gemeinschaftlich entwickelten Campus sollen nun vielfältig genutzt werden. Johanna Debik erläutert: „Was morgens als Kita- oder Klassenzimmer dient, kann nachmittags oder abends Werk- und Ausstellungs-, Sport- oder Proberaum für die gesamte Nachbarschaft sein.“ Die nun ansässigen Unternehmen bieten Ankerpunkte für Jugendliche im von Arbeitslosigkeit geprägten Quartier. Ein Campus für alle – mitten im bewegten Oberbarmen, in dem Menschen aus 100 Nationen leben.
Nachbarschaftsetage für vielfältige Nutzungen
Ragnhild Klußmann ist sicher: „Für den Stadtteil ist der BOB Campus eine Chance – gerade mit seinen vielfältigen Nutzungen in einem Gebäude bietet er Austausch, Freiraum und eine vielfältige Form des Miteinanders.“ Passend dazu bildet die 1.200 Quadratmeter große „Nachbarschaftsetage“ in der ehemaligen Fabrikhalle das Herz des Projekts.
Sie ist als offener Raum konzipiert. Hier treffen sich Pflegeeltern, eine Kochgruppe oder die Jugendlichen aus dem Viertel. 150 Stühle, eine Leinwand, ein DJ-Pult samt Beschallungsanlage und eine Tischtennisplatte sind nur ein Teil der Ausstattung. „Kochen, Lernen, Kreativsein, Spielen, Musizieren, Kennenlernen: All das und mehr findet in dem Raum statt, der dafür robust und flexibel sein muss“, erläutert Ragnhild Klußmann.
Kybernetische Energiefassade ohne Dämmung
Bei der baulichen Umsetzung verfolgte die Architektin einen pragmatischen Ansatz. Die alte Bausubstanz bereicherte sie um neue Elemente. Dazu zählen eine partiell lichtdurchlässige Fassade aus Polycarbonat und Lichthöfe, die die einzelnen Einheiten offener, heller und sichtbarer machen. Photovoltaikanlagen und ein intelligentes Lowtech-Lufttauschsystem prägen das energetische Konzept.
So wird die auffällige Fassade aus Kunststoffstegplatten an der Südseite von Luft hinterströmt und als Energiefassade genutzt. „Anstelle einer Dämmung sammeln wir die warme Luft hinter der Fassade und tauschen sie innerhalb des Gebäudes mit den kälteren Luftschichten, zum Beispiel an der Nordfassade, aus“, führt die Architektin aus. Dieses Energiekonzept habe ihr Büro gemeinsam mit einem Kybernetiker eigens für den BOB Campus erarbeitet.
Büros mit Industrie-Charme
In den Loftbüros zeugen die Sheddächer mit ihren filigranen Stahlträgern von der industriellen Vergangenheit, in den alten Werkshallen stehen Schultische und Kinderspielzeug auf teils brüchigen Fabrikböden. In den Fluren finden sich alte Metallspinde neben gerahmter Werbung für Sicherheitsschuhe aus den 1980er-Jahren. Und selbst die ursprünglichen, mittlerweile funktionslosen Sicherungskästen wurden als Stilmittel genutzt.
Durch das gesamte Gebäudeensemble zieht sich Holz als Bauelement, zum Beispiel in den Fensterlaibungen. Ragnhild Klußmann erklärt: „Mit den durchgehenden einfachen Details aus Furnierschichtholz haben wir versucht, ein industrielles Material in die Räume zu bringen, das aber zugleich Wärme ausstrahlt.“
Trotz Umbauten Charakter erhalten
„Natürlich verlangten Energiespar-, Brand- und Schallschutzanforderungen Umbauten, um die alte Fabrik und die historischen Shedhallen wieder in Nutzung zu bringen, aber wir haben insgesamt den Charakter der Gebäude erhalten und mit unserem Architekturkonzept den Dialog mit dem Bestehenden gesucht“, konstatiert Ragnhild Klußmann.
So versprühen in den Gründerzeithäusern Kassettentüren, Dielenböden, Holzhandläufe und frei liegende Balken, die von den Menschen aus dem Stadtteil selbst instand gesetzt wurden, den Glanz vergangener Dekaden. Dort findet sich auch das sogenannte „Nachbarschaftswohnzimmer“, das von den Bewohnerinnen und Bewohnern der beiden Häuser genutzt werden kann.
Terrassierter Nachbarschaftspark
Passend dazu entsteht im Außenbereich bis Ende 2023 ein in Terrassen angelegter, circa 4.500 Quadratmeter großer Nachbarschaftspark nach Plänen der Berliner Landschaftsarchitekten „atelier le balto“. Als Partner der Montag Stiftung finanziert die Stadt Wuppertal den Park mit einer Gesamtinvestition von rund zwei Millionen Euro.
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Gemeinwohl als Rendite
Planung und Baumaßnahmen am BOB Campus selbst schlugen bei der Montag Stiftung mit insgesamt 13 Millionen Euro zu Buche. Weitere 1,6 Millionen Euro investiert sie in den kommenden sechs Jahren in die Projektentwicklung sowie die Stadtteilarbeit.
Die Stiftung nutzt bei ihren Projekten sogenanntes „Initialkapital“: Mithilfe einer gemeinnützigen Projektgesellschaft investiert sie in leer stehende Gebäude und Gelände, um positive Entwicklungen anzustoßen. Neben dem Geld sind es vor allem die Ideen und das Engagement der Nutzenden, die benachteiligte Stadtteile nachhaltig beleben sollen – am liebsten mit direkter Beteiligung der Nachbarschaft ab Beginn der Konzeptionsphase.
Inklusive Projektentwicklung
In Bochum, Krefeld und Halle realisierte die Montag Stiftung so bereits gemeinwohlorientierte Projekte (zu den Websites der Projekte kommen Sie hier). Johanna Debik nennt das „inklusive Projektentwicklung“. Das Ziel: „Chancengerechtigkeit, Eigeninitiative und Selbstverantwortung im Quartier.“ Mithilfe des Initialkapitals sollen Orte geschaffen werden, an denen sich Menschen dauerhaft engagieren können – unabhängig und über die ersten Impulse hinaus.
BOB Campus soll in das Viertel hinein wirken
Am BOB Campus fand sich bereits während der Planungs- und Bauzeit eine Gruppe sogenannter „BOB-Botschafter:innen“ zusammen. Sie leben in der unmittelbaren Nachbarschaft und bringen verschiedenste Ausbildungen, Familiengeschichten und Erfahrungen mit Flucht und Ankunft ein. Gemeinsam gestalten sie ein auf Nachhaltigkeit ausgelegtes Programm und sind Ansprechpersonen für die Menschen im Viertel. „Die Projektgesellschaft steht an ihrer Seite und fungiert als gemeinwohlorientierte Vermieterin, Verwalterin und Mitgestalterin“, unterstreicht Johanna Debik.
Der Campus muss jetzt beweisen, dass er einen echten Mehrwert für die Menschen im Viertel bieten kann. Johanna Debik will dauerhaft eine „soziale Rendite für die Gemeinwesenarbeit im Stadtteil“ sichern. Ende 2023 soll das Gebäudeensemble voll vermietet sein. Ab 2024 möchte das Team vor Ort Überschüsse generieren. Langfristig soll das Projekt auf eigenen Beinen stehen.
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So funktioniert das Prinzip „Initialkapital“
Auf der Suche nach neuen Projektstandorten fasst die Montag Stiftung Urbane Räume vor allem benachteiligte Stadtteile ins Auge. Ist ein Projektort gefunden, unterbreitet sie den Eigentümern ein Angebot: Sie übernimmt das Grundstück im Erbbaurecht und investiert in Ausbau und Renovierung des Gebäudes. Der Deal lautet: Die Stiftung schafft ein gemeinnütziges Projekt, im Gegenzug verzichten die Eigentümer auf die Erhebung des Erbbauzinses, solange das Projekt gemeinnützig bleibt. Sie werden so zu Partnern – und selbst zu Stifterinnen.
Mit der Samtweberei in Krefeld zeigte die Montag Stiftung bereits, wie das Prinzip des „Initialkapitals“ erfolgreich umgesetzt werden kann. In Halle (Saale) wurden mit dem Bürgerpark FreiFeld öffentliche Freiräume für die Vernetzung der örtlichen Akteure entwickelt. Und in der Bochumer KoFabrik entstanden Büros und Ateliers, kleine Werk- und Produktionsstätten, ein Nachbarschaftscafé und eine kleine Quartiershalle als Ort für nachbarschaftliche Projekte, Kultur und Begegnung. 2020 wurde das fünfte Projekt, das Honswerk in Remscheid, gestartet. 2022 folgte das ehemalige Gold-Zack-Werk in der Wuppertaler Nordstadt.
Weitere Beiträge finden Sie auch gesammelt in unserem Schwerpunkt Nachhaltig.
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