Was verstehen Sie unter Transformation, dem Motto des DAT 23?
Konkret brauchen wir im Bausektor eine Transformation des Bestandes. Heutzutage kommt immer noch schnell die Abrissbirne zum Einsatz. Damit zerstören wir wertvolle Bausubstanz. Der Bestand ist aber Teil der Baukultur und bietet unglaubliche Potenziale. Das sollten wir nicht negieren, sondern das, was da ist, an unsere Lebensbedingungen anpassen.
Wo stehen wir beim Thema Kreislaufgerechtigkeit?
Wir müssen differenzieren zwischen Wiederverwenden und Wiederverwerten. Das sind zwei Konzepte, mit denen wir versuchen, gegen den wahnwitzigen Abbruch zu handeln. Wiederverwerten bringt immer eine stoffliche Zerstörung mit sich. Zusätzlich brauchen wir Energie, um ein neues, meist weniger wertvolles Material aus dem alten herzustellen. Und das werden wir uns mit Blick aufs CO2-Budget nicht mehr leisten können. Beim Wiederverwenden wird das Bauteil in derselben Qualität wieder eingebaut. Aber wir müssen Gebäude als Ganzes langfristig halten.
Sie sind seit zehn Jahren im Architekturbüro ZRS, haben dort die Forschungsabteilung etabliert und mehrere große EU-Forschungsprojekte umgesetzt. Wie hat sich die Resonanz darauf verändert?
Unser Mitgründer Eike Roswag-Klinge wurde in den 2000ern ausgelacht, wenn er Gebäude aus Naturbaustoffen vorgestellt hat. Sie hatten damals eine andere Architekturästhetik, die mit der Moderne kollidiert ist. Auch war Lehm ein Baustoff mit einem Arme-Leute-Image. Durch die industrielle Herstellung der Baustoffe sind Stroh, Lehm und Holz erst mal in den Hintergrund getreten. Als EU-Projekte mit Lehm noch die absolute Ausnahme waren, habe ich mal Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf einem großen Lehmbaukongress getroffen. Sie haben damals Förderanträge geschrieben, in denen sie bewusst das Wort Lehm vermieden haben, weil sie wussten, dass sie damit nicht durchkommen. Jetzt, da es dem Beton an den Kragen geht, sprechen alle auf einmal von Produktoffenheit. Wir haben schon geforscht, bevor wir Fördermittel beantragt haben. Mit unseren großen EU-Forschungsprojekten, die über vier Jahre laufen, konnten wir das, was wir vorher gebaut hatten, auf ein wissenschaftliches Fundament stellen. Und wenn da ein EU-Siegel dran ist, belächelt es auch plötzlich keiner mehr.
Lehm ist widersprüchlich: einerseits für Arme, andererseits ist es teurer als konventionelle Materialien. Warum?
Die nötigen Zertifikate und Nachweise wie für Schallschutz oder Brandschutz liegen bei den industriellen Baustoffen vor. Die Marktführer und Großkonzerne haben seit Jahren da viel Geld investiert. Beim Lehmbau stehen die monetären Ressourcen nicht zur Verfügung, um die Zertifizierung voranzutreiben. Aber auch heute gilt: Wenn wir alle Kosten einpreisen würden, wäre das Bauen mit Lehm nicht unbedingt teurer. Wir können im Lehmbau zum Beispiel auf komplizierte Technik verzichten, das spart Kosten bei Planung und Einbau sowie die Wartungskosten. Diese werden aber nicht zusammengezogen. Genauso wenig wie Umweltfolgekosten. Daher muss man das ganz genau berechnen, bevor man zu dem Schluss kommt, dass konventionelles Bauen günstiger sein soll.
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Bis zum 30. Juni gilt noch der „Early-Bird-Preis“ für den DAT 23. Anmeldung, Programminfos auf dat23.de
Das ganze Gespräch mit Andrea Klinge als Podcast finden Sie bei uns auf DABonline
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Diese offene Debatte ist wichtig und richtig. Ich freue mich, dass wir einem Systemwandel näher kommen, auch weil ein „mehr Technik und Dämmstoffe“ offen einem „Einfach Bauen“ gegenüber gestellt werden kann. Vor allem nach dem Statement von Bundesbauministerin Geywitz Mitte Mai: „Es gibt ja viele Verbände, mit denen ich extrem gut zusammenarbeite. Der Verband der Dämmstoffindustrie gehört eindeutig nicht dazu.“
Wir freuen uns auf die Diskussionen mit Prof. Eike Roswag-Klinge am 12.09.2023 beim 2. Nachhaltigkeit-Symposium der Bauwirtschaft in Berlin.