Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Offen für neue Wege“ im Deutschen Architektenblatt 09.2023 erschienen.
Architekturwettbewerbe sind eine wichtige Grundlage baukultureller Qualität und ein Trittbrett für den beruflichen Werdegang – der Satz klingt gut und wird von vielen so oder ähnlich auch nach wie vor formuliert. Tatsächlich aber sind die Hürden für Wettbewerbe für den Nachwuchs heute in der Regel zu hoch. Die Klagen unter den Jüngeren sind verbreitet. Wer kann zu Beginn seiner Laufbahn schon auf die realisierten Schulen, Sportstätten, Museen etc. verweisen, die oft als Zugangsvoraussetzung gefordert werden?
Immer weniger offene Wettbewerbe
Hinzu kommt, dass seit einigen Jahren sowohl die Zahl der Wettbewerbe insgesamt als auch die Zahl der „offen“ ausgeschriebenen Wettbewerbe rückläufig ist. Von 2012 bis 2022 ging laut competitionline der Anteil von Wettbewerben an allen architektenrelevanten Ausschreibungen von circa 30 Prozent auf unter sechs Prozent zurück. Waren davon 2018 noch zehn bis elf Prozent offen ausgeschrieben, sank der Anteil offener Wettbewerbe im Jahr 2022 auf gut fünf Prozent.
Laut den Jahreslisten von wettbewerbe aktuell wurden bundesweit beispielsweise im letzten Jahr gerade einmal 27 offene Wettbewerbe veröffentlicht. Dass angesichts einer oft hohen Teilnehmerzahl, vergleichsweise geringeren Chancen und einem hohen Aufwand die Attraktivität der Wettbewerbe zurückgeht, liegt auf der Hand.
Arbeitsort und kommunikativer Treff
Angesichts dieser Ausgangslage sind Auswege gesucht, Fantasie ist gefragt. Solche bewies die Fakultät Architektur der TU Braunschweig, die die Situation kurzerhand in die eigene Hand nahm und einen ungewöhnlichen Weg der Nachwuchsförderung beschritt. Für ihr im Juni offiziell eröffnetes „Studierendenhaus“ schrieb sie einen Wettbewerb aus – unter ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern.
Das ursprünglich als reiner Zeichensaal der architektonischen Fakultät gedachte Haus wird seit Anfang des Jahres von Studierenden aller Fakultäten als Arbeitsort und kommunikativer Treff genutzt. Der allseits als zukunftsweisend gehandelte Bau hat bereits überregional viel Lob erhalten.
Von allen Seiten zugängliche Halle
Der architektonische Ansatz und die Spezifik des Verfahrens könnten sich in diesem Fall bis zu einem gewissen Grad gegenseitig bedingt haben. Vielleicht sind innovative architektonische Lösungen für den Nachwuchs tatsächlich eher denjenigen Urhebern zuzutrauen, die in ihrer Lebenssituation noch nahe an den praktischen Bedürfnissen der Studierenden „dran“ sind?
Denn als Ergebnis steht nun im Zentrum des Campus eine luftige, von allen Seiten aus zugängliche Halle, die auf 1.000 Quadratmetern rund 160 Studierenden als Arbeits- und Aufenthaltsraum dient. Nicht zuletzt soll dieser offene Raum, diese „poröse Landschaft“, die Idee vom hierarchiefreien Studieren signalisieren.
Lehrstuhl organisiert Uni-internen Wettbewerb
Federführend begleitete den Wettbewerb der mittlerweile verabschiedete Volker Staab, Professor für Entwerfen und Raumkomposition in Braunschweig. Doch wie kommt man auf so einen ungewöhnlichen Weg? „Für größere Büros wie zum Beispiel unseres war das Projekt eigentlich zu klein, für die Studierenden wiederum wäre die Aufgabenstellung zu kompliziert gewesen“, erklärt Volker Staab. Also schnitt er das Verfahren auf Assistenten und Assistentinnen zu, die sich mit befristeten Arbeitsverträgen in einer Zwischenstellung befinden, deren Know-how aber gute Lösungen verspricht.
Volker Staab erzählt, wie sich das Projekt peu à peu entwickelte: „Das Ganze startete mit einem minimalen Budget für einen provisorischen Zeichensaal. Die Organisation eines offenen Wettbewerbs hätte die finanziellen Ressourcen bereits für das Wettbewerbsverfahren aufgebraucht. So konnte mein Institut die Betreuung dieses Verfahrens ohne zusätzliche Kosten übernehmen.“
Studierendenhaus für 5,2 Mio Euro
Rund 20 Architektur-„Wimis“ nahmen teil. Sie führten damit gewissermaßen eine Braunschweiger Tradition fort, denn hier sind einige Hochschulbauten aus dem Kreis der Lehrenden entstanden. Früher waren dies allerdings Professoren wie Roland Ostertag oder Walter Henn. Diesmal hingegen saß die Professorenschaft in der Jury – und entschied sich für den Entwurf von Gustav Düsing und Max Hacke, der von vornherein auf Multifunktionalität des Gebäudes ausgelegt war. Die Bauleitung übernahmen als Kooperationspartner (LPH 6–9) iwb Ingenieure aus Brauschweig, die mit dem Campus nach dem Bau eines Wohnheims bereits vertraut waren. Am Ende beliefen sich die Gesamtkosten auf 5,2 Millionen Euro.
Professionalisierung und Bürogründung
„Für uns hat sich mit diesem Projekt ein Hebel umgelegt“, sagt Gustav Düsing. Für ihn wie für seinen Kollegen Max Hacke, beide Anfang 30, hat sich mit dem Braunschweiger Projekt einiges verändert. Beide haben im Anschluss eigene Büros in Berlin gegründet, sie kooperieren von Fall zu Fall miteinander und haben mit dem Studienhaus im Rücken seitdem weitere Wettbewerbe gewinnen können; Gustav Düsing erst vor Kurzem den für die Residenz des deutschen Botschafters in Tel Aviv.
Interessantere Architektur dank Expertenjury
„Das Verfahren in Braunschweig war eine absolute Ausnahme. Denn generell ist die Situation so, dass man im Grunde nirgendwo reinkommt, und bei den offenen Wettbewerben nehmen manchmal 80 oder mehr Kollegen teil, sodass die Chancen minimal sind!“, resümiert Gustav Düsing. Und Max Hacke betont als weiteren Vorteil des Verfahrens: „Bei den meisten Wettbewerben sind die Jurys nur zum Teil mit Experten besetzt; Sachverständige, Politiker oder Bürgermeister nehmen teil, die nicht in erster Linie die architektonischen Qualitäten berücksichtigen. Hier aber bestand die Jury vollständig aus der Professorenschaft der Fakultät.“ Das verspreche eher interessante innovative Lösungen, so Max Hacke.
Experimentalraum für den Alltag
Ob man das Prozedere verallgemeinern kann, wäre zu fragen. Volker Staab meint, für kleinere Projekte wie das in Braunschweig biete sich so ein Verfahren eigentlich gut an. Das bauliche Ergebnis überzeugt jedenfalls: Das Studierendenhaus setzt die Prinzipien Leichtigkeit, Flexibilität und ökologische Nachhaltigkeit in seltener Entschiedenheit um.
Von den Architekten wird der Raum, in dem gearbeitet, diskutiert, aber auch gefrühstückt und gechillt wird, im Gespräch als ein Experimentalraum verstanden, der den Nutzern in seiner exakten Bespielung bis zu einem gewissen Grad überlassen werden soll. Das Angebot nehmen diese gerne an: Nach Auskunft der Beteiligten ist die Halle stets gut besucht. Hier scheint ein nicht ganz alltägliches Verfahren also zu einem Erfolg für den Alltag geführt zu haben.
Das Studierendenhaus und seine Konstruktion
Das zweigeschossige, voll verglaste Gebäude ist um einen ausgesteiften Gebäudekern für Café und sanitäre Anlagen herum in Stahl-Holz-Hybridbauweise ausgeführt. Ein modulares Raster von drei mal drei Metern bildet die Grundlage, die konstruktiven Elemente bestehen aus quadratischen Stahlhohlprofilen mit zehn Zentimetern Querschnitt. Ebenso wie die Fassaden und die Deckenelemente wurden sie miteinander verschraubt, was die spätere Demontage und eine Neukonfiguration an anderer Stelle erlaubt.
Das Haus folgt insofern der Grundidee zirkulären Bauens. Die Materialsparsamkeit setzt sich im Inneren fort, wo zum Teil Vorhänge die Vortragsräume voneinander trennen und die Tische je nach Bedarf zusammengestellt werden können. Für zusätzlichen Schallschutz sorgen Teppiche und abgehängte hölzerne Akustikdecken. Zur Verschattung dient der drei Meter tiefe Laubengang mit Vordach und Balkonen. Über Kippfenster und eine zentrale Oberlichtkuppel wird das Gebäude natürlich be- und entlüftet.
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