Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Quartiere inklusiv gestalten“ im Deutschen Architektenblatt 10.2023 erschienen.
Hier geht es direkt zum zweiten Projekt: Barrierefreie Neugestaltung der Altstadt von Blomberg
Von Christoph Gunßer
Um nicht nur Gebäude, sondern auch Stadtquartiere auf die Bedürfnisse behinderter Menschen hin zu gestalten, bedarf es der Beteiligung zahlreicher Interessengruppen an der Planung. Viele Kommunen haben zwar inzwischen Richtlinien für die barrierefreie Gestaltung öffentlicher Räume. Dennoch gilt es, gestalterische Spielräume zu nutzen, um allen Menschen die Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Das belegen zwei in diesem Frühjahr auf den Regionalkonferenzen in Essen und Bremen präsentierte Quartiere.
Ellener Hof in Bremen: ökologisch und inklusiv
Auf gut zehn Hektar in Bremen-Osterholz entsteht der neue Ellener Hof als sozial-ökologisches Stadtquartier. Es handelt sich um das stadtnahe, aber stark durchgrünte Gelände einer ehemaligen Jugendhilfeeinrichtung, die der Bremer Heimstiftung zur sozialen Weiternutzung übertragen wurde. Das Konzept für das „urbane Dorf“ aus rund 500 Wohnungen für alle Zielgruppen, Kita sowie Gemeinschafts- und Pflegeeinrichtungen ging 2016 aus einem städtebaulichen Wettbewerb hervor, den das Architekturbüro De Zwarte Hond und RMP Stephan Lenzen Landschaftsarchitekten gewannen. Um die vorhandenen, bereits von der Heimstiftung und anderen sozialen Trägern umgenutzten Gebäude herum entsteht auf fünfzehn Baufeldern ein überwiegend dreigeschossiges, locker bebautes Quartier.
Neubauten für soziale Zwecke
In einem kooperativen Workshop-Verfahren mit vier Planungsbüros wurde zu Beginn ein Planungshandbuch für die Neubauten entwickelt. So sollen die Gebäude zu mindestens siebzig Prozent aus Holz errichtet werden. Erste Häuser wurden bereits von auf das ökologische Bauen spezialisierten Büros realisiert, zum Beispiel von ZRS Ziegert Roswag Seiler aus Berlin. Auch ein siebenstöckiges Wohnheim für Studierende von Atelier PK, ebenfalls aus Berlin, ist fertiggestellt. Ein ehemaliges Bauernhaus wurde von Kammler + Partner aus Bremen zu acht inklusiven Apartments für Suchtgeschädigte umgebaut. In einem Neubaubereich lebt das schmale „Bremer Haus“, eine bewährte Stadthaustypologie, wieder auf.
Barrierefreie Wohnungen im Quartier verteilt
Einige der in Erbpacht vergebenen Grundstücke wurden oder werden noch von Baugemeinschaften beplant, wie überhaupt Partizipation im Quartier großgeschrieben wird, was auch an der architektonischen Vielfalt ablesbar ist, die mancher Architekt vielleicht als zu chaotisch empfindet. Doch im ökologischen Kern halten sich alle an die Vorgaben des Planungshandbuches.
Barrierefrei ist ein Großteil der Wohnungen im Ellener Hof. Der Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses von Atelier PK aus Berlin direkt am Eingang ins Quartier erreicht dies über großzügige Laubengänge in den Obergeschossen. Gleich um die Ecke gibt es im Ensemble von omp Architekten zumindest im Erdgeschoss vier rollstuhlgerechte Wohnungen. Und sogar im bereits erwähnten Studierendenturm Holzbude gibt es einige barrierefreie und rollstuhlgerechte Einheiten. Mitten im Quartier steht als großes Giebelhaus das integrative Gästehaus Maribondo, ein neuer Holzbau von Martin Kahrs Architekten aus Bremen, in dem die Gäste von behinderten Menschen versorgt werden.
Ein inklusives Dorf ohne Zäune
Auch für die Räume dazwischen, die nach dem Bau in städtische Regie übergehen, gelten mit der Bremer Richtlinie für öffentliche Räume sowie nationalen und internationalen Standards fortschrittliche Vorgaben für die Barrierefreiheit.
Das gesamte Gebiet ist „durchlässig“ angelegt; es wird keine Zäune zwischen den Grundstücken geben. „Man kann durch das gesamte Gebiet durchlaufen“, sagt Landschaftsarchitekt Christoph Theiling vom Bremer Planungsbüro p+t, der die Entwicklung gemeinsam mit der Bremer Heimstiftung koordiniert. Dafür führen „informelle Wege“ auch über Privatgrund.
Rauer Randstreifen ist taktil erfahrbar
Die Straßenräume des als autoarm deklarierten Viertels – der Stellplatzschlüssel beträgt 0,6 und 20 Prozent Anteil im öffentlichen Raum – werden durchweg in Beton-Kleinpflaster mit taktilen rauen Randstreifen ausgeführt, es gibt keine separaten Radwege. An den Kreuzungen werden die Gehwege nach Möglichkeit DIN-konform einmal niveaugleich für Rollstuhlfahrende und einmal mit einem drei Zentimeter hohen Bordstein ausgeführt, was Sehbehinderten eine bessere Orientierung gibt. „Es gibt immer den Widerstreit zwischen der taktilen Erfahrbarkeit und der leichten Berollbarkeit“, erläutert Koordinator Christoph Theiling.
Beleuchtung reagiert auf Passanten
Mit der zentralen Kultur-Aula, einem inklusiven Gästehaus, sowie einem Gemeinschaftsgarten im Nordwesten des Gebietes befinden sich einige Treffpunkte im Quartier, die barrierefrei gestaltet sind. Im Garten sind mit dem Rollstuhl unterfahrbare Hochbeete zum Beackern vorgesehen. Die LED-Beleuchtung im Quartier ist WLAN-gesteuert und reagiert kaum merklich, wenn sich Passanten nähern.
So kann man beim neuen Ellener Hof in vielem von einem Pilotprojekt sprechen. Planer Christoph Theiling hätte sich zwar noch mehr öffentliche Räume für die Begegnung gewünscht, doch bremsten hier die später für die Pflege dieser Räume zuständigen Ämter. Indes: Das inklusive Partizipationsverfahren des schnell entstandenen Quartiers soll in den nächsten Jahren auch im öffentlichen Raum komplett sein.
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Altstadt von Blomberg: öffentlicher Raum für alle
Die ostwestfälische Kleinstadt Blomberg im lippischen Bergland hat eine markante Altstadt mit einem interessanten Gefüge von Plätzen und Freiräumen, das auch häufiges Ziel von Bustouristen ist. Der gesamte Stadtraum wurde vor ein paar Jahren auf Basis eines landschaftsarchitektonischen Wettbewerbs von scape Landschaftsarchitekten aus Düsseldorf neu gestaltet. Dabei galt der barrierefreien Ausführung das besondere Augenmerk.
Übersichtliche Verkehrsführung, weniger Parkplätze
Das Team um scape-Partner Matthias Funk ordnete zunächst die Verkehrsführung neu. „Die bestehenden Oberflächen waren alt und es gab viele Schäden. Die Fahrflächen waren zu groß, der Verkehr ungeordnet, viele Bereiche zugeparkt“, erläutert er die Situation, die insbesondere für Menschen, die in ihrer Mobilität oder Sehfähigkeit eingeschränkt sind, sehr unübersichtlich wirkte. Behinderten Menschen standen zudem viele Kübel und Bänke im Weg.
Eine neue asphaltierte Fahrspur, breit genug für die Stadtbuslinie und Tourbusse, quert die Altstadt jetzt ohne störende Bordsteine, nur durch Rinnen vom roten und grauen Betonsteinpflaster der übrigen Flächen abgesetzt. Am Pideritplatz gibt es nun einen „Empfangsraum“ für Bustouristen.
Stadtmöbel zusammengefasst
Sitzgelegenheiten, Abfalleimer und dergleichen wurden im Stadtraum zu „Infrastrukturbändern“ zusammengefasst, die auch farblich hervorgehoben sind. Die Fassaden der historischen Gebäude wurden als Landmarken freigestellt. Die Kfz-Stellplätze sind nun klar gefasst und in ihrer Zahl reduziert worden. „Es gab viel zu viele Parkplätze. Das war den Leuten gar nicht bewusst“, sagt Matthias Funk.
Innenstädte wichtig für das Stadtleben
Als Planer merkten sie, dass die Kommunen das Stadtleben heute deutlich höher bewerten als früher, erzählt Matthias Funk. Die Mitte werde stärker als Dienstleistungszentrum und Erlebnisraum für die Bürger erkannt. „Man agiert nicht mehr so handelszentriert wie früher.“
Darum sei auch die Bürgerschaft öfter bereit, auf eine direkte Anfahrbarkeit ihrer Ziele zu verzichten. Die Haltung „Ich und mein Auto“ sei inzwischen seltener, so Matthias Funk. Zu der neuen Sichtweise auf die Qualität der Nahwelt habe sicher auch die Pandemie beigetragen. Gerade in kleineren Städten könne man als Planer so gestalterische Lösungen aus einem Guss finden, die überzeugten.
Freie Sicht für bessere Orientierung
Die freiere Sicht auf die markanten Fassaden und die klarere Gliederung der Freiräume erleichtere auch Sehbehinderten die Orientierung im Stadtraum. Auf spezielle Leitlinien für diese Zielgruppe habe man deshalb verzichtet, erläutert der Planer. „Das machen wir nur an besonders frequentierten Orten wie Bahnhöfen.“ In der Altstadt lasse man sich ja mehr treiben und habe keinen klaren Zielort. Für die Freistellung mussten zwar einzelne Bäume weichen, doch es wurden deutlich mehr Bäume neu gepflanzt als entfernt.
Gebäude weitgehend ebenerdig erreichbar
Das öffentliche Standesamt am Martiniturm bekam eine neue barrierefreie Erschließung; hier gibt es jetzt einen bequemen Hublift. Wo nur wenige Stufen den Zugang verstellten, modellierten die Planer den öffentlichen Raum so, dass die Gebäude nun ebenerdig erreichbar sind.
Den Brunnen auf dem Marktplatz – ein wichtiger Orientierungs- und Treffpunkt bei Stadtführungen – integrierte man in den neuen einheitlichen „Stadtboden“ und machte ihn durch eine gestalterisch verwandte Erweiterung auch für Kinder und Rollstuhlfahrende erlebbar.
1,3 Mio Euro für barrierefreien Stadtumbau
Bei der Beleuchtung verzichtete man auf spezielle Show-Effekte wie Bodenstrahler und sorgte durch schlichte Stelen für die gleichmäßige Ausleuchtung des Stadtraums von oben, was die Menschen erkennbar macht und sowohl die Orientierung als auch das Sicherheitsempfinden verbessert.
Im Burggarten und im angrenzenden Schweigegarten ermöglichte der Plan der Landschaftsarchitekten mithilfe von neuem, glatterem Wegebelag und Rampen, dass nun auch Rollstuhlfahrer hierhergelangen und über die Stadtmauer in die reizvolle lippische Landschaft blicken können.
Das alles sind keine spektakulären Eingriffe – der Umbau kostete seinerzeit ganze 1,3 Millionen Euro –, doch in der Summe ist ein gestalterisch stimmiges inklusives Ensemble entstanden, das nach Auskunft des Planers auch „viel besser funktioniert“.
Christoph Gunßer ist freier Fachautor für Architekturthemen in Bartenstein (Baden-Württemberg)
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