Homogenität kostet weniger Energie als Heterogenität. Schließlich muss man sich bei letzterem mit dem Ungewohnten und womöglich Störendem auseinandersetzen. Idealerweise streben wir als Gesellschaft aber doch eigentlich nach Begegnung, Toleranz und Zusammenhalt – oder nicht? Die Segregation in Deutschland wächst und in Wahlprognosen wird zunehmend sichtbar, wie Politik der Aus- und Abgrenzung an Zustimmung gewinnt. In dem Willen dagegen zu halten, ist es in Architektur und Stadtplanung en Vogue Gemeinschaftsflächen einzuplanen. Ist dies das fehlende Element, das Gemeinschaft ermöglichen wird, oder versucht man hier Gemeinschaft zu erzwingen? Der Stadtforscher Sebastian Bührig hält diese architektonische Reaktion für nicht weit genug gedacht.
„Das Zusammenspiel von Nähe und Distanz wird oft nicht richtig verstanden, ist mein Eindruck – besonders bei Projekten, die sehr ambitioniert Gemeinschaft durch Gemeinschaftsflächen herstellen wollen. Häufig bleiben diese Orte weitgehend ungenutzt“, erläutert Sebastian Bührig. „Eigentlich braucht es nicht viel, wenn die Menschen sich ohnehin mögen, damit sich eine Gemeinschaft bildet. Und wenn sie sich nicht mögen, bringt auch eine noch so schön gestaltete Gemeinschaftsfläche wenig.“
Gemeinschaft? Findet man im Dazwischen
Wenn nun infrage steht, ob Gemeinschaftsflächen zu mehr Gemeinschaft führen – was denn dann? Sebastian Bührig würde nun vom Dazwischen erzählen, von den Momenten und den Stellen, an denen die individuellen Grenzen der Menschen sich berühren. Zum Beispiel würde er eine schmucklose Box erwähnen, 1m x 2m x 2m groß. Wenn man das Haus verlassen will, muss man sich hier für mehr oder weniger eine halbe Minute reinstellen und in Kauf nehmen, dass auch andere Menschen gleichzeitig mit in der Box stehen.
Die Zeit, die man hier mehr oder weniger freiwillig miteinander verbringt, reicht: um sich zu grüßen, vielleicht kurz zu fragen, ob es der anderen Person gut geht. Nach einem schnellen „Ach muss ja“ und beidseitigem Nicken geht man getrennter Wege. Diesen Ort, den Aufzug eines Wohnhochhauses, hat Sebastian Bührig in seiner Forschung als „Raum des Dazwischen“ identifiziert.
„Im Fahrstuhl kreuzen sich die Lebenswelten. Eine Übung im Aushalten des Anderen, bei der man sich nahbar werden kann. Unter den richtigen Voraussetzungen ist der Aufzug ein guter Ort, um ins Gespräch zu kommen“, so Sebastian Bührig. „Für eine kurze Unterhaltung müssen sich die Bewohnerinnen und Bewohner nicht extra Zeit nehmen – im Fahrstuhl trifft man sich in der Zwischenzeit.“
Soziologie kommt in der Architekturlehre zu kurz
Der Blick auf das Alltägliche und die Kleinigkeiten des nachbarschaftlichen Über-, Unter-, Neben-, Mit- und Gegeneinanders sind dem Forscher ein wichtiges Anliegen. In der oben zitierten Forschungsarbeit entwickelt Sebastian Bührig die Forschungsmethode der einmischenden Beobachtung und wendet sie in zwei Berliner Hochhäusern an. Eine Woche stellt er sich als Concierge in eines der Gebäude und eine Woche schließt er sich den Hausmeistern des anderen Hauses an. Seine Beobachtungen und Gespräche geben eine wissenschaftliche Perspektive auf den Zustand der Hausgemeinschaften.
Im architektonischen Diskurs vermisst er eine stärkere Auseinandersetzung mit soziologischen Betrachtungen. Eine Besserung ist nicht in Sicht, denn Land auf Land ab werden Professuren für Architektursoziologie eingespart. „Es ist wichtig sich mit der handfesten Realität menschlichen Miteinanders, also auch von Konflikten auseinanderzusetzen und damit, wie sich das organisieren und moderieren lässt“, betont Sebastian Bührig. Bleibe das aus, fehlten die Grundlagen für nachbarschaftliche Gemeinschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt in unseren Städten und Häusern.
Großstädtische Freiheit
Damit das großstädtische Leben friedfertig von statten geht, muss eine zentrale Herausforderung überwunden werden: „Betrachten wir die Menschheitsgeschichte, so haben wir allen Grund zur Annahme, dass der Mensch die Berührung durch das Fremde fürchtet.“ Nicht jeden Menschen können wir kennenlernen, um unsere Zurückhaltung abzulegen. Der Idealzustand, großstädtischen Miteinanders lautet nach Sebastian Bührig darum: „In Frieden fremd sein – ohne es zu Müssen.“ Ein gewisses Maß an Anonymität kann in diesem Sinne etwas durchaus Angenehmes sein. Wer nicht dem ungefragten und mitunter belastendem Urteil seines Umfeldes ausgesetzt ist, kann sich freier entfalten. Wer jedoch in Anonymität ertrinkt, wird auch nicht glücklich. Es braucht also ein behutsames Zusammenspiel von sozialräumlicher Abgrenzung und Überschneidung.
„In den Aufzügen forderten viele Bewohnerinnen und Bewohner das Grüßen ein – dann war aber auch gut, dann ließ man sich in Ruhe“, berichtet Sebastian Bührig. „Darüber hinaus kann man engere Bekanntschaften in großen Häusern selbst samplen und eine eigene Playlist zusammenstellen, wen man in seine persönliche Nachbarschaft einbinden will. Wenn solche Wahlnachbarschaften entstehen, ist die großstädtische Freiheit besonders gut realisiert.“ Ein gutes Zeichen für nachbarschaftliche Gemeinschaft ist übrigens der Austausch von Schlüsseln: Durch dieses Öffnen der persönlichen Grenze wird unter den Bewohner:innen oder gegenüber den Hausmeister:innen gegenseitig Vertrauen zugesprochen und angenommen.
Hier steht eine ausführliche Rezension von Sebastian Bührigs Buch „Grenzen des Miteinanders“.
Lorenz Hahnheiser hat sein Bachelor-Architektur Studium an der Leibniz Universität Hannover abgeschlossen, nutzt die Zeit vor dem Master für erste Bauerfahrungen und engagiert sich bei der Nachwuchsorganisation nexture+.
Die Nachwuchs-Kolumnen des DAB schreibt ein junges Team, weitere Autor:innen sind Johanna Lentzkow, Fabian P. Dahinten und Luisa Richter.
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