Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Liebe auf den zweiten Blick“ im Deutschen Architektenblatt 01-02.2024 erschienen.
Von Christoph Gunßer
Es gab Zeiten, da schämten sich die Böblinger für ihre Innenstadt. Besucher holten sie lieber an benachbarten Haltestellen ab, denn rund um den Böblinger Bahnhof war es einfach zu hässlich. Die nach der Kriegszerstörung allzu rasch und autogerecht wiederaufgebaute große Kreisstadt südwestlich von Stuttgart belegt wieder einmal, dass Geld allein auch Städte nicht glücklich macht.
Noch heute lässt das hier angesiedelte Automobil- und Hightech-Cluster die Steuereinnahmen sprudeln. Der Landkreis Böblingen rangiert da bundesweit auf Platz 3. Doch allein „der Daimler“ beschert auch 40.000 Einpendler täglich, die die Straßen verstopfen. Erstickt da eine Region am eigenen Erfolg?
Weniger Autos, weniger Shopping in Böblingen
Christine Kraayvanger, Mitte 50, kennt das Böblingen von früher gut. Vom Stuttgarter Westen, wo sie aufgewachsen ist, fuhr sie oft mit dem Bus und später mit der S-Bahn nach Böblingen, denn dort gab es die erste Shopping-Mall, großzügige Anlagen und ein quirliges Künstlerviertel – „das fand ich damals super“, sagt sie.
Heute, nach ihrem Architekturstudium in Stuttgart und einigen Jahren in der Calwer Bauverwaltung, schlägt sie sich als Böblinger Baubürgermeisterin mit dem Abriss derselben Shopping-Mall herum. „Diese großen Volumen sind in einer fußläufig gut vernetzten Innenstadt so unangebunden nicht mehr menschengerecht“, ist sie überzeugt.
Mix aus Gewerbe und Wohnen
Und sie antwortet auf die Anforderungen aus der Bürgerschaft, Einkaufsmöglichkeiten und Atmosphäre in der Innenstadt zu schaffen: 2014 und 2015 weihte sie die Bahnhofstraße als granitgepflasterte Fußgängerzone und das neue Einkaufszentrum Mercaden ein. Die schicke „neue Meile“ stimmte sie in Planungsworkshops auch mit Jugendlichen ab, wie sie mal eine war.
Ringsum wachsen seither neue, durchaus auch große Bauten, in denen sich aber Gewerbe und Wohnen mischen sollen – ein Stadtumbau am offenen Herzen. Auf dem Postareal vis-à-vis vom Bahnhof ist ein Komplex in Planung, der im Wettbewerbsergebnis sogar kleinteilige Produktion und Clusterwohnungen integriert. Der bis zu 20-stöckige neue Hochpunkt der Böblinger Unterstadt ist ein Projekt der Böblinger Baugesellschaft und der IBA ’27 in der Stadtregion Stuttgart und beinhaltet das Konzept, Material des Vorgängerbaus, des alten Postgebäudes, nachhaltig zu recyceln. Ansonsten wird leider häufig abgerissen. „Vieles an der Nachkriegssubstanz ist oft nicht mehr zu retten“, bedauert die Baudezernentin.
Flugfeld Böblingen: Konversion im großen Stil
Flächenrecycling indes hat Böblingen gerade im großen Stil betrieben: Der ehemalige Landesflugplatz gleich hinter dem Bahnhof wurde seit Anfang der Nullerjahre zum Quartier „Flugfeld“. Gemeinsam mit der Nachbarstadt Sindelfingen entwickelte man hier auf rund 80 Hektar ein gemischtes neues Stadtviertel, das in den kommenden Jahren mit der Eröffnung des neuen Zentralklinikums einen weiteren Meilenstein in der Aufsiedlung erreichen wird. Ein großer See in der Mitte wird von den begrünten Dächern der umliegenden Neubauten gespeist – eine der ersten „Schwammstadt“-Planungen im Lande.
Neue Stadtviertel plant man heute anders
Trotzdem würde Christine Kraayvanger hier aus heutiger Sicht manches anders gestalten, etwa die Straßenräume für alle Verkehrsteilnehmenden optimieren oder zugunsten des Klimas mehr Bäume integrieren. Die realisierten flächendeckenden Tiefgaragen hingegen wären in der Lage hinterm Bahnhof eigentlich nicht nötig, da sie unnötig Verkehr erzeugen (beim erwähnten Postareal senkte man darum den Stellplatzschlüssel auf 0,5).
Auch bei der Gewerbe-Ansiedlung würde man heute mehr auf inhaltliche Ausrichtung und Ziele achten und Flächen aufsparen. Doch damals, zur Zeit der Finanzkrise, sahen die Prognosen für Böblingen noch eine Schrumpfung der Einwohnerzahl. Stattdessen ist die Stadt im letzten Jahrzehnt nochmals um rund 6.000 Einwohner auf heute 53.000 gewachsen – von denen immerhin, rein statistisch, 4.000 auf dem Flugfeld Platz finden.
Neue Planungen für Böblingen
Durch das Flugfeld verschob sich Böblingens Stadtmitte nach Westen, was Kraayvangers forcierten Umbau des Bahnhofsquartiers Unterstadt zusätzlich rechtfertigt. Aber auch am Stadtrand gibt es Konversions-Baustellen: Auf einer Anhöhe im Wald, wo die IBM ihr Entwicklungszentrum räumt, will ein privater Investor Baden-Württembergs größtes Holzbauquartier errichten. Das durch den neuen Bau auf dem Flugfeld bald überflüssige Kreiskrankenhaus soll zu einem neuen, gemischten Quartier umgebaut werden.
Die Hulb, ein großes Gewerbegebiet an der Autobahn, muss durch Straßenraumumgestaltungen und Anpassungen der Nutzungen menschengerechter gemacht werden, ist Kraayvanger überzeugt. Und auch in der winzigen Altstadt gibt es Arbeit: Dort soll der Schlossberg mit verschiedenen Maßnahmen aufgewertet werden sowie ein Neubau für eine Musik- und Kunstschule und ein Platz für Kinder und Jugendliche entstehen.
Vorbildliche Planungskultur in Böblingen
Eigentlich alle maßgeblichen Bauvorhaben lässt die engagierte Verwaltungsspitze durch gründliche Planungsprozesse abstützen: Masterpläne helfen, die Ziele zu definieren, Wettbewerbe sorgen für eine innovative Gestaltung (nicht selten durch junge Büros), auch wenn sie für das Baudezernat mit seinen insgesamt 160 Mitarbeitern durchaus aufwendig sind. Die Baubürgermeisterin selbst pflegt dabei den Kontakt sowohl zum Stadtrat als auch direkt zur Bürgerschaft.
Aus den Fraktionen wie aus der Lokalpresse hört man nur lobende Worte für Christine Kraayvanger. „Sie ist sehr engagiert, es passiert wahnsinnig viel in Böblingen. Und man nimmt es ihr ab, wenn sie von ‚unserer‘ Stadt spricht“, sagt etwa Dirk Hamann von der Lokalzeitung.
Klar gibt es auch Rückschläge: Ein Lärmaktionsplan, der unter anderem Tempo 30 in weiten Teilen des Stadtgebiets vorsah, wird im Gemeinderat kritisch gesehen. Ein mit dem Regierungspräsidium abgestimmtes Mobilitätskonzept für die immer noch riesigen Pendlerströme geht im autoaffinen Ländle nur langsam vorwärts. „Da herrschen Gewohnheiten und Prägungen vor, die schwer zu ändern sind“, kommentiert Kraayvanger.
Baurecht als Steuerungsinstrument
Auf Führungen erlebt sie aber auch Kritik an der Gestaltung im Einzelnen: Der „Treff am See“ beispielsweise, aus ihrer Sicht ein „geniales Wettbewerbsergebnis“ von Zach + Zünd Architekten, wird da schon mal als „hässlicher Kasten“ bezeichnet. „Es muss nicht jeder alles schön finden. Da geht auch eine Spannung raus“, sagt Christine Kraayvanger dazu. „Wir sind, bedingt durch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, nun mal leider keine kuschelige Fachwerkstadt. In Böblingen verliebt man sich erst auf den zweiten Blick.“
Einen Gestaltungsbeirat, wie zum Beispiel die Nachbarstadt Sindelfingen einen hat, hält die Baubürgermeisterin aktuell nicht für notwendig. Christine Kraayvanger versucht die Qualität über Planungen bei der Schaffung von Baurecht zu steuern: „Man muss selbst hinstehen und die Qualität beurteilen und begründen“, ist ihr Motto. Und das tut sie. Uneitel, doch bestimmt, wie es ihre Art ist, spricht Christine Kraayvanger vom „roten Faden, den eine Stadt in ihrer Entwicklung braucht“ – und den sie weiterspinnt.
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