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Zurück Urteil des EuGH

Harmonisierte Normen müssen kostenlos zugänglich sein

Nach einem Urteil des EuGH müssen Normen kostenlos zugänglich sein – zumindest solche, die europaweit harmonisiert sind. Was bedeutet das für die Arbeit von Architekten und für die Normung insgesamt?

29.04.20247 Min. 6 Kommentar schreiben

Von Jens Hackl

Am 5. März 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein wegweisendes Urteil erlassen und entschieden, dass die Europäische Kommission freien und kostenlosen Zugang zu harmonisierten Normen gewähren muss. Damit steht das europäische Normungssystem vor einer vollständigen Neuordnung.

Was sind harmonisierte Normen?

Harmonisierte Normen sind technische Spezifikationen, die von einer der drei europäischen Normungsorganisationen im Auftrag der Europäischen Kommission erstellt werden. Die drei europäischen Normungsorganisationen sind:

  • das Comité Européen de Normalisation Electrotechnique (CENELEC, zuständig für den Bereich Elektrotechnik)
  • das European Telecommunications Standards Institute (ETSI, zuständig für den Bereich Information und Kommunikation)
  • das European Committee for Standardization (CEN, zuständig für die meisten anderen Sektoren).

Harmonisierte Normen enthalten in der Regel wichtige Sicherheitsanforderungen zum Schutz der Bevölkerung vor fehlerhaften Produkten (wie zum Beispiel bei Spielzeug oder anderen Gebrauchsgütern), aber auch Sicherheitsanforderungen etwa bei Baumaterialien und Baustoffen. Allein im Geltungsbereich der Bauproduktenverordnung (EU-Verordnung Nr. 305/2011) gibt es mehrere Hundert harmonisierte Normen, die zum Beispiel beim Deutschen Institut für Bautechnik als Liste abrufbar sind.

EU-Recht stellt nur grundlegende Anforderungen

Rechtlich bedeutend sind harmonisierte Normen deshalb, weil das verbindliche EU-Recht (also Verordnungen oder Richtlinien) häufig nur relativ abstrakt einige „grundlegende Anforderungen“ an Produkte (wie zum Beispiel Baumaterialien) stellen. Es heißt dann beispielsweise im EU-Recht: Die Baumaterialien dürfen nicht entflammbar sein, oder sie dürfen bei bestimmungsgemäßem oder vorhersehbarem Gebrauch die Sicherheit oder Gesundheit der Benutzer oder Dritter nicht gefährden. Insoweit bleibt für Hersteller oder Planer aber unklar, wie diese „grundlegenden Anforderungen“ konkret erfüllt werden können.

Harmonisierte Normen regeln die Details

Hier kommen die harmonisierten Normen ins Spiel. Die Kommission beauftragt hierzu eine der drei europäischen Normungsorganisationen, die dann – in Abstimmung mit und unter Aufsicht der Kommission – die Details in der harmonisierten Norm festlegt. Dort wird dann beispielsweise geregelt, wann ein Produkt als nicht entflammbar gilt. Wenn eine harmonisierte Norm final ist, wird ein Hinweis darauf im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Der Inhalt der harmonisierten Norm selbst wird aber nach derzeitiger Praxis nicht frei zugänglich gemacht.

Die nationalen Normungsorganisationen (also zum Beispiel das DIN in Deutschland) müssen die harmonisierten Normen dann innerhalb von sechs Monaten als nationale Standards (also in der Landessprache) veröffentlichen. Sie übernehmen ebenfalls den Vertrieb (also die Lizenzierung) der harmonisierten Normen. Hersteller oder Planer können beziehungsweise müssen die Normwerke in gedruckter oder digitaler Form gegen ein teilweise nicht unerhebliches Entgelt von den nationalen Organisationen erwerben.

In rechtlicher Hinsicht wird mit der Veröffentlichung der Referenz der harmonisierten Norm vermutet, dass Produkte, die die jeweilige harmonisierte Norm erfüllen, den Regelungen des zugrunde liegenden EU-Rechts entsprechen. Ohne Kenntnis der harmonisierten Normen wissen Anwender aber nicht, welche konkreten Anforderungen das EU-Recht an bestimmte Produkte stellt.

Klage: wichtige Normen müssen kostenlos zugänglich sein

Die Entscheidung des EuGH betraf eine Klage von zwei gemeinnützigen Organisationen (Public.Resource.Org, Inc. und Right to Know CLG), die das Ziel verfolgen, Gesetzeswerke für alle Bürger frei und kostenlos zugänglich zu machen. Die Kläger hatten von der Kommission exemplarisch auf Basis des europäischen Informationsfreiheitsgesetzes (EU-Verordnung Nr. 1049/2001) Zugang zu vier verschiedenen harmonisierten Normen beantragt, die chemisches Spielzeug und chemische Experimentierkästen betrafen.

Die EU-Kommission verweigerte den Zugang im Januar 2019 mit der Begründung, die angefragten harmonisierten Normen seien durch das Urheberrecht der Normierungsorganisationen geschützt und daher könne kein Zugang gewährt werden. Die dagegen gerichtete Nichtigkeitsklage wurde im Juli 2021 vom Gericht erster Instanz abgewiesen (Rechtssache T-185/19).

EuGH-Entscheidung: harmonisierte Normen sind Teil des EU-Rechts

Am 5. März 2024 hob die Große Kammer des EuGH das Urteil des Gerichts auf (Rechtssache C-588/21 P) und entschied, dass die Kommission den beantragten Zugang zu den vier harmonisierten Normen gewähren muss. Der EuGH führte aus, dass harmonisierte Normen wegen ihrer rechtlichen Wirkungen (Vermutung der Einhaltung der „grundlegenden Anforderungen“ aus dem EU-Recht, siehe oben) selbst Teil des EU-Rechts sind.

Insbesondere das Rechtsstaatsprinzip, auf dem die EU beruht und das „einen freien Zugang zum Unionsrecht für alle natürlichen und juristischen Personen sowie die Möglichkeit für den Einzelnen verlangt, seine Rechte und Pflichten eindeutig erkennen zu können“, erfordere es, dass harmonisierte Standards frei zugänglich sein müssen. Insoweit bestünde ein „überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung“ und damit Anspruch auf freien Zugang zu den harmonisierten Normen.

Welche Auswirkungen hat das EuGH-Urteil auf die Normen?

Das EuGH-Urteil hat große Auswirkungen weit über den konkreten Streitfall hinaus. Zwar hat der EuGH nur über die vier harmonisierten Normen entschieden, die die Kläger beantragt hatten. Die Ausführungen des EuGH sind aber genereller Natur und führen in der Praxis dazu, dass alle Bürger nunmehr bei der Kommission harmonisierte Normen anfragen können und die Kommission diese herausgeben muss. Denn der EuGH sieht hier insbesondere aufgrund des Rechtsstaatsprinzips ein generell überwiegendes Interesse am Zugang.

Harmonisierte Normen auf Anfrage kostenlos

So muss beispielsweise ein Architekt, der eine bestimmte harmonisierte Norm für die Planung benötigt, diese nicht mehr bei der DIN gegen Entgelt erwerben. Vielmehr kann er jetzt direkt den freien und kostenlosen Zugang von der EU-Kommission verlangen. Das kann über eine bereits existierende EU-Website zur Dokumenteneinsicht geschehen oder per E-Mail an Sg-Acc-Doc@ec.europa.eu.

Prognose: Zugang zu harmonisierten Normen wird leichter

Da zu erwarten ist, dass die Kommission zukünftig mit einer Vielzahl derartiger Zugangsanfragen konfrontiert sein wird und die Bearbeitung einige Zeit in Anspruch nehmen kann, spricht viel dafür, dass das europäische Normungssystem vollständig neu geordnet werden muss. Begrüßenswert wäre es insoweit, wenn die Kommission proaktiv Zugang zu den harmonisierten Normen gewährt und diese im Amtsblatt veröffentlicht.

Auch nationale DIN-Normen kostenlos zugänglich?

Wie ausgeführt, gilt das EuGH-Urteil für harmonisierte Normen, die von einer der drei europäischen Normungsorganisationen erstellt wurden. Das Urteil hat somit keine direkten Auswirkungen auf andere, rein nationale Normen, die beispielsweise eigenständig vom DIN in Deutschland erlassen werden. Das Urteil dürfte aber zumindest Relevanz für solche nationalen Normen haben, auf die in deutschen Gesetzesregelungen – ähnlich wie im EU-Recht – verwiesen wird (zum Beispiel in Bebauungsplänen).

Auch dabei geht es um den freien Zugang zum Recht und es könnten ebenfalls bei den jeweils zuständigen Gesetzgebern (also zum Beispiel den Gemeinden bei Bebauungsplänen) Anträge auf Zugang zu den in Bezug genommenen DIN-Normen gestellt werden. Es ist allerdings nach derzeitigem Stand davon auszugehen, dass diese Anträge abgelehnt werden und wohl gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen werden müsste. Daher dürfte das momentan kein praktikabler Weg sein, um Zugang zu den rein nationalen DIN-Normen zu erhalten.

Es ist also auch hier an den Gesetzgeber zu appellieren, sich mit der Problematik zu befassen und den freien Zugang zu DIN-Normen zu gewährleisten, wenn diese in gesetzlichen Regelungen in Bezug genommen werden.

Fehlende Einnahmen für die Normungsorganisationen?

Einige Autoren kritisieren den EuGH und behaupten, die europäische Normung werde durch das Urteil geschwächt, weil sich die Normungsorganisationen nun nicht mehr refinanzieren könnten (siehe zum Beispiel hier). Doch dieses alte Argument kann nicht überzeugen. Die Behauptung, wonach die Normungsorganisationen die Entgelte vom Verkauf der harmonisierten Normen für ihre Finanzierung benötigen, konnten die Normungsorganisationen zu keinem Zeitpunkt im Gerichtsverfahren mit Zahlen untermauern.

Nach den Stellungnahmen insbesondere in der mündlichen Verhandlung stellen die harmonisierten Normen nur eine Minderheit der von den Normierungsorganisationen insgesamt ausgearbeiteten Normen dar. Die Verkäufe der harmonisierten Normen stehen nur für circa 4,6 Prozent des Normungsbudgets, was etwa zwei Millionen Euro pro Jahr ausmacht. Demgegenüber finanziert die Kommission alleine das CEN mit etwa 20 Prozent des Gesamtbudgets vgl. dazu die Schlussanträge der Generalanwältin).

Von einer Schwächung der Normungsorganisationen kann daher keine Rede sein. Das Urteil beendet vielmehr die Praxis, rechtlich relevante Vorschriften wie die harmonisierten Normen hinter einer „Paywall“ zu schützen und Bürgern den freien Zugang zum EU-Recht zu verweigern. Der Tag der EuGH-Entscheidung war damit ein guter Tag für alle Bürger und den Rechtsstaat!

Dr. Jens Hackl ist Rechtsanwalt bei Morrison & Foerster LLP in Berlin und hat die Kläger vor dem EuGH vertreten.

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6 Gedanken zu „Harmonisierte Normen müssen kostenlos zugänglich sein

  1. Ein gutes Urteil und hoffentlich nur ein Anfang. Im Bauwesen müssen die Planer Vorschriften für über 10.000 Euro kaufen oder über Verträge mit dem DIN Verlag Beuth „mieten“, um eine rechtssichere Planung abzugeben. Die Kostenpflicht bedeutet, dass das DIN (ein privatwirtschaftlich organisierter Verein), damit Geld verdient, ständig neue und geänderte Normen zu veröffentlichen. Die Seitenzahl bestimmt dabei maßgeblich den Preis. Wen wundert also diese Flut von neuen Vorschriften.
    Der kostenlose Zugang zu den in Gesetzen und Vorschriften in Bezug genommenen DIN-Normen wäre eine Stellschraube zur langfristigen Kostensenkung nicht nur im Bauwesen.

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      • DIN ist privatwirtschaftlich organisiert und hat den Status eines eingetragenen Vereins. Im Jahr 2022 etwa hat der Verein einen Bilanzgewinn von 42 Mio Euro ausgewiesen bei einem Vermögen von etwas über 100 Mio Euro. Dem standen zwar auch Verbindlichkeiten gegenüber, aber das ist ganz normal. Also nicht wirklich gemeinnützig im landläufigen Sinne.

        Antworten
  2. DIN Normen müssen endlich kostenlos einsehbar sein. Ich habe das Problem mit DIN 14676 Rauchmelder in Haus mit Zentralklimaanlage (privat).
    Abgesehen davon, dass vieles im DIN Schwachsinn ist, möchte ich mich bei meinen Aktionen doch an die DIN zumindest anlehnen.
    Da DIN eine Empfehlung ist, kann ich das mit gutem Gewissen, anders wie bei der früheren TGL.

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  3. Gesetze müssen eingehalten werden und die müssen öffenltich zugänglich gemacht werden. Wenn ein Verein/Organisation/Unternehmen einfach so Regeln aufsetzen kann mit denen man strafrechtlich belangt wird, müssen sie öffentlich zugänglich gemacht werden! Sonst kann man sich nicht informieren und bekommt eine Geldstrafe, weil man kein Geld ausgegeben hat, um sich zu schützen.
    Für mich paradox und unerhört

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  4. Es ist schon befremdlich, das für 493,- € eine DIN EN ISO 16484-5 vertrieben wird, welche nicht mit dem Stand der EN ISO 16484-5:2022 im Einklang steht. Um so mehr, als das die EN ISO 16484-5:2022 eine Umsetzung als nationale Norm bis April 2023 forderte. Was aus dem „EU-konformen“ Entwurf der DIN EN ISO 16484-5:2022-10 geworden ist, ist für mich unklar….

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