Roland Stimpel, Katharina Hodes
Warum entstehen so viele Türme? „Aus Raumnot wird kein Hochhaus gebaut“, weiß der Siegener Architekt und langjährige Hochschullehrer UIf Jonak. Der holländische Kritiker Aaron Betsky erklärt es mit nur zwei Motiven: hohen Bodenpreisen und Egomanie. Wobei es sich mit den Bodenpreisen wie mit Henne und Ei verhält: Man weiß am Ende nie, ob zuerst der Grund teuer oder der Höhendrang stark war. Bruno Flierl liefert in seinem Buch „100 Jahre Hochhäuser“ eine Erklärung, die in jeder Turmdebatte vorkommt: „Es ist im Grunde Phalluskult.“ Aber Hochhäuser entstehen auch aus ehrenwerteren, eher städtebaulichen Motiven: An gut erschlossenen Orten sollen Bauflächen konzentriert, in einer zu flachen Welt sollen Orientierungszeichen gesetzt und Leuten wenigstens ab und zu ein Überblick ermöglicht werden.
Richtig hohe Hochhäuser – nicht die achtstöckigen Türmchen knapp überm Maß der deutschen Feuerwehrleiter – sind wirtschaftlich immer ein Luxus. Was man unten am Baugrund spart, gibt man oben mehrfach wieder aus. Bruno Flierl schätzt, dass der Preis pro Quadratmeter Nutzfläche sich ab der 100. Etage verdoppelt. Aber Hochhäuser sind auch die auffälligste Art, Luxus zu zeigen, ob zwecks sexueller oder anderer Angeberei, als Herrschaftsgeste oder von Wettkampfehrgeiz getrieben. Zuletzt tobte eine innerasiatische Ost-West-Konkurrenz, die den Bau der höchsten Häuser zum Pokerspiel machte: Dubai und Shanghai ließen sich nicht in die Karten gucken, wie hoch ihr Topturm werden sollte. Wer zuletzt noch einen Royal Flush mit ein paar Metern drauflegen kann, hat gewonnen.
Jedenfalls vorläufig. Im vergleichsweise langsamen 20. Jahrhundert hielt der Hochhausweltrekord des Empire State Buildings mehr als 40 Jahre, der des Sears Towers in Chicago noch 30. Kuala Lumpur und Taipeh waren nur für wenige Jahre Weltspitze. In der nächsten Pokerrunde genießt der Weltrekordler sein Glück vielleicht nur ein paar Tage, bis ein anderer seine Teleskopantenne ein Stück höher ausfährt. Doch durch die exponentiell wachsenden Kosten und Risiken dämpft der Rekordhöhendrang sich selbst. Umso wichtiger wird jetzt eine einzigartige Form. Es ist wie bei einem bestimmten Typ pubertierender Jungmänner: Da sie keine zwei Meter groß sind, tragen sie die teuerste oder schrillste Jacke spazieren – auch aus Trotz gegenüber den Bauspießern früherer Generationen mit ihren eckigen grauen Anzügen.
Den Eiffelturm übertrumpfen
Einschlägige Architekten schneidern die schrillen Kleider. Norman Foster plant in Paris zwei 323-Meter-Türme an der Seine namens Hermitage Plaza mit dreieckigem Grundriss, die sich zur Basis verjüngen und so den physikalischen Gesetzen zu trotzen scheinen. Laut Eigendarstellung „bilden sie ein unverkennbares Sym-bol der neuen urbanen Destination der Pariser Skyline“. Das Grellste in Peking ist Rem Koolhaas’ Fernsehsender-Doppelturmhimmelsknickdrehbrücke. Wen interessiert noch, ob so ein Bau auch zum Fernsehmachen taugt?
Der „ambitionierteste Komplex zeitgenössischer Architektur“ hingegen wird in Bangkok stehen, wenn es nach Kohlhaas’ Büropartner Ole Scheeren geht. Sein 300 Meter hoher „Mahanakhon“ wirkt von Weitem, als sei er in einen Pixelsturm geraten. Aus der Nähe entpuppt sich das aparte Muster, das sich spiralförmig um den sonst glatten Turm zieht, als Ansammlung von Vorsprüngen und Balkons. In Dubai plant David Fisher den 420 Meter hohen „Rotating Tower“, dessen 80 Etagen sich auf mündlichen Befehl der Bewohner hin unabhängig voneinander um den Erschließungskern drehen und so der Fassade immer neue Formen verleihen.Ein Pionier der aktuellen Turmverformung steht ausgerechnet in einer der nüchternsten Weltregionen: in Skandinavien. Dort baute Santiago Calatrava im Hafen von Malmö seinen „Rotating Tower“.
Er rotiert zwar nicht, sondern hat seine recht gleichförmigen 40 Etagen in der immer gleichen Richtung ein wenig versetzt. Das galt bei der Verleihung des Internationalen Hochhauspreises 2006 noch als „ungewöhnliche Dynamik“ und wies den „Weg zu einem neuen Formenreichtum im Hochhausbau“. Aber rasch wirkte er konventionell und beherrscht. Hochhaus-Renderings zeigen seitdem Zitterrochen, Flaschenöffner, Flügelmonster, Knicklatten, Schnabeltiere, wild besteckte Schaschlikspieße, Riesenknickmännchen (siehe Beitrag rechts), Beulengurken statt gerader Gurken und oben geöffnete Vierkantbananen. Bei der formalen Enthemmung helfen Entwurfscomputer kräftig. Noch vor neun Jahren versuchte Ulf Jonak eine Hochhaustypologie mit klassischen Formen wie Säule, Obelisk, Kiste und Zwilling. Jetzt ist nichts mehr zu typisieren, außer allgemeinem Grotesktanz.
Das brave Deutschland hält sich ziemlich zurück. Am auffälligsten ist das früher konservative Hamburg mit zwei „Tanzenden Türmen“ von Bothe Richter Teherani an der Reeperbahn und dem relativ wenig aus der geraden Form geratenen „Marco Polo Tower“ von Stefan Behnisch in der Hafencity – ein später, abgerundeter Nachfolger des kantigen Stahl-Glas-Bauklotzturms, den das Büro 1997 für die Norddeutsche Landesbank in Hannover baute. Der Neue hat bescheidene 16 Etagen und beherbergt Luxuswohnungen bis 340 Quadratmeter Größe.Ein Teil der wilderen und höheren Projekte in anderen Ländern ist der Finanzkrise zum Opfer gefallen, mindestens vorerst. Und obwohl die Welt sich aus der Krise allmählich herausarbeitet, scheint der Drang zur angestrengten Form schon wieder abzuflauen. Man baut heute nachhaltig, und längst nicht zu jeder schrägen Gestalt lässt sich ein Ökovorwand finden. Neue Schlichtheit deutet sich an. Werden die Hochhausbauer etwa erwachsen?