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Kulturstadt und Stadtkultur

Eine Route durch Kassel auf Documenta-Spuren, mit neuen und alten Quartieren sowie einem wortwörtlichen Höhepunkt.

01.05.20099 Min. Kommentar schreiben
Das umgebaute Theaterarchiv mit direktem Brückenzugang

Nils Hille

Der Start gelingt. Thomas Fischer vom Atelier 30 Architekten hat als Ausgangspunkt für die Führung durch Kassel nicht aus Eitelkeit sein Büro ausgewählt, das er gemeinsam mit Ole Creutzig leitet. Von dem umgebauten Theaterarchiv zeigt er durch die großen Fensterscheiben auf die Fulda, die direkt daran vorbeifließt, und auf eine Fußgängerbrücke, die durch das Gebäude hindurch über den Fluss führt. Über diese Konstruktion, die ebenfalls von seinem Büro stammt, führen Fischers erste Schritte des Stadtrundgangs. Sie verbindet Kassels Innenstadt mit der Unterneustadt und steht symbolisch für die Reaktivierung dieses Stadtteils, der nach seiner Kriegszerstörung 50 Jahre lang brachlag. Nach Workshops und Wettbewerben startete im Sommer 1994 der Neuaufbau.

15 Jahre danach steht das Projekt kurz vor dem Abschluss. „Hier ist wieder ein zusammenhängendes Stück Stadt entstanden“, sagt Fischer und präsentiert das Gebiet mit seinem reaktivierten Stadtgrundriss sowie Wohn- und Gewerbebauten in unterschiedlichen Größen und Ausführungen, die aber ein stimmiges Gesamtbild ergeben. „Auch das Restaurant ‚Karls‘ direkt an der Fulda trägt zum Wohlfühlen bei“, ergänzt er (siehe „Kulinarisch“).

Reaktiviert: Gebäude des neu aufgebauten Stadtteils Unterneustadt. Die Fußgängerbrücke verbindet das Gebiet mit der Innenstadt.

Fischer geht zurück über die Brückenkonstruktion und verweist auf eine Lichtkunstinstallation des Documenta-8-Künstlers K. Katase. 90 Meter Stahlseil überspannen den Fluss, in der Mitte hängt eine Lichtskulptur, die „nachts blau leuchtet und sich bei Wind wie ein Mobile einpendelt“. Der Architekt führt am eigenen Büro vorbei und bis zum Anfang der gepflasterten Sackgasse. Hier an der Ecke zur breiten, lauten Brüderstraße steht die Alte Brüderkirche aus dem 14. Jahrhundert, die Fischer nun aufschließt. Im Inneren lässt sich leicht erkennen, dass Kassels ältestes Gotteshaus seinem ursprünglichen Zweck nicht mehr dient: Die Kirche ist komplett leer geräumt. Nur drei Holzeinbauten, ebenfalls vom Atelier 30, dienen als Empfang, Theke, Küche und Sanitäranlage.

„Wir haben einen Dialog mit der Gotik versucht, ohne den Hauptraum in seiner Wirkung zu zerstören“, erklärt Fischer. Das Konzept der Umnutzung scheint zu funktionieren. Firmen feiern hier ihre Betriebsfeste, Privatleute Hochzeiten und Geburtstage. Und im November werden die Kasseler Musiktage den Klangraum nutzen (siehe „Erlebenswert“). „So können die Sanierungskosten der Kirche getragen werden“, rechnet Fischer vor.

Versteckte Kulinarik

Gegenüber der Brüderkirche liegt die Markthalle, die wir nach Überquerung der vierspurigen Straße erreichen. Der ursprüngliche Marstall von Hans und Hieronymus Müller aus dem Jahre 1593 hat Volutengiebel und Bruchsteinwände im Stil der Weserrenaissance. Die Kriegsbomben machten daraus eine Ruine, die 1964 im Inneren völlig, im Äußeren leicht verändert wiederaufgebaut wurde. Nolte-Plaßmann-Reese, Bieling & Bieling und Hans-Georg Ohlmeier waren daran beteiligt. „Hier drin treffen sich heutzutage vor allem samstags die Kasseler an den vielen kleinen Ständen“, erklärt Fischer und führt weiter, vorbei an etlichen 50er-Jahre-Bauten. Dabei erzählt er von der inhabergeführten Gastronomie, die Kassel zu bieten hat.

„Diese Lokale haben ihren besonderen Charme, doch der Außenstehende findet sie so leicht gar nicht“, sagt er und bietet auf dem Weg zur nächsten Station mit dem „Il Teatro“ gleich eine dieser Möglichkeiten (siehe „Kulinarisch“). „Hier treffen sich die Schauspieler nach ihrem Auftritt im Staatstheater.“ Passend dazu erklärt er sein wichtigstes Anliegen, wie Kassel von außen wahrgenommen werden sollte: „Was hier wirklich lebt, ist Kunst und Kultur. Wir haben die dritthöchste Museumsdichte Deutschlands. Allein deswegen lohnt ein Besuch.“ Und selbst die Documenta, Kassels bekannteste Kulturveranstaltung im Fünfjahresrhythmus, kann der Besucher auch zwischendurch ein Stück weit erleben. Das wenig bekannte, aber öffentlich zugängliche Documenta-Archiv lädt zum Stöbern ein. Es beherbergt die Akten und Materialien der Organisatoren sowie den Nachlass des Gründers Arnold Bode. Ergänzend dazu gibt es eine Spezialbibliothek für die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts und eine Sammlung von 160 Kunstzeitschriften (siehe „Kulturell“).

Links das Treppenhaus der AOK, rechts Holzeinbauten in der Brüderkirche

Vorbei an der klassizistischen Kunsthalle Fridericianum von Simon Louis du Ry geht Fischer wieder in Richtung Fulda. Auf dem Weg liegen weitere Kultureinrichtungen: das Staatstheater von Paul Bode und die Documenta-Halle von Jourdan & Müller PAS von 1992 „mit einer sehr guten Lage am Hang zur Karlsaue, aber einem sehr ungünstigen Grundriss“, kommentiert Fischer. So finden hier nicht, wie ursprünglich geplant, Ausstellungen der Documenta statt, sondern das Gebäude dient vor allem als Infopunkt und Internetcafé während der Veranstaltung.

Der Architekt biegt auf den Weg „Schöne Aussicht“ oberhalb der Aue ein. Nach einigen Schritten stoppt er und geht wieder zurück. „Das muss ich doch zeigen! Hier lohnt ein Blick in das Gebäude der AOK.“ Vor dem 1957 entstandenen Bau von Konrad Proll zeigt Fischer auf das verglaste Treppenhaus. Drinnen sieht man steinerne Stufen und aufwendig gearbeitete Handläufe. Er geht hinein und läuft die Treppe hinauf, um sie aus allen Perspektiven zu fotografieren. Als er wieder unten erscheint, erklärt er euphorisch: „Das ist genial gebaut, mit so viel Raum drumherum. Damit formuliert man auch eine Adresse.“ Das sahen andere Gestalter ebenso und nutzten das Treppenhaus schon als Ausstellungsort der Documenta.

Uni im Grünen

Draußen verfolgt Fischer wieder seinen eigentlich geplanten Weg entlang der „Schönen Aussicht“. Hier liegen auch das Brüder-Grimm-Museum und die Neue Galerie (siehe „Kulturell“). Doch der Architekt geht am Rande der immer breiter werdenden Karlsaue weiter. Sein Ziel ist ein Standort der Universität. In bester grüner Lage liegt die Kunsthochschule Kassel, die 1777 als Kunstakademie gegründet wurde. Das Gebäude in Stahlskelettbauweise stammt allerdings aus den 1960er-Jahren, geplant von Paul Friedrich Posenenske. Innen wirkt es roh und in die Jahre gekommen. „Es altert in Würde. Das ist für mich große Architektur. Ein gelungener Wurf in Gegensatzstellung zu dem Park“, erklärt Fischer begeistert. Er zeigt die Laubengänge, die zu den Projekt­räumen führen, und schwärmt weiter: „Das hat noch Kraft, so raff, wie es ist. Hier passt alles zusammen.“

Naturnah: „Haus Maarit“, einer von fünf Bauten aus dem internationalen Studentenprojekt „Kasbah“.

Ebenso zufrieden ist er mit „Kasbah“, einem Projekt der Kunsthochschulen Kassel, Basel und Helsinki. Studenten der drei Einrichtungen kamen im Sommer 2006 zusammen. Sie entwickelten aus Würfeln mit einer Kantenlänge von sechs Metern Häuser mit Möbeln. In den fünf Bauten übernachteten im Jahr darauf Gäste der Documenta. „Haus Liane“ aus verschraubten Brettstapeln und „Haus Maarit“ im Holzhüttenstil stehen heute noch direkt neben dem Hochschulgebäude. „Besonders die zwei Bänke und der Tisch vom Haus Liane sind gelungen. Man kann sie innen nutzen, aber auch durch die Wand nach draußen schieben“, meint Fischer und ergänzt: „Die Stadt profitiert immer wieder von der Kunst, die an verschiedenen Stellen verweilt.

“Er selbst bleibt nicht stehen, sondern geht an der Karlsaue zurück in Richtung seines Büros. Schon von Weitem zeigt sich die Orangerie. Das Barockschloss wurde von Johann Conrad Giesler Anfang des 18. Jahrhunderts erbaut. Landgraf Carl nutzte die Orangerie als Sommerresidenz, im Winter standen die Kübelpflanzen darin. Nach starken Zerstörungen im Krieg wurde erst 1981 zur Bundesgartenschau die Fassade rekonstruiert. Danach folgte der komplette Wiederaufbau.

Das Barockschloss an der Karlsaue, seit 1981 wiederaufgebaut

Neue Wege beschreiten

Etwas außerhalb liegen die zwei letzten Stationen der Stadtführung. Deshalb steuert Fischer die Rothenbergsiedlung von Otto Haesler aus dem Jahre 1930 mit seinem Auto an. Der bekannte Vertreter des Neuen Bauens konnte zwar nur 216 von geplanten 2 500 Wohnungen realisieren, wozu noch im gleichen Jahr 160 weitere Einheiten von lokalen Architekten dazukamen. Trotzdem gilt die Siedlung als „wegweisend im sozialen Wohnungsbau“, wie Stadtführer Fischer erklärt. Mittlerweile hat die örtliche Wohnungsbaugesellschaft GWG die Häuser saniert.

Nur eine Einheit nicht. Sie ist eingerichtet wie damals und dient als Museum.
Wie aus früheren Zeiten wirkt auch das Waschhaus, das immer noch genutzt wird. Vor allem die obere Etage versprüht historisches Flair. Hier zieht Fischer an einer überdimensionalen horizontalen Schublade eines Trockenschranks. Darin sind Wäschestücke aufgehängt, die durch Zirkulation warmer Luft schnell ihre Feuchtigkeit verlieren. Und einen Raum weiter hängen unter dem undurchsichtigen Glasdach Wäscheleinen – in etlichen Parzellen, die durch raumhohe Gitterzäune und -türen voneinander getrennt sind. Da im Gang dazwischen auch noch einfache Holzstühle stehen, erinnert die Atmosphäre an ein Gefängnis.

Präsent: Eingang zum Schloss Wilhelmshöhe, das mit Park und Herkulesdenkmal über der Stadt thront.

Ein Gefühl von Freiheit und Großzügigkeit kann Fischer dagegen zum Abschluss seiner Tour präsentieren. Er fährt einmal quer durch die Stadt und dann bergauf zur Wilhelmshöhe. Ganz oben steht hier das Wahrzeichen Kassels: der Herkules, eine Kupferstatue des antiken Herakles, an der Spitze einer Pyramide, die wiederum auf einem Oktogon steht. Heute wird das gesamte Bauwerk nach Entwürfen des Italieners Giovanni Francesco Guerniero als Herkules bezeichnet. Ein Stück tiefer, auf der Achse hinunter in die Stadt, steht das Schloss Wilhelmshöhe.

Das monumentale Gebäude, eingebettet in einen großen englischen Landschaftsgarten, entstand ab 1786 in mehreren Stufen. Erste Entwicklungen stammen von Landgraf Wilhelm IX. Zuletzt organisierte im Jahr 2000 Stephan Braunfels die Ausstellungsräume neu; schon zuvor hatte es zahlreiche Neu- und Umbauten gegeben. Fischer betritt die international bedeutende Ausstellung mit der Gemäldegalerie Alte Meister und der Antikensammlung. Von den Fenstern des Museums aus zeigt er den „wunderbaren Blick“ über seine kulturreiche Stadt.

 

Entspannend

Ramada Hotel Kassel City Centre Viersternehotel in zentraler Lage mit besonderem Panoramablick von der Dachterrasse.

Schlosshotel Wilhelmshöhe Direkt gegenüber dem Schloss. Nach Plänen von Paul Bode mit dem Charme der 1950er-Jahre gebaut.

Stadthotel Kassel Mitten in Kassel und trotzdem in ruhiger Lage. Mit 50er-Jahre-Suite als besondere Übernachtungsmöglichkeit.

Erlebenswert

Kasseler Musiktage Mit 76 Jahren eines der ältesten europäischen Musikfestivals. Ende Oktober bis Ende November mit zahlreichen Orchestern und Ensembles.

Kulturzelt Internationale Livebands von Ende Juni bis Anfang August im Zelt an der Kleinen Fulda.

Schlosspark Wilhelmshöhe Im Stil eines englischen Landschaftsgartens angelegter größter Bergpark Europas.

Kulinarisch

Restaurant Karls Italienische Küche und sehr gute Weine. Direkt an der Fulda in der Unterneustadt.

Il Teatro Kleines italienisches Restaurant mit persönlicher Bedienung. Treffpunkt der Schauspieler.

Franco’s Im Jugendstilhaus im vorderen Westen der Stadt. Atmosphäre wie in einem großen gemütlichen Wohnzimmer.

Kulturell

Documenta–Archiv Einblicke in die Geschichte der größten Ausstellung von zeitgenössischer Kunst.

Brüder-Grimm-Museum Ausstellung zum Leben und Wirken der Brüder Grimm, die lange in Kassel gelebt haben. Ergänzt durch eine Kinder- und Jugendbüchersammlung.

Staatstheater Kassel Dreispartenhaus mit rund 30 Neu­inszenier­ungen pro Jahr. Anfang 2007 nach Sanierung wiedereröffnet.

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