Nils Hille
Schritt für Schritt, Stufe für Stufe geht sie die Treppen hinauf. Stattdessen mit dem Fahrstuhl fahren? Auf diese Idee käme Anja Stemshorn im Ulmer Stadthaus von Richard Meier gar nicht. „Es ist schließlich ‚das größte Treppenhaus in Ulm‘, wie die Einheimischen gerne augenzwinkernd zu der großzügigen Gestaltung sagen“, erklärt die Architektin, als sie im obersten Stock angekommen ist. Hier zeigt sich, wieso sie dieses Gebäude als Start ihrer persönlichen Städtetour ausgewählt hat.
Vom Stadthaus aus führt der Blick automatisch immer wieder durch die großen Glasflächen auf das Ulmer Münster – historische und moderne Architektur ergänzend statt störend direkt nebeneinander. Dieses besondere Bild bietet sich auch im Saal des Stadthauses. Hinter der Bühne befinden sich ebenfalls Scheiben, durch die die Zuschauer bei Konzerten und Vorträgen auf Ulms bekanntestes Bauwerk blicken können. Diese Kombination kommt an, wie Stemshorn begeistert erzählt: „Das Stadthaus ist, wie das Münster, eine wichtige Institution für die Ulmer.
Vor allem die Reihe mit moderner Musik ist sehr hochwertig.“ Mit den vielen Veranstaltungen stößt die Kulturstätte schon an ihre Kapazitätsgrenzen. Und die Ausstellungen im „Treppenhaus“ ziehen als kostenlos zugängliches Angebot weitere Besucher in das Gebäude. Momentan zeigt Richard Meier hier sein Portfolio (siehe „Erlebenswert“).
Treffendes Trio
Wieder treppab, raus aus dem Stadthaus und nur wenige Schritte weiter, präsentiert Stemshorn andere Gebäude der sogenannten „Neuen Mitte“ Ulms. Wo vorher Autos auf vier Spuren dominierten, sind nun vor allem die Fußgänger willkommen. Mehrere Workshops und drei Einzelwettbewerbe brachten ein Gebäudetrio zustande, das sich aus den Rathausarkaden und dem Münstertor von Stephan Braunfels sowie der Kunsthalle Weishaupt von Wolfram Wöhr zusammensetzt. „Das Münstertor gefällt mir am besten, da es sich gut in den Stadtraum fügt“, sagt die Architektin, während sie dieses Gebäude betritt und diesmal statt der Treppe den Aufzug ansteuert.
Nach kurzer Fahrt öffnet sich die Tür in der vierten Etage und mit dem Schritt hinaus tritt Stemshorn direkt in das gut bevölkerte Café Bellavista, was seinem Namen alle Ehre macht (siehe „Kulinarisch“). Auch hier bieten große Glasflächen den Blick auf das Münster, doch ebenso in andere Richtungen. Und der Weg auf die angrenzende Dachterrasse lohnt selbst an kalten Tagen: „Sie ist relativ hoch, mittendrin und bietet so eine der wenigen öffentlichen Möglichkeiten, den Ulmer Stadtkern von oben zu sehen“, sagt Stemshorn, während sie auf ihren Wohnort blickt.
Neben dem Besuch in der Höhe lohnt auch der Besuch ganz unten. 270 Meter lang erstreckt sich unter der Neuen Mitte eine Tiefgarage hin, die sich ohne Zweifel als Deutschlands schönste ihrer Art bezeichnen darf. Um sie ansprechend und licht zu gestalten, planten sie die Ulmer Büros Scherr + Klimke und Hochstrasser Architekten nicht nur mit dem stauferzeitliches Mauerwerk und einem breiten roten Gang, der wie ein Teppich zu den Fahrzeugen führt,. Auch eines der drei geplanten Parkdecks ließ die Stadt weg, damit die anderen beiden an Höhe gewinnen konnten. „Eine hochwertige Gestaltung, bei der aber zum Beispiel die Wände einfach roh gelassen wurden. Das wirkt und die Ulmer fühlen sich wohl und sicher“, sagt Stemshorn.
Im Tageslicht wieder angekommen, zeigt sie auf einen Stadtgarten, der anstelle eines Parkplatzes entstanden ist. Durch den Bau von Tiefgaragen konnten Ulm zahlreiche grüne Flecken bekommen, auf die Stemshorn immer wieder zwischen den weiteren Stationen ihrer Tour hinweist: „Sie sind in der Ausführung nicht unbedingt bis ins Detail gelungen, aber natürlich viel besser als die vorherige Nutzung.“
Von den Neuheiten der Stadt biegt die Architektin nun um die Ecke zu einer Ulmer Institution. Das Schwörhaus, ein Gebäude von 1613, dient einem besonderen Akt. „Jedes Jahr findet eine Schwörfeier statt. Hier muss der Bürgermeister vom Balkon herunter schwören, dass er zu jedem Bürger gleich gut ist“, erklärt Stemshorn. An allen anderen Tagen im Jahr lohnt der Weg hierher ebenfalls. Neben dem Stadtarchiv hat das „Haus der Stadtgeschichte“ seit anderthalb Jahren seinen Platz im Schwörhaus gefunden. Es zeigt die wichtigsten Ereignisse und Themen Ulms (siehe „Kulturell“).
Nur die Gondeln fehlen
Wieder draußen, geht Stemshorn ein paar Schritte bergab und bleibt auf einer kleinen Brücke stehen. Einen Hauch Venedig kann der Passant in dieser Ecke von Ulm erleben. Hier beginnt das Fischerviertel, ein mittelalterliches Handwerkergebiet an der Mündung der Blau in die Donau mit kleinen Brücken, malerischen Plätzen und historischen Häusern, aber auch Neu- und Umbauten direkt am Wasser.
Wie das „Schiefe Haus“, das Hausherr und Architekt Günter Altstetter zum Hotel umgebaut hat. Die Statik hat er dabei gesichert, dem Namen des Gebäudes aber trotzdem seinen Sinn erhalten. Versteckt liegt hier im Viertel auch die Ulmer Garnsiede, in einem alten Haus mit Stegen darin. „Für einen Besuch sollte man vorher bei der Stadt anfragen“, empfiehlt Stemshorn, während sie durch die verschlossene Glastür blickt.
Nun geht sie über kleine Brücken weiter zum Fischerplätzle, auf dem sich die Ulmer im Sommer zum traditionellen Stadtteilfest treffen. Von hier sind es nur noch wenige Schritte durch ein Tor der Stadtmauer von 1480, heute Promenade, zur Donau. Stemshorns Blick zeigt auf die andere, bayerische Seite des Ufers: „Wir sagen gerne lästernd: ‚Die Neu-Ulmer kehren der Donau und den Ulmern den Hintern zu‘, da die Stadt nicht zum Fluss ausgerichtet ist, sondern zum Beispiel der Lieferanteneingang ihres Krankenhauses dort liegt.“
Schnell löst sich Stemshorns Blick vom Wasser. Von der Donau schlendert sie die Gassen entlang zur Stadtbibliothek. Gottfried Böhm hat diese in Form einer Glaspyramide auf den Marktplatz gegenüber dem Rathaus gebaut, nach einem europaweiten Wettbewerb mit über 400 Büros. Doch Stemshorn kann sich mit der transparenten Bücherei nicht anfreunden: „Auch wenn der Zulauf der Ulmer gewaltig ist und ich mir da auch jede Woche Bücher hole, funktioniert das Gebäude nicht. Der Boden ist sehr hart. Wenn Menschen auf den Etagen oder erst recht über die große Wendeltreppe gehen, hört man jeden Schritt laut widerhallen. Es gibt keine gemütlichen, ruhigen Ecken, in denen man lesen oder arbeiten kann.“
Verstecktes Juwel
Auf die nächste Station, die sie nun ansteuert, freut sich Stemshorn dagegen besonders. Der „Grüne Hof“ gehört zu einem der ältesten Teile Ulms. „An dieser Stelle soll der Reichenauer Hof gelegen haben, eine Niederlassung des Inselklosters Reichenau, das dem später entstandenen Gebäudekomplex den Namen gab“, erklärt die Internetseite der Stadt. Die Architektin zieht es aber ins staatliche Hochbauamt. Sie holt sich im Sekretariat einen Schlüssel, mit dem sie eine dunkle Holztür öffnet.
Dahinter verbirgt sich der älteste, noch heute erhaltene Teil, der um 1380 entstanden ist: der Meistersingersaal, ein vollständig ausgemalter Raum, der etwas tiefer als das Erdgeschoss liegt. „Das ist ein typischer Festsaal aus der damaligen Zeit. Bis vor einigen Jahren konnte man ihn auch noch mieten, nun lässt die Stadt dies nicht mehr zu, um ihn zu schützen. Es ist für mich einfach ein Ort mit einer besonderen Stimmung“, sagt Stemshorn und lässt noch einige Sekunden die bemalten Wände auf sich wirken.
Dann zieht es sie wieder weiter, zurück zum Ausgangspunkt und gleichzeitig bekanntesten Ort Ulms: das heute evangelische Münster mit dem höchsten Kirchturm der Welt. Im 14. Jahrhundert wurde mit dem Bau begonnen, erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde er in seiner heutigen Form vollendet. Der Turm sollte damals auch die Dominanz des Protestantismus im Deutschen Reich symbolisieren. Die spätgotische Baukunst ist einmalig und die mittelalterliche Bausubstanz nahezu vollständig erhalten.
Auch Stemshorn konnte einen kleinen Teil zu dem prominenten Gebäude beisteuern. Sie hat die nebengesetzte Sakristei umbauen dürfen. „Die Kirchengemeinde wollte zum Münsterplatz hin keine Öffnung, doch ich hielt den Bezug für sinnvoll“, erzählt Stemshorn. Entstanden ist ein gelungener Mittelweg. Verschiebbare edle vertikale Holzlamellen vor und ein Bibelspruch in weißen Lettern an der Scheibe lassen Licht herein, aber keine neugierigen Blicke zu. Und die Pfarrer können durch die Dachfenster gen Münsterturm blicken – wie die Bürger im Stadthaus nebenan.
Kulinarisch
Café Bellavista Lichtdurchflutetes Restaurant direkt am Münsterplatz mit Blick über die Innenstadt. Hochwertige Küche von Kuchen bis Tapas.
Vinarium Italienische Küche – im Bistroteil einfach, der Restaurantteil ist sehr gepflegt und es wird gelungen serviert. Schöne Freisitzmöglichkeit auf einem der schönsten Plätze Ulms.
Café Restaurant Stadthaus Internationale Küche im Stadthaus von Richard Meier. Sehr schöner Blick auf das Ulmer Münster und den Münsterplatz.
Kulturell
Haus der Stadtgeschichte Ausstellung im historischen Gewölbesaal im Schwörhaus zur Geschichte der Stadt, kombiniert mit Wechselschauen.
Museum der Brotkultur Eine Ausstellung über drei Ebenen zur Vielschichtigkeit und Bedeutung des Nahrungsmittels Brot in den historischen Räumen des Salzstadels von 1592.
Kloster Wiblingen Ehemalige Benediktinerabtei. Barocker Prachtbau mit Rokokobibliothekssaal von Christian Wiedemann aus dem 18. Jahrhundert.
Entspannend
Hotel Schiefes Haus Nur elf individuell eingerichtete Gästezimmer. Im Zentrum des ältesten Stadtteils Ulms, dem Fischerviertel direkt an der Blau, nahe der Donau.
Hotel Bäumle Innen saniert, historische Räume und familiär
freundlich geführt. Restaurant mit guter schwäbischer Küche.
Goldenes Rad Gepflegtes, familiär und gut geführtes Hotel, das auch für ältere Menschen geeignet ist.
Erlebenswert
Richard-Meier-Ausstellung Eine Ausstellung des Architekten zum 15. Geburtstag des Stadthauses. „Richard Meier: Kunst und Architektur“ zeigt Pläne, Modelle und Fotos seiner Arbeit. Bis 15. März
Nacht der Museen Die Museen und Ausstellungshäuser in Ulm und Neu-Ulm öffnen bis spätabends ihre Türen. Sie präsentieren aktuellen Ausstellungen. 27. Juni
Ulmer Fischerstechen Große Traditionsveranstaltung (seit 1662) vom Schifferverein. Turnier auf der Donau mit 16 Stecherpaaren, die Figuren der Geschichte und Ulmer Originale darstellen und sich gegenseitig vom Boot schubsen müssen. 12. und 19. Juli
Buchtipps
Stadt Ulm, Alexander Wetzig:
Heimat bauen
Vorträge der Reihe „heimat bauen“ anlässlich der Heimattage Baden-Württemberg in Ulm. 17 Euro, 140 Seiten,
Klemm & Oelschläger
Alexander Wetzig, Max Stemshorn (Hrsg.):
Architekturführer Ulm/Neu-Ulm
Handlicher Wegweiser zu den Bauten, die übersichtlich vorgestellt werden.
10 Euro, 100 Seiten, Wasmuth Verlag
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