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Zukunftsweisend

Eine rasante Fahrt durch Aachen mit besonderen Blickwinkeln, einer stetig wachsenden Bildungslandschaft und einem wütenden Teufel.

01.06.200910 Min. Kommentar schreiben
Der Kerstensche Pavillon, ein „weißes Gartenhaus“, gebaut nach dem Entwurf von Stadtbaumeister Johann Joseph Couven.

Nils Hille

Aufbruchstimmung in der Grenzstadt. Zahlreiche Baustellen prägen das Bild von Aachen, viele Neubauten sind in Planung. Und auch die Stadtführung strahlt den positiven Blick in die Zukunft aus. Architektin Ina-Marie Orawiec fährt den frisch gestalteten Vorplatz des Hauptbahnhofs mit einem neuen weißen Sportwagencabriolet an.

„Sie sind eigentlich zwei Jahre zu früh hier. Es entstehen gerade so viele neue Gebäude“, ruft sie lachend und wohl wissend, dass sie auch schon jetzt viel Sehenswertes in ihrer Stadt zeigen kann. Orawiec gibt Gas. Für ihre Sicht auf Aachen hat die Planerin, die mit ihrem Mann ein Architekturbüro mit zehn festen Mitarbeitern leitet und im Gestaltungsbeirat der Stadt sitzt, einige besondere Einblicke organisiert.Während sie sich in den Verkehr einfädelt, erklärt sie zunächst aber die Struktur, in der sie sich heute bewegen wird: „Die Innenstadt ist von zwei Ringen umfasst. Direkt um die Altstadt liegt der innere, sogenannte Grabenring. Etwas weiter drum herum befindet sich der Alleenring.“ Auf dem zweiten ist Orawiec zunächst unterwegs.

Der Ring trägt zum Teil zu Recht seinen Namen – in den Bereichen, in denen in der Mitte Grünflächen mit Bäumen der Hauptverkehrsachse ein sehr harmonisches Bild geben. Reste der Stadtmauer aus dem 13. und herrschaftliche Bürgerhäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert sind hier außerdem zu sehen. Orawiec biegt rechts ab und fährt die Kupferstraße hoch. Dort liegt ihr Büro von OX2architekten, doch sie fährt daran vorbei. Am Ende der Straße beginnt der gepflegte grüne Parkbereich Lousberg. „Ein Verein kümmert sich mit viel Gefühl um dieses Areal“, erklärt Orawiec. Das sieht man unter anderem dem Kerstenschen Pavillon an, der hier am Abhang des Belvedereplateaus seinen Platz gefunden hat. Dieses „weiße Gartenhaus“, gebaut nach dem Entwurf von Stadtbaumeister Johann Joseph Couven, hatte ursprünglich einen anderen Standort in Aachen, wurde aber nach der Schenkung an die Stadt hierhin versetzt.

Der Chor des Aachener Doms (r.) und die Stadtpfarrkirche St. Foillan als zentraler Ort der Stadt, hier hinter dem Quellbad Kaiserhof.

Unumgänglicher Mittelpunkt

Orawiec dirigiert uns vom Berg wieder herunter, zu dem bekanntesten Gebäude Aachens. Der Dom inmitten der Altstadt zieht schon bei der ersten Betrachtung an. Die heutige Gestalt bekam er in einer zwölfhundertjährigen Geschichte ab 800, seit 1978 gehört er zum UNESCO-Weltkulturerbe. Viele Geschichten ranken sich um den Sakralbau. Eine Anekdote erzählt Orawiec so lebendig, dass sie vom Dompersonal ermahnt wird, doch bitte etwas leiser zu sprechen: Damals wurde ein Deal zwischen Architekt und Teufel geschlossen.

Die erste Seele, die den Dom nach damaliger Fertigstellung betreten würde, sollte dem Teufel gehören. Der Architekt wusste nicht, was er machen sollte. Seine Frau riet ihm, einen Wolf statt eines Menschen in den Dom zu schicken. Gesagt, getan. Der verwirrte Wolf lief in den Dom, der Teufel entriss ihm seine Seele und merkte erst dann, dass der Architekt ihn übers Ohr gehauen hatte. Aus Wut rannte er aus dem Dom und schlug die große Messingtür zu. Und in einem Löwenkopfgriff an der Pforte steckt noch heute der Daumen des Teufels, den er sich beim Zuknallen der Tür abriss – und der für jedermann fühlbar ist. Einen Überblick über die zahlreichen restlichen Bestandteile des Doms unterschiedlicher Epochen zeigt Orawiec an dem Modell, das draußen neben dem Westportal steht.

„Ganz verschiedene angebaute Kapellen prägen ein interessantes Gesamtbild“, erklärt sie.Zu Fuß führt die Architektin uns weiter zu einem Projekt, das gerade neu entsteht. Das Berliner Büro Lützow 7 hat den Wettbewerb zur Umgestaltung des Elisengartens gewonnen – bekannt durch Karl Friedrich Schinkels Elisenbrunnen. Nun wird der Siegerentwurf umgesetzt. „Seit Beginn der Bauarbeiten wurden zahlreiche Reste aus verschiedenen Epochen gefunden. Ein Pavillon, der in die Neugestaltung integriert wird, macht die Funde für alle sichtbar“, berichtet Orawiec. Neben einem vorgelagerten Wasserbassin auf der einen Seite entsteht ein terrassenförmig angelegter Bereich in der Mitte. „Das passt gut zu unserer Aachener Kulturszene. Diese Fläche kann im Sommer wunderbar als Auditorium genutzt werden.“

Außen wie innen: Das Theater Aachen bietet nicht nur ein interessantes Programm (siehe „Kulturell“), auch der Blick auf den Bau nach Plänen von Peter Cremer und Heinrich Seeling lohnt.

Durch- und draufgeschaut

Zwei lohnenswerte Blicke sind die nächsten Stationen von Orawiecs Rundweg durch Aachen. Der erste fällt auf das Quellhaus Kaiserbad, auch Aachen-Fenster genannt, mit dem Dom im Hintergrund. In der römischen Antike stand an dieser Stelle das historische Kaiserbad. Die Neubebauung von Ernst Kasper aus den 1990er-Jahren setzt sich aus drei mehrfach verschachtelten, in Form und Material komplett unterschiedlichen Gebäuden zusammen. Dadurch ergeben sich verschiedenste Sichtachsen und Durchblicke auf den Dom. „Die Aachener haben lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Sie hatten sich mit dem Bauzaun, der hier ewig stand, schon so angefreundet, dass sie erst gar keine Änderung mehr wollten“, so Orawiec lachend. Mittlerweile hätten die Bürger den Neubau aber akzeptiert.

Auf große Akzeptanz, auch weit über die Grenzen Aachens hinaus, stößt das Designmöbelgeschäft Mathes schräg gegenüber. „Hier informieren sich die Planer der Region über die Neuigkeiten der Einrichtungsszene“, erklärt Orawiec, die gerade den Laden betritt – nicht um ebendies zu tun, sondern um dem Geschäft wortwörtlich aufs Dach zu steigen. Geschäftsführer Thomas Mathes begrüßt die Architektin und lässt sie in der obersten Etage über die ausklappbare Leiter hinaufklettern. Von dem Flachdach aus bietet sich ein wunderbarer Blick über die Altstadt und die umliegenden Höhen. „Hier sieht man eine klare Zweiteilung. Vor dem Gebäude in Richtung des Doms liegt die schöne Seite, hinter dem Gebäude liegt die nicht genutzte, eher schmuddelige Ecke“, sagt Orawiec, während sie hin und her läuft.

Wieder unten, gönnt sie sich im Café Liège eine kurze Pause mit Blick auf den Dom. Das belgisch geprägte Lokal liegt in der zweiten Etage einer Buchhandlung (siehe „Kulinarisch“). Mit Stefan Peters, dem Geschäftsführer des Cafés, philosophiert Orawiec über den Aachener an sich: „Er ist zurückhaltend. Er will immer Großes, denkt aber im Kleinen. ‚Was kommt jetzt denn schon wieder?‘ ist ein typischer Satz von ihm.“ Peters ergänzt: „Er toleriert, wenn etwas anders ist, aber er adaptiert nichts. So hat es auch lange gedauert, bis Aachener Gastronomen verstanden haben, dass sie bei gutem Wetter auch draußen Tische aufbauen könnten. Diese Idee mussten die vielen ausländischen Studierenden mitbringen und einfordern.“ Durch die große Universität hat Aachen eine im Durchschnitt junge Bevölkerung. Zahlreiche Gebäude der Hochschule liegen in der inneren Stadt und haben mit zur Verdichtung geführt. „Die Bürger nehmen erst langsam wahr, dass die RWTH nicht nur aus Gebäuden und Studenten besteht, sondern dass sie auch einiges für die Stadt tun kann“, sagt Orawiec.

Das „Super C“ von Eva-Maria Pape als Symbol für die vielen neuen Hochschulgebäude auf dem ständig wachsenden Campus.

Uni ohne Ende

Um auch selbst etwas zur Wahrnehmung von außen beizusteuern, fährt die Architektin nun das am Rande der Innenstadt liegende Hochschulviertel an. Zuerst erreicht sie das 2008 fertiggestellte „studienfunktionale Centrum“, kurz „Super C“, in der Wüllnerstraße, das so gar nicht nach Hochschulbau aussieht. Vielmehr wirkt das Gebäude von Eva-Maria Pape eher wie eine Unternehmenszentrale. „Dieses von der Verwaltung genutzte Gebäude, das alle Dienstleistungseinrichtungen für Studenten an einem Ort bündelt, repräsentiert sehr progressiv den Charakter der RWTH“, meint Orawiec.

Mit erhöhten Ausdünstungen aus den Baumaterialien und gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Mitarbeitern sorgte es aktuell allerdings für negative Schlagzeilen.Dass die architektonische Außenwirkung heutzutage auch zu den Aufgaben einer Hochschule gehört, unterstreicht Architekt Harald Lange, bei dem Orawiec vorbeischaut. Der Projektleiter der Bau- und Liegenschaftsbetriebe NRW betreut ein riesiges Areal, auf dem zahlreiche Gebäude neu errichtet wurden, gerade entstehen oder für die nächsten Jahre geplant sind.

Die Uniklinik von Weber und Brand: das 1971 bis 1985 errichtete Gebäude mit seinen wie am Pariser Centre Pompidou außen verlegten Rohren.

„Die Studenten schauen sich heute schon genauer an, wo sie studieren wollen. Ein entsprechendes bauliches Umfeld ist dabei ein wichtiges Kriterium – auch für einen renommierten Professor, den die Fakultäten für die Arbeit in der RWTH begeistern wollen“, so Lange. Jedes Jahr finden so einige Architekturwettbewerbe statt und es werden dreistellige Millionenbeträge verbaut. „Ein Ende ist dabei nicht abzusehen. Die Stadt bekommt durch die Erschließung eine ganz neue Drehung in den westlichen Teil.

In zwanzig Jahren sieht Aachen völlig anders aus, was manchen Bürgern auch Angst macht“, so Lange. Finanziert wird die Gesichtsveränderung Aachens durch unterschiedlichste Modelle. Der RWTH kommt zum einen zugute, dass sie als „Exzellenz-Uni“ ausgezeichnet wurde und dadurch besonders gefördert wird. Aber auch die Industrie engagiert sich, denn jedes Jahr bringen die Mitarbeiter aus der Forschung zahlreiche Patente auf den Markt. So entstehen unter anderem Prüfstellen und Werkhallen, die die Firmen zur Neu- und Weiterentwicklung ihrer Produkte nutzen.

In den nächsten acht Jahren sollen sich bis zu 150 nationale wie internationale Unternehmen im direkten Verbund mit Forschungsinstituten ansiedeln. „Für mich als Planerin macht dies alles Aachen heute und in Zukunft aus“, kommentiert Orawiec, die lange neugierig zugehört hat. Für sie stehen eigene lukrative Hintergedanken nicht im Vordergrund.

OX2architekten sind nur an einem der vielen Projekte beteiligt: Sie bauen einen futuristischen Hubschrauberlandeplatz vor der Uniklinik. Hier fährt Orawiec nun vorbei. Das 1971 bis 1985 errichtete Gebäude von Weber und Brand mit seinen wie am Pariser Centre Pompidou außen verlegten Rohren steht seit wenigen Monaten als „bedeutendstes Zeugnis der Hightecharchitektur in Deutschland“ unter Denkmalschutz. „Das müssen Besucher der Stadt einfach sehen! Hier sagt man, der Aachener betet noch im Krankenwagen, dass er nicht hierhin kommt, weil für ihn das Gebäude so abschreckend wirkt. Für Architekten ist es aber toll“, erklärt Orawiec, während sie in einer Runde am Klinikum vorbeifährt und dann wieder Gas gibt.

Die Kirche St. Josef wird als Grabstätte genutzt.

Zum Abschluss ihrer persönlichen Stadtführung hat die Aachenerin sich einen Ort des Innehaltens ausgesucht. Der Grabeskirche St. Josef von Hahn Helten und Assoziierten sieht man ihre Umnutzung von außen zunächst in keiner Weise an. Der Innenraum macht dagegen sofort deutlich, dass hier kein Sonntagmorgengottesdienst mehr gefeiert wird. In der Mitte versorgt ein Brunnen einen sich durch die Kirche ziehenden schmalen Lauf mit Wasser. Mit Abstand stehen Betonstelen mit Aussparungen drumherum, in denen jeweils einige rechteckige, aus Stein gefertigte Urnen eingesetzt werden können.

Etliche Grabplätze sind schon gefüllt, weitere Stelen werden dazukommen. Ein individueller Grabschmuck, außer einzelnen Blumen in dezenten schmalen Vasen, ist nicht vorgesehen. „Hier gibt es keinen Schmuckwettkampf. Das symbolisiert wunderbar: Im Tod sind wir alle gleich. Und es ist eine tolle Möglichkeit, eine Kirche umzunutzen.“ Mit ganz wenigen Mitteln erzielt Architektur hier eine enorme Wirkung. Der Wunsch zur Nachahmung steht immer häufiger im Raum – so ist Aachen selbst über den Tod hinaus noch zukunftsweisend.

Entspannend

domicil Residenz Hotel Bad Aachen Zwei restaurierte Herrenhäuser und Gartenstudios in einer großen Grünanlage mit Wiesen, Teich und Terrassen.

Novotel Aachen City In der Innenstadt liegendes Hotel mit moderner Ausstattung.

Art Hotel Superior Viersternehotel am Stadtrand für die Übernachtung im mediterranen Flair.

Erlebenswert

Internationaler Karlspreis zu Aachen Ältester Preis, mit dem Persönlichkeiten oder Institutionen ausgezeichnet werden, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben.

CHIO Aachen Internationales Pferdesportturnier vom 26. Juni bis 5. Juli.

Kurpark Classix 2009 Konzerte vom Sinfonieorchester Aachen im Grünen unter freiem Himmel, 21. bis 23. August.

Kulinarisch

Café Liège Café, Bistro und Patisserie mit eigener Produktion; seit 1986 in der Mayerschen Buchhandlung.

Red Gemütliches, in Rottönen eingerichtetes Restaurant mit einer Speisekarte von mediterraner bis asiatischer Küche.

Restaurant La Bécasse Französische Küche von Sternekoch Christof Lang.

Kulturell

Theater Aachen Schauspiel und Musiktheater mit vielfältigem Programm.

Suermondt-Ludwig-Museum Seit Anfang des 20. Jahrhunderts in einer umgebauten Villa beheimatete vielfältige Sammlung, ergänzt durch Wechselausstellungen.

Ludwig Forum Ausstellungsräume für moderne, internationale Kunst in einer ehemaligen Schirmfabrik im Bauhausstil.

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