Christine Mattauch
Manchmal braucht es Leute wie Peter Obletz. Der Eisenbahnfreak lebte seit Ende der Siebzigerjahre im New Yorker Stadtteil Chelsea auf einem verwaisten Bahngelände. Auf einem Schienenstrang hätschelte er alte Waggons wie andere Leute ihre Oldtimer. Gelegentlich lud er zu Dinnerpartys im Speisewagen ein.
Natürlich musste dieser Kauz eines Tages auf die stillgelegte und fast vergessene High Line stoßen – eine Hochbahn, 1934 für den Frachttransport gebaut. Obletz war hingerissen. Er wollte, dass auf der Strecke wieder Züge fahren. Tatsächlich schaffte es der Exzentriker, 1984 für zehn Dollar die Schienenrechte von der Eisenbahngesellschaft Conrail zu kaufen.
Einzigartiges Projekt in der Stadtgeschichte
Die Wiederbelebung des Zugverkehrs gelang ihm nicht, aber er verhinderte den Abriss der High Line – zum Glück. Sie ist heute ein ambitioniertes urbanes Erneuerungsprojekt und zugleich ein Lehrstück dafür, wie durch Zivilcourage und Engagement städtische Identität gerettet werden kann.
„Eine der fesselndsten Planungsinitiativen der Stadtgeschichte“, findet der Architekturkritiker der New York Times, Nicolai Ouroussoff. Auf der zweieinhalb Kilometer langen Strecke an der Lower Westside von Manhattan entsteht eine Parklandschaft, auf der sich wie auf einer Promenade in luftiger Höhe wandeln lässt. Durch die ungewöhnliche Ebene – etwa auf der Höhe der zweiten Hausetage – bieten sich den Spaziergängern einzigartige und verblüffende Stadtansichten und -durchsichten. Die Eröffnung, mehrfach verschoben, ist gegenwärtig für Mitte Juni geplant. Der Entwurf stammt von dem New Yorker Architekturbüro Diller Scofidio+Renfro und den Landschaftsarchitekten Field Operations.
Die Hochbahn fuhr fünf bis neun Meter über dem Straßenniveau. Fußgänger erreichen das einstige Schienenareal künftig über Treppen, Rolltreppen und Aufzüge. Oben formen Betonplanken einen Weg, der sich gelegentlich zu Plätzen und Gärten erweitert. Es wird Alleen geben, Rasenflächen, eine Wiese mit Wildblumen. Dort, wo die Hochbahn den Chelsea Market kreuzt, wird Kunst ausgestellt. Zwischen der 14. und 15. Straße entsteht ein zweistöckiges hölzernes Sonnendeck mit Blick auf den Hudson.
„Wir wollten den singulären, linearen Charakter und den ungeschminkten Pragmatismus der High Line bewahren“, sagt James Corner, Inhaber von Field Operations. Er bezeichnet die Planung als „episodische und variierte Folge von öffentlichen Räumen und Biotopen entlang einer Linie“. Ursprünglich gab es sogar noch Pläne, einen öffentlichen Swimmingpool und ein Amphitheater einzurichten, doch das scheiterte an den Kosten.In seinen Grundstrukturen erinnert das Projekt an die Promenade Plantée in Paris, einen Garten auf einem früheren Eisenbahnviadukt aus dem 19. Jahrhundert, der die Bastille mit den östlichen Vororten verband.
Der Entwurf der Architekten Philippe Mathieux und Jacques Vergely wurde Anfang der 1990er-Jahre umgesetzt und ist seitdem eine Touristenattraktion. Die Existenz dieses Vorläufers wird von New Yorker Politikern allerdings meist souverän ignoriert – Bürgermeister Michael Bloomberg bezeichnet die High Line stets als „einzigartiges Projekt“.
Rezession kann den Erfolg nur verzögern
Tatsächlich einzigartig ist die architektonische Blüte, die die High Line in der einst arg vernachlässigten Gegend ausgelöst hat. Noch in den 80er-Jahren wagte man sich in dem heruntergekommenen Viertel nachts kaum auf die Straße. Heute leben viele Künstler und Designer an der Lower Westside, die Quartiere sind halb Slums, halb luxusmodernisiert. Die High Line beschleunigt die Aufwertung – es ist eben schick, an der Hochbahn zu bauen. Über 30 Neubauten werden realisiert – Apartmenthäuser, Bürogebäude, Hotels. Die Stadt schätzt die privaten Investitionen auf insgesamt mehr als vier Milliarden Dollar.
Die Crème der Architektencrème stellte sich ein: Jean Nouvel, Annabelle Selldorf und DeLaValle + Bernheimer bauen Wohnhäuser, Renzo Piano einen Ableger des Whitney-Museums, Robert M. Stern ist für zwei Bürotürme gesetzt. Bereits eröffnet hat das Standard Hotel nach dem Entwurf von Polshek Partnership, dessen 18-stöckiger Doppelkörper auf Streben über der High Line gebaut ist. Die gegenwärtige Rezession könnte einige Projekte verzögern, doch längerfristig wird das dem Erfolg des neuen High Line-Distrikts wohl keinen Abbruch tun. „Gerade jetzt ist die High Line ein echter Lichtblick. Sie zeigt, dass New York noch die Kraft für große Projekte hat“, sagt Robert Hammond, einer der Gründer der Nachbarschaftsinitiative „Friends of the High Line“ (FHL).
Finanzierung durch Public Private Partnership
Der Eisenbahnfreak Obletz sorgte für den Erhalt der Strecke, doch der FHL ist es zu verdanken, dass die High Line das Kultprojekt werden konnte, das sie heute ist. Die gemeinnützige Organisation orchestrierte 2001 eine politische Bewegung von über 100 Bürgergruppen, die den New Yorker Stadtrat zu einer Revitalisierung der High Line drängten.
Der rang sich schließlich zu einem positiven Votum durch. Den damaligen Bürgermeister Rudy Giuliani kümmerte das wenig, er wollte die High Line trotzdem abreißen. Da verklagte ihn die FHL – und erhielt Recht. 2003 schrieb sie einen offenen Ideenwettbewerb aus, an dem sich 720 Teams aus 36 Ländern beteiligten. Im gleichen Jahr stellte die Stadt 15 Millionen Dollar für die High Line bereit – das war der Durchbruch. 2005 ging das Areal offiziell in den Besitz der Stadt über, und am 10. April 2006 legte Bürgermeister Bloomberg den Grundstein für das heutige Parkprojekt.
Finanziert wird es, wie so oft in Amerika, durch Public Private Partnership. Die ersten zwei Bauabschnitte kosten rund 170 Millionen Dollar, davon übernimmt die öffentliche Hand etwas über 100 Millionen. Der Rest sind Spenden, größtenteils von der FHL gesammelt. Sie wird den Park später auch betreiben. Das Modell hat in New York Tradition – auch der Central Park und der Park am Madison Square werden von gemeinnützigen Organisationen unterhalten.
Der erste Abschnitt des himmlischen Parks, der nun bald eröffnet wird, reicht von der Gansevoort Straße bis zur 20. Straße. Nach seiner Vollendung wird der zweite Abschnitt bis zur 30. Straße in Angriff genommen. Ob es noch weitergeht – ursprünglich fuhren die Frachtzüge bis zur 34. Straße –, hängt davon ab, wann und wie das Entwicklungsprojekt Hudson Yards umgesetzt wird. Das riesige Projekt sollte ursprünglich die Gegend um Penn Station und Madison Square Garden neu gestalten, droht aber wegen der Rezession unter die Räder zu kommen.
Peter Obletz erlebte das alles nicht mehr. Der Zugfanatiker starb 1996. Seine Begräbnisfeier fand im Grand Central Terminal statt, dem großen New Yorker Bahnhof. Vergessen ist er jedoch nicht. Eine Plakette oder eine andere Form des Gedenkens haben die Architekten zwar eigenartigerweise nicht vorgesehen, doch an der Lower West Side lebt seine Legende weiter. „Ich sehe die gesamte High Line als Denkmal für ihn“, sagte sein Freund Peter Richards vor einiger Zeit der New York Times.
Christine Mattauch ist freie Journalistin in New York.