Dr. Jürgen Tietz
Längst ist die Sprengung von Großbauten zum Medienereignis mit Volksfestcharakter aufgestiegen. Und so wurde der Reporter, der live von der Sprengung des Volkswohlbund-Gebäudes in Dortmund berichtete, nicht müde, seinen Zuschauern stets aufs Neue die „schönsten Bilder“ der Zerstörung anzupreisen. Gerade einmal 35 Jahre hat das von Harald Deilmann entworfene skulpturale Betonhochhaus gestanden, ehe es nun für einen größeren Neubau Platz machen musste. Durchaus kein Einzelfall, denn zeitgleich wurde in München das Agfa-Haus gesprengt. Doch die spektakulären Bilder dieser Präzisionssprengungen verdecken, dass der beste Abriss derjenige ist, der gar nicht erst notwendig wird. Nur dann wird die andauernde Vergeudung von Ressourcen durch „Rückbau“ gestoppt.
Doch welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Gebäude nicht bereits nach wenigen Jahrzehnten wieder entsorgt werden? Hierfür hat Carlo Baumschlager vom inzwischen weltweit agierenden Architekturbüro Baumschlager Eberle ein mehrstufiges Konzept entwickelt. Es unterscheidet zwischen fünf Elementen eines Gebäudes, die jeweils eine unterschiedlich lange Lebensdauer besitzen. Dieses Fünfphasenmodell findet sich auch in den Projektbüchern wieder, mit denen Baumschlager Eberle jedes ihrer Gebäude begleitend dokumentieren.
„Die maximale Lebensdauer besitzt der Städtebau“, stellt Baumschlager fest. Hier sollte es nach seiner Ansicht erst nach mindestens hundert Jahren überhaupt zu Änderungen kommen. Die zweite Phase seines Gebäudezyklus betrifft die Struktur des Hauses, deren Haltbarkeit mit rund 80 Jahren veranschlagt wird. Der Fassade, die Phase drei bildet, ist eine etwas kürzere Haltbarkeit vorgegeben. Mit 60 Jahren erscheint sie jedoch immer noch relativ lang. Blickt man etwa auf die abstürzenden Ziegel und Glasscheiben bei einigen Berliner Renommierprojekten der 1990er-Jahre, dann kann man von einer solchen Haltbarkeit nur träumen. Um sie zu erzielen, erscheint eine neue Hinwendung zu Qualität und Handwerklichkeit unverzichtbar, wie sie der Soziologe Richard Sennett in seinem faszinierenden neuen Buch „Handwerk“ gleichermaßen preist wie einfordert.
Die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft zeigt, dass die spezifische Nutzung eines Gebäudes immer häufiger wechselt und meist nur noch eine relativ kurze Zeitphase umfasst. Sie ist mit rund zwanzig Jahren bei Baumschlager Eberle in Phase vier ebenfalls vergleichsweise lang angesetzt. Aufgrund der täglichen Abnutzung gelten die Oberflächen den Vorarlbergern als der kurzlebigste Architekturteil (Phase fünf): Teppiche und Wandfarben werden bereits nach sechs bis sieben Jahren ausgewechselt.
Nachhaltige Stadt
„Am wichtigsten für Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ist der Städtebau“, sagt Baumschlager. Hier gelte es noch vor dem Planungsbeginn des einzelnen Hauses eine klare Perspektive zu entwickeln: „Was für eine Stadt wollen wir haben?“ Baumschlagers Position klingt zwar wie ein Gemeinplatz, den wohl jeder Stadtplaner und Architekt unterschreiben würde. Doch viel zu oft bestimmen eben doch kurzfristige politische und ökonomische Interessen die Stadtentwicklung – mit fatalen Folgen. Gerade im Städtebau sieht Baumschlager daher besonders in Deutschland erhebliche Defizite: Durch verfehlte Planungen seien bereits heute die Abrisse von morgen vorgezeichnet. Und, so beklagt er: „Die fachinterne Diskussion um den Städtebau wird bei den Entscheidungen von Politikern und Investoren nicht ernst genug genommen.“
Das gilt besonders für alle streng funktionsgebundenen baulichen Großstrukturen, allen voran Einkaufscenter, die derzeit gleich reihenweise bundesdeutschen Innenstädten ihren Stempel aufdrücken. Wenn sie sich überlebt haben und aus der Einkaufsmode kommen, erlauben ihre engen Gestaltungs- und Nutzungsanforderungen sowie ihre schiere Größe von bis zu 30 000 Quadratmetern nur schwer andere Nutzungen. Damit droht ihnen innerhalb weniger Jahre das gleiche Schicksal wie ihren kleinen Brüdern, den älteren Warenhäusern, die inzwischen vielfach abgerissen werden. Anstatt auf Langfristigkeit zu zielen, droht die Stadtplanung zum Spielball von Investoren zu werden, die auf eine immer kurzfristigere Amortisation ihrer Investitionen aus sind.
Nutzungsneutrale Strukturen
Mit Blick auf den aktuellen Abriss des Agfa-Hauses in München sagt Carlo Baumschlager: „Der Grund für die Sprengung dort war nicht die städtebauliche Situation, sondern die bauliche Struktur des Hauses, die keine Umnutzung zuließ.“ Hinzu kommen bei den Bauten der Nachkriegsmoderne häufig energetische Probleme und bauphysikalische Mängel. Doch vor allem dann, wenn es der Grundstruktur eines Hauses von vorneherein an der notwendigen Flexibilität für die Umnutzung mangelt, droht ihm angesichts des stetig wachsenden ökonomischen Verwertungsdrucks der Abbruch.
Hier setzt das Konzept von Baumschlager Eberle an: Es geht davon aus, dass die konstruktive Struktur, die der Phase zwei zugewiesen ist, so flexibel sein muss, dass sie problemlos auch anders genutzt werden kann. „Letztlich sind es nur die Geschosshöhen und die Erschließungskerne, in denen sich die beiden häufigsten Bauaufgaben unterscheiden: der Wohnungsbau und der Bürobau“, unterstreicht Baumschlager.
Dabei stellen für ihn die höheren Geschosse bei Bürobauten kein wirkliches Problem dar: „Es sind doch gerade die lichten Räume, die wir heute an älteren Wohnhäusern schätzen.“ Wenn sich ein Investor bei einem Neubau also für höhere Räume entscheidet, verliert er zwar Nutzfläche. Doch dafür gewinnt er ein Qualitätsmerkmal, das die Wertigkeit seines Gebäudes steigert – und die Chance zur späteren Umnutzung. Bei den Erschließungskernen könne man bereits bei der Planung Platz für das mögliche Einfügen eines zusätzlichen Kerns vorhalten. Ansonsten gelte nahezu weltweit ein einheitliches Ausbauraster, das von den Tiefgaragen unter dem Haus bestimmt wird und zwischen 1,20 und 1,40 Metern liegt – zumeist bei 1,35 Metern. Die Gebäudestruktur sollte nutzungsneutral sein und lässt damit Raum für die verschiedensten Funktionsüberlegungen, je nachdem, was am Markt gerade nachgefragt wird.
Amsterdamer Modell
Ein solches flexibles Projekt ist Solids Ijburg, das Baumschlager Eberle derzeit in Amsterdam mit Frank Bijdendijk als Bauherrn verwirklichen. Vom Hotel über das private Wohnen bis hin zu Büros sind hier ganz unterschiedliche Nutzungen denkbar, die jeweiligen Einbauten sind reversibel. Das klingt ganz einfach und erweist sich doch als ein komplexes Thema, bei dem viele Faktoren zu berücksichtigen sind, wie die Architekturjournalistin Claudia Fuchs ausführt: „Welches Flächenangebot ist für möglichst viele Nutzungen geeignet, welcher Grad an technischer Ausstattung lässt entsprechende Optionen offen, welche Gebäudeteile werden in welchem Standard ausgeführt?“
Schnittstellen
Eine solche nutzungsneutrale Struktur bedeutet für Baumschlager keinesfalls architektonische Beliebigkeit – dafür steht die Planung einer in Detaillierung und Materialität hochwertigen Fassade, deren Haltbarkeit ja von ihm auf 60 Jahre veranschlagt wird. Sie gilt Baumschlager ebenfalls als wichtiger Beitrag, um Nachhaltigkeit und Wertigkeit eines Gebäudes langfristig zu gewährleisten. Dabei hebt er hervor, dass an dieser „Schnittstelle zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit“ möglichst „keine Show“ stattfinden solle. Doch auch wenn Baumschlager für Regelhaftigkeit plädiert, bedeutet das für ihn nicht, dass alles gleich aussehen muss. Durchgängig aber müsse die Qualität sein.
Eine Haltung, die sich auch bei den aktuellen Projekten von Baumschlager Eberle zeigt, an deren Fassaden unterschiedliche Materialien Verwendung finden: Glas beim Flughafen in Wien oder bei der Wohnanlage Eichgut in Winterthur, Ziegel bei der Siedlung Ruggächern in Zürich oder Naturstein beim Geschäftshaus Davidstraße in St. Gallen.
Im Idealfall sollte für Carlo Baumschlager selbst ein Sondertypus wie ein Krankenhaus über eine umnutzungsoffene Struktur verfügen, wie dies derzeit für das Spital im belgischen Kortrijk angestrebt wird. Den Luxus medienwirksamer Abrisse von Gebäuden jedenfalls gilt es durch eine langfristig orientierte Planungs- und Baukultur zu ersetzen.
Buchtipp
Winfried Nerdinger (Hg.)
Baumschlager Eberle 2002–2007:
Architektur, Mensch und Ressource.
231 Seiten, Springer Verlag Wien, 49,95 €