Bettina Rudhof
Die Zahl der alten Menschen mit Demenz wird sich in den nächsten dreißig Jahren verdoppeln, von heute einer auf zwei Millionen. Jahr für Jahr muss mit 250 000 Neuerkrankungen gerechnet werden. Das geht auch Architekten und Stadtplaner an: Bisher sind unsere Häuser und Städte nicht gerüstet für Alte, die körperlich agil sind, geistig aber gebrechlich werden. Da die Erkrankung einen umfassenden Kontrollverlust mit sich bringt, sind die Betroffenen auf die Kontinuität einer sicheren, überschaubaren Lebenswelt angewiesen, in der sie als Personen wahrgenommen und angesprochen werden. So wird es in den nächsten Jahren nicht nur darum gehen, die stationären Einrichtungen aus den 1970er- und 80er-Jahren umzustrukturieren und dabei neue demenzgerechte Bauformen und Raumfolgen zu entwickeln. Es wird vielmehr notwendig sein, neue Anlagen zu bauen, und es wird schließlich um den demenzgerechten Umbau ganzer Wohnquartiere gehen.
Obwohl sich viele Altenheime seit den 1980ern in „Seniorenresidenzen“ umbenannten und ihren Eingangshallen den Charakter von Hotellobbys verliehen, blieben Anlage und Einrichtung der Wohnetagen weiterhin an Maßgaben des Krankenhausbaus orientiert. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe fordert deshalb den systematischen Umbau solcher „Verwahranstalten“ und spricht sich für das Konzept von demenzgerechten stationären Hausgemeinschaften aus. Tatsächlich nimmt die Zahl solcher vollstationär pflegesatzfinanzierten Einrichtungen seit Jahren zu.
Dabei werden die Heime geschossweise in Wohneinheiten für acht bis zwölf hilfe- und pflegebedürftige Bewohner unterteilt – eine Organisationsform, die sich sowohl in Neu- wie auch Altbauten realisieren lässt. Da Essenzubereitung und Verköstigung in den Wohngruppen selbst erfolgen, sind Großküchen und Speisesäle mit Tablettsystem verzichtbar. Zugleich finden die Hausgemeinschaften in ihrer eigenen Wohnküche ein dem Lebensrhythmus der Bewohner angemessenes Zentrum, um das herum weitere gemeinsam genutzte Räume angeordnet werden können.
Natürlich ist es von Vorteil, wenn dieser Bereich auch mit einem direkt angrenzenden geschützten Außenbereich verbunden wird. Eine solche Anlage zielt darauf, die älteren Menschen an den alltäglich anfallenden Verrichtungen zu beteiligen, um ihre Alltagskompetenz so lange wie möglich zu erhalten und zugleich Versorgungssicherheit und Wohlbefinden zu gewährleisten. Dies gilt auch und gerade dann, wenn Tätigkeiten wie Kartoffelschälen und Wäschewaschen zum therapeutischen Mittel werden, bei dem es nicht primär auf das Resultat ankommt.
Um den Betreibern solcher Anlagen, ihrem Personal und vor allem den Bewohnern größere Spielräume zu gewähren, wurde das Heimgesetz in den vergangenen Jahren mehrfach novelliert und es wurden immer häufiger Ausnahmegenehmigungen erteilt, die sich auf die sogenannte „Experimentierklausel“ berufen.
Ambulant betreute Wohngemeinschaften
Neben den Hausgemeinschaften etablieren sich immer häufiger ambulant betreute Wohngemeinschaften für demenziell veränderte Menschen. Oft entstehen sie durch Zusammenlegung mehrerer Wohnungen und auf Initiative von befreundeten Angehörigen. Deshalb können die Bewohner die Ausstattung ihrer unmittelbaren Umgebung und den Ablauf ihres Alltags weitgehend selbst bestimmen, natürlich mit therapeutischer Hilfe. So finden sich in der vom Gerontologen Jan Wojnar mit Unterstützung der Reemtsma-Stiftung eingerichteten „Oase“ in Hamburg sogar ein gemeinschaftlicher, mit Fellen ausgelegter Schlafraum und ein offener Kamin – Einrichtungen, die mit den Richtlinien des Heimgesetzes unvereinbar sind und dennoch beachtliche therapeutische Erfolge zeigen.
Die Arbeitsgruppe Demenz des interdisziplinären Studiengangs Barrierefreie Systeme der FH Frankfurt listet für ambulant betreute Wohngemeinschaften folgende Kriterien auf:
- die Herstellung einer häuslichen und stimulierenden, nicht anstaltsartigen Atmosphäre, etwa durch individuelles Mobiliar;
- die Gewährleistung maximaler Bewegungsfreiheit durch die übersichtliche, frei zugängliche Anlage der Wohnung;
- angemessene Orientierungshilfen und eine den Wohnbereichen angepasste und deshalb zonierte Beleuchtung;
- die Einrichtung besonderer Ruheräume für unruhige und akut die Gemeinschaft störende Bewohner;
- die Möglichkeit ausreichenden Lagerraums und speziell angepasster Badezimmer, deren Fläche pro Bewohner 2,25 Quadratmeter betragen sollte.Sich in seiner unmittelbaren Umgebung zurechtzufinden, ist die erste Bedingung einer möglichst selbstständigen Lebensführung – natürlich auch im Außenbereich von Anlagen und im umliegenden Stadtquartier, wenn Erkrankte ein Mindestmaß an Bewegungsfreiheit genießen sollen. Wichtig ist hierfür die überschaubare, kleinteilig markante Gliederung des Areals, die die Wiedererkennung erleichtert und Gleichförmigkeit vermeidet.
Orientierung schaffen
Am Anfang eines demenzgerechten Umbaus ganzer Stadtquartiere stehen die Verkehrsberuhigung und eine orientierungsfördernde Veränderung des öffentlichen Raums – nicht zuletzt durch die gestalterische Hervorhebung der Wege sowie der Hauseingänge. Markante Orientierungspunkte sind Plätze, auf denen zwischen Brunnen, Bänken, Pergolen, Spalieren und Hochbeeten ein angemessenes Verhältnis von Bewegung und Ruhe ermöglicht wird. Einige erste demenzgerecht umgebaute Quartiere zeigen, dass es durchaus erlaubt ist, mit Tricks zu arbeiten.
So legten die Mitarbeiter eines Seniorenheims im westfälischen Eidelstedt im weitläufigen Garten eine Bushaltestelle ohne Busanbindung an. Das große grüne H kennen die Bewohner. Mit seiner Hilfe orientieren sie sich auf dem Gelände und treffen sich an der „Haltestelle“. Was für ein Unterschied zu den innen liegenden, anfangs- und ziellosen Rundläufen der geschlossenen Anstalten, mit dem zentral platzierten Schwesternstützpunkt, der als Panoptikum funktionierte und mit dem der Orientierungsverlust der Patienten in bauliche Formen gepresst ist.
Die Möglichkeiten der freien Bewegung der Patienten auf dem Gelände birgt jedoch Gefahren und bringt die Verantwortlichen in eine juristische Zwickmühle, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nachkommen müssen. Zu diskutieren und juristisch zu klären bleibt, ob dementierende Menschen mit kleinen Sendern ausgestattet werden können, die in der Kleidung angebracht sind oder als elektronische RFID-Armbänder getragen werden.
Demenzgerechtes Umfeld
Das Wohnumfeld sollte:
- keinen Krankenhaus- oder Institutionscharakter haben und durch individuelles Mobiliar eine warme, häusliche oder „pensionsähnliche“ Atmosphäre ausstrahlen;
- eine maximale Bewegungsfreiheit gewährleisten (alle Innen- und Außenräume, auch Gärten oder Terrassen müssen frei zugänglich sein, mechanische oder visuelle Hindernisse sind zu vermeiden);
- generell stimulierend wirken (Tages- und Therapieräume müssen durch Glaswände oder breite Türen von den Fluren abgetrennt sein, auf unterschiedliche Beschaffenheit der Tastflächen ist ebenso zu achten wie auf eine angenehme Geräuschkulisse, eine milde Raumtemperatur, auch auf angenehme Düfte);
- übersichtlich sein (die Raumgröße muss der Bewohnerzahl angepasst sein, um das Gefühl eines schützenden Rahmens zu vermitteln und das Chaos eines Gedränges zu vermeiden);
- über Orientierungshilfen verfügen (Gebrauchsgegenstände wie Armaturen oder Spiegel müssen den Gewohnheiten und Bedürfnissen der alten Menschen entsprechen und dort angebracht werden, wo man sie erwartet – „was mechanisch plausibel ist, ist leichter benutzbar“);
- über eine gute Beleuchtung verfügen („warme“ Lichtqualität, zonierende Beleuchtung, zum Beispiel Pendelleuchte über Esstisch, Wandleuchte neben dem Bett oder Orientierungslicht an der Toilettentür);
- Lichtduschen von 400 bis 10 000 Lux vorsehen (Kunstlicht, das den Tagesverlauf in unterschiedlichen Lichtfarben und -stärken abbildet; zirkadiane Beleuchtung unterstützt die Strukturierung des Tages);
- über besondere Ruheräume für besonders unruhige, akut störende Demenzkranke verfügen;
- die Besuche der Angehörigen fördern (durch entsprechende stadtteilnahe Lage, attraktive Gestaltung der Gästeräume und Gästezimmer für auswärtige Besucher, freien Zugang zur Küche usw.);
- Erfahrungen mit Tieren ermöglichen (zum Beispiel eine Volière in einem großen Raum, Hundebesuche und Ähnliches );
- lange, öde Flure vermeiden und Verkehrsflächen so planen, dass sie als Verbindungsgänge zwischen Räumen erkennbar sind (Dabei spielen die möglichen Blickbeziehungen eine große Rolle. Was die Orientierung im Außenbereich erleichtert, gilt auch innerhalb der Wohnbereiche);
- ausreichenden Lagerraum vorsehen, der auch die Möglichkeit bietet, in zwei unterschiedlichen Kühlschränken Lebensmittel und Medikamente zu kühlen (Zwei Lagerräume pro Wohneinheit, mindestens sieben Quadratmeter pro Lagerraum. Zum Ausstattungsstandard gehören ein mobiles Sauerstoffgerät und ein im Turnus kontrollierter Notfallkoffer).
Bettina Rudhof ist Architektin und Mitbegründerin von Demenzpartner Rhein-Main e.V.
Literaturlinks:
www.demenz-support.de ►Publikationen ► Bücher
www.demenzplus.ch ► Aktuell