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Alte und neue Wohnungsfrage

Nicht mehr die Versorgung Bedürftiger, sondern das Umwerben Begehrter bewegt Anbieter und Planer von Wohnungen.

01.11.20075 Min. Kommentar schreiben
Bunter wohnen: Quartiere wie Freiburg-Vauban versuchen, dem wachsenden Bedürfnis nach Urbanität in idyllischer Form zu genügen.

Prof. Dr. Harald Bodenschatz

Die alte Wohnungsfrage ist tot – sie ist mit der Industriegesellschaft Geschichte geworden. In dieser Gesellschaft war das Arbeits- und Alltagsleben von relativ kurzen Ausbildungszeiten und relativ stabilen Arbeitsplätzen und Ein­nahmequellen geprägt, von typischen Wochen- und Tageszyklen. Wohnungen und Wohnstandorte waren vergleichsweise stabil und wurden lange Zeit genutzt. Zum sicheren und sichernden Wohlfahrtsstaat gehörte die Politik des sozialen Wohnungsbaus, über dessen Gestalt und Qualitäten weitgehend Konsens herrschte. Diese Politik war erfolgreich: Während Arbeitsmarktfragen, Bildungsfragen oder Inte­grationsfragen in aller Munde sind, stellt in Deutschland niemand mehr die traditionelle Wohnungsfrage. Quantitativ wie qualitativ ist der größte Teil der Menschen ausreichend bis sehr gut versorgt.

Wohin der Abschied aus der Industriegesellschaft führen wird, zeichnet sich erst grob ab; wir versuchen uns mit Begriffen wie Wissensgesellschaft oder Dienstleistungsgesellschaft zu behelfen. Auch im Wohnungswesen ist bisher vor allem klar, welche Akteure und Strukturen an Bedeutung verlieren: diejenigen, die mit staatlicher Unterstützung Wohnungen errichteten. Den früher gemeinnützigen Wohnungsunternehmen fehlen heute die Sozialbaumittel, den Familien im Umland der großen Städte, in kleineren Städten und Dörfern fehlt die Eigenheimzulage und individuellen Vermietern die hohe Neubauabschreibung.

Die neuen Akteure sind bunt und vielfältig

– von der selbst organisierten Baugruppe bis zum globalen Finanzinvestor. Vor allem aber haben sich die Nutzer geändert. Die klassischen Arbeiter- und Mittelschichtmilieus haben neuen, viel unübersichtlicheren sozialen Gemengelagen weichen müssen, die wir gern, aber auch oft etwas hilflos in Lebensstilmilieus zu klassifizieren versuchen. Die Nachfrager haben ein neues Gewicht erhalten – vor allem die besonders ­umworbenen Nutzer, die sogenannten kreativen, innovativen Schichten, die Flexiblen, Schnellen und global Orientierten.

Damit stellt sich für Städte, für Wohnungsanbieter und andere Unternehmen eine neue Wohnungsfrage: In der postindustriellen Gesellschaft müssen sie im Wettbewerb um mobile, gut ausgebildete Menschen bestehen. Um sie anzulocken und zu halten, bedarf es eines attraktiven Wohnungsangebots, insbesondere in den Innenstädten. Vor diesem Hintergrund hat die Wohnungsfrage einen neuen sozialen Adressaten gefunden: die meist urbanen Mittelschichten der Dienstleistungsgesellschaft.

Die neue Wohnungsfrage wird selten klar ausgesprochen. Aber sie hat sich in der kommunalen Praxis längst durchgesetzt und beherrscht auch mehr und mehr die Praxis der Wohnungswirtschaft. Im Ausland wird das noch deutlicher: Die berühmten, viel diskutierten Beispiele städtischer ­Renaissance hängen eng mit dieser neuen Frage zusammen – in Barcelona, London oder Manchester, vor allem aber in den größten Städten der USA wie Los Angeles, Chicago und New York mit ihren riesigen privaten Projekten eines verdichteten und relativ urbanen Wohnungsbaus.

Was bedeutet unter den veränderten Bedingungen Qualität im Wohnungsbau? Zuerst müssen wir uns nochmals in Erinnerung rufen, dass die Definitionsmacht der Architekten geschrumpft ist. Das alte Entscheidungsmodell Architekt plus Politiker greift kaum mehr. Ein aktuelles Beispiel bietet das Scheitern des ambitionierten Münchener Projekts der Werkbundsiedlung Wiesenfeld. Der Strukturwandel führt zwangsläufig zu Unsicherheiten in der Architektenschaft. Der wählerische Wohnungsnachfrager ist ein unbequemer Kunde. Der Architekt kann sich zwar der trügerischen Hoffnung hingeben, der unwissende, ungebildete Nutzer könne doch durch entsprechende Trainingsprogramme besser erzogen werden. Diese Haltung schwingt offenbar auch bei manchem mit, der am Gründungsprozess der Bundesstiftung Baukultur beteiligt war.

Es gibt aber eine Alternative

Der Architekt muss sich mehr mit dem Kunden beschäftigen – nicht nur mehr mit ihm sprechen, sondern auch seine Lebensverhältnisse besser begreifen. Gerade wenn es um Fragen der architektonischen Gestalt geht. Denn die Prioritäten haben sich verschoben – weg von der klassischen Moderne mit ihrer Neigung zur Einheitlichkeit, Gleichheit, eng definierten Funktionalität und Minimierung des Ornaments, hin zu individuellerer, stärker an historischen oder regionalen Vorbildern orientierter Gestalt – und sei es aus fernen Regionen. Bewegungen wie der New Urbanism in den USA oder der traditionelle Siedlungsbau in Großbritannien und den Niederlanden deuten die Richtung an. Sie verweisen vor allem auf die Notwendigkeit, die städtebauliche Dimension des Wohnens stärker zu berücksichtigen. Es geht nicht darum, sich diesen Trends kritiklos zu beugen. Zur Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der neuen, eigenwilligen Bewohner gibt es aber keine Alternative.

Bei der Architektur des neuen Wohnens

in der Innenstadt haben wir in Deutschland Nachholbedarf, etwa im Vergleich zu den USA und England. Wir müssen erst wieder lernen, einen attraktiven, nicht nur versorgenden Wohnungsbau zu gestalten. Mögliche Typen sind urbane Reihenhäuser, moderate Wohnhochhäuser, neue gemischt genutzte Quartiere auf Konversionsflächen, Wohnen an besonderen Standorten wie etwa am Wasser. Aber noch wichtiger als der Neubau ist der Umbau und die neue Nutzung des Bestands, der den größten Teil des Wohnungsangebots ausmacht.

Typenmischung: Das Berliner Projekt Prenzlauer Gärten bietet Geschosswohnungen und an beiden Seiten der hinteren Sackgasse Reihenhäuser (neudeutsch „Townhouses“).

Die neue Wohnungsfrage läuft allerdings Gefahr, sich in einer Huldigung der umworbenen Mittelschichten zu erschöpfen. Dabei droht sie die sozialen Verlierer des Abschieds von der Industriegesellschaft zu vergessen. Diese finden in wirtschaftlich dynamischen Regionen oft immer schwerer eine angemessene Wohnung und werden aus ganzen Stadtteilen von den privilegierten Mittelschichten verdrängt. Für die Verlierer des Wandels muss der Staat auch nachsorgend handeln – die Lösung der neuen Wohnungsfrage darf nicht zur Folge haben, dass wieder die alte virulent wird.

Buchtipp

Tilman Harlander (Hg.)

Stadtwohnen. Geschichte – Städtebau – Perspektiven.
Wüstenrot Stiftung und DVA 2007, 400 Seiten, über 500 Abbildungen, 49,90 Euro

Das Thema Stadtwohnen ist so uralt wie aktuell. Das Autorennteam arbeitet seine Geschichte seit dem Mittelalter auf und präsentiert Fallstudien aus Vergangenheit und Gegenwart. Wertvoll sind besonders die Analysen jüngerer europäischer Projekte aus Amsterdam, Barcelona, London, Manchester und ­verschiedenen deutschen Städten. Beim ersten Blick mag man über gegenwärtige Ideen denken ­„Alles schon mal dagewesen“. Der zweite Blick zeigt: Das Thema ist unerschöpflich.

Professor Dr. Harald Bodenschatz lehrt Architektursoziologie an der TU Berlin.

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