Roland Stimpel
Helgoland ist ein Paradies der Denkmalpflege: ein Ensemble aus einem historischen Guss von der Seefront bis zur Kirchturmspitze, eine Preziose des Nachkriegs-Städtebaus. Keine andere Gemeinde ist zu so großen Teilen geschützt. Das gesamte Denkmal ist belebt, kein Teil ist nur erstarrte Kulisse.
Helgoland ist eine denkmalpflegerische Hölle. Nirgendwo sonst im ganzen Land ist er so verhasst. „Denkmalschutz ist hier ein Unwort, so schlimm wie Springflut“, sagt Bürgermeister Frank Botter. Die Helgoländer fühlen sich ihm ausgeliefert und versuchen ihn zu aufzubrechen, wo sie nur können. Sie rebellieren, prozessieren, unterminieren. Jetzt sehen sie sogar die Gelegenheit, den Schutz für den größten Teil ihrer Insel los zu werden. Trotzige Insulaner hier, als obrigkeitlich-distanziert empfundene Denkmalpfleger dort: Helgoland zeigt drastisch, dass es nicht reicht, Denkmalschutz zentral zu verordnen und ihn sorgsam, sogar liebevoll von fern zu verwalten. Wenn er vor Ort keine Wurzeln schlägt, droht er zu verkümmern – mögen auch seine Objekte noch alle stehen.
Was ist das Besondere an Helgoland? Am besten weiß das Ulrich Höhns, Leiter des schleswig-holsteinischen Archivs für Architektur und Ingenieurbaukunst. In seinem Buch „Eine Insel im Aufbau“ charakterisiert er die „kleine, eigenständige Stadt, die mit allen anderen deutschen Nachkriegsplanungen kaum etwas gemeinsam hat: einheitlich in der Gesamtgestalt, heterogen in der architektonischen Einzelform; einfach im Detail, anspruchsvoll in der städtebaulich-räumlichen Komposition“.
Im Krieg und danach waren in Bombardements und Sprengungen fast alle Häuser zerstört worden; die Landschaft ist noch heute von Kratern übersät. Die britischen Besatzer gaben den Trümmerhaufen im Meer erst 1952 frei. Nach zehn Jahren Aufbauzeit war der Ort dann wieder nahezu komplett. Ein im Zeitgeist bescheiden-sachliches Gesamtkunstwerk für 2000 Bewohner war entstanden, Die Häuser mit ihren 2,30 Meter hohen Räumen und winzigen Terrassen stehen dicht an dicht; die Gassen sind eng und gewunden – als Kontrast zu den Weiten der Nordsee, zur Schonung der unbebauten Insellandschaft und zum Schutz vor dem ewigen Wind. Autos, die breitere Straßen bräuchten, gibt es ja nicht. Sogar radfahren ist überall verboten.
Das Ergebnis begeistert die Fachwelt noch heute. Ulrich Höhns: „Das neue Helgoland ist Schauplatz des Durchbruchs einer in Deutschland neuen, skandinavisch Moderne. Deren Elemente hätten sich „an keinem Ort zu architektonischen Ensembles verdichtet wie auf Helgoland“. Als einziger Ort in Deutschland bekam Helgoland einen „Generalfarbplan“ mit 14 auf einander abgestimmten Tönen, ausgesucht vom Hamburger Maler Johannes Ufer.
Seitdem hat sich baulich wenig getan im Kern Helgolands, dem Unterland am Hafen und dem Oberland 30 Meter höher auf dem Falm-Felsen. Bis auf das Kurhaus der Spengelins, das dem ersten und einzigen Fünf-Sterne-Hotel „Atoll“ geopfert wurde, ist fast nichts abgerissen und weniges neu gebaut. Ab 1988 kam das Wiederaufbau-Ensemble nach und nach unter Schutz.
Diese Aktion haben Denkmalpfleger und Insulaner recht unterschiedlich in Erinnerung. Das verantwortliche Landesamt in Kiel hat sich nach seinen Worten „besonders viel Zeit genommen, um den Helgoländern mit Unterstützung durch den Landesdenkmalrat seine Bewertung zu erklären“. Helgoländer wollen sich dagegen an einen Denkmalpfleger aus der Landeshauptstadt erinnern, der mit hochgeklapptem Mantelkragen vergeblich versucht habe, inkognito über ihre Insel zu schleichen. Als sich einmal die Kultusministerin herwagte, empfingen die Insulaner sie mit schwarzen Tüchern vor den Häusern und mit Trauerflor an den Elektrokarren.
Die Bewohner des Nordseefelsens sind empfindlich gegen alles, was nach Fremdherrschaft riecht. Es schmeckt ihnen überhaupt nicht, dass mehr als 50 Häuser zu „Kulturdenkmälern von besonderer Bedeutung“ erklärt sind und hunderte weitere zu „einfachen Kulturdenkmälern“ – eine Unterscheidung, die es so nur in Schleswig-Holstein gibt.
Fast im gesamten Siedlungsgebiet der Insel soll die Vergangenheit konserviert werden, abgesehen von der Gewerbezone im Süden. Die Helgoländer protestierten aus Stolz wie aus Angst vor dem Alltag unterm Denkmalschutz: „Wiederaufbau-Geschichte ist schön und gut“, sagt Bürgermeister Botter. „Aber wir wehren uns gegen den Zwang, in dieser Geschichte leben zu müssen.“ Deren gebautes Erbe besteht zu einem Gutteil aus neuzeitlichen Katen mit Satteldach, von denen es manche auf nicht einmal 40 Quadratmeter Wohnfläche bringen. Auch die Säule der lokalen Wirtschaft leidet: Pensionen und Hotels sind so eng, dass nun mühsam Einbau-Bäder in die Zimmer passen. Wo das nicht geht, müssen sie wie zu Zeiten des Isetta-Tourismus mit „fl. k. u. w. Wasser“ angeboten werden, Klo und Dusche über den Gang.
Also wollen sie ausbauen, wozu Dachgauben das einfachste Mittel sind. Die aber mögen die Denkmalpfleger nicht – am wenigsten in den vordersten Häuserreihen des Unter- und Oberlands, die zur strengen Schutzzone gehören. Aber auch sonst nicht, wegen des Straßenbildes und wegen des Blicks vom Felskanten-Weg auf die Dachlandschaft des Unterlands. Zwar gibt es aus denkmal-losen Zeiten und in den weniger streng geschützten Zonen schon um die hundert Gauben. Aber dabei soll es möglichst bleiben, meint Annelie Fesser, die zuständige Denkmalpflegern in der Kreisverwaltung von Pinneberg. „Gauben wurden die gesamtstädtische Situation erledigen“, sagt Fesser. Sie kann zwar „wirklich verstehen, dass man ein bisschen mehr Luft haben möchte“. Aber sie kennt die Konsequenz: „Wenn ich eine genehmige, muss ich in der Nachbarschaft alle genehmigen.“
Also tut sie es nur, wo sie außerhalb der strengen Schutzzone muss und wo schon viele Gauben sind. Sie hat überall nach Alternativen gesucht, etwa Flächenreserven auf Hausgrundstücken. „Wir haben aber nur drei gefunden.“ Es gäbe auch noch einen Streifen Land für ein paar Reihenhäuser, aber für den will der Bund als Eigentümer 305 Euro pro unerschlossenem Quadratmeter. Die Bürger wollen und können nur ihr Dachgeschoss vergrößern, und darum schwärt seit über zehn Jahren das, was der Hotelier Torsten Conradi als „Helgoländer Gaubenkrieg“ bezeichnet: ein Dauer-Scharmützel, in dem beide Seiten verbissen um jeden einzelnen Dachaufsatz ringen.
Das Ergebnis befriedigt oft keinen. So setzte der Rentner Wilhelm Klawitter für seine durchgesteckte Dachwohnung auf der Ostseite die Gaube durch – die Straße davor gilt schon als gestalterisch verdorben. Auf der Westseite siegte das Amt, denn gegenüber stehen einige der originellsten allerersten Häuser. Für den Esstisch mit vier Plätzen blieb in der Dachbutze nur der Platz unterm Schrägfenster, bis hart an den Drempel. „Wenn Besuch kommt, müssen immer die Kleineren an der Wand sitzen“, erklärt Klawitter. „Wenn sie den Kopf ein bisschen schräg halten, geht das noch gerade. Nur hektisch aufstehen darf man nicht.“
Ein paar Meter weiter besitzt der Schmuck- und Uhrenhändler Andreas Kaufmann die Hälfte eines Doppelhauses aus der Pioniergeneration. Die anderen Hälfte ist längst überformt mit Gauben, Kunststofftür und neuer Fassade. Sein winziges halbes Haus aber sieht noch aus wie damals. Auch Kaufmann hätte gern eine Gaube. „Nur wenn ich da ein Zimmer habe, finde ich eine Verkäuferin für die
Saison. Bisher kann ich nur ein Loch anbieten, da kommt doch keine.“ Also zog er vor Gericht, nicht als erster: Schon in den ersten Jahren hatten Eigentümer gegen 79 Denkmalbescheide legten Eigentümer Widerspruch eingelegt; die Gemeinde klagte systematisch gegen sämtliche Verfügungen. Aber das Denkmalrecht war stärker, und 2001 atmete im Landesamt Gebietsdezernent Helmut Behrens auf: „Nach über 13 Jahren herrscht endlich Rechtssicherheit.“
Schön wäre es. Immer wieder mal reisen Abgesandte des Verwaltungsgerichts von Schleswig an der Ost- nach Büsum an der Nordeseeküste und tuckern auf der „Funny Girl“ oder der „Lady von Büsum“ weiter zum Ortstermin. Da kämpft dann ein Anwalt des Helgoländers um jeden Fußbreit zum aufrechten Stehen; eingeschiffte Bauhistoriker halten gegen. Ihre Bedenken findet Kaufmann „schietegol“. Sein halbes Denkmal „sieht doch viel mieser aus, als wenn auf beiden Haushälften eine Gaube wäre“. Und für einen verlorenen Prozess will er sich rächen: „Dann repariere ich das Dach und mache erst mal ne Plane drauf Die sieht dann jeder, der vom Oberland guckt. Und wissen Sie, was ich mit der Plane mache? Da male ich eine Gaube drauf.“
Die Gaubenpolitik vergrätzt selbst Angehörige jener Insel-Minderheit, die zunächst den Denkmalschutz begrüßten. Der aus einer Architektenfamilie stammende Torsten Conradi („aber nicht mit dem Kammer-Conradi verwandt“) hat zwar an seinem Haus au der Hafenfront alle Gauben auf der Hinterseite durchbekommen und akzeptiert die Begrenzung an der Schaufront. Aber ein paar Meter weiter waren seinem Bruder zwei Gauben nach hinten raus schon mal genehmigt, bis das Amt das wieder kassierte. „Ich finde das Ensemble ja schützenswert“, sagt Conradi. „Aber man darf nicht jede Dachlinie in der Hintergasse heiligen. Wenn das ein Kulturdenkmal ist, dann sollen doch die für die Pflege aufkommen, die sich eine solche Einstellung leisten können“. Jetzt fehlen dem kleinen Hotel seines Bruders zwei gute Zimmer zum Vermieten, und Conradi schimpft. „Der Denkmalschutz macht sich an der Entwicklung der Insel schuldig und merkt das noch nicht mal.“
Die Insel-Entwicklung ist nicht erfreulich. Von einst 2.000 Einwohnern hat Helgoland in den letzten Jahrzehnten ein Viertel verloren. Das hat mit dem Niedergang des Butter- und Schnapsfahrt-Tourismus zu tun, mit dem Abgang der Bundesmarine und natürlich mit dem widrigen Alltag. Die Inselflucht hat zwar den Dagebliebenen mehr Raum beschert. Doch ausdehnen kann sich die Siedlung kaum – allenfalls mit Projekten wie der eines Hamburger Bauunternehmers, das Meer zwischen Haupt- und Düneninsel einfach zuzuschütten.
Heute ist die Pro-Kopf-Wohnfläche nicht weit über dem Stand der 60er Jahre, während sie sich auf dem Festland seitdem verdoppelt hat. Als Umfeld ein Quadratkilometer Insel, als Haus eine Butze, in der manchmal neben das Bett kein Nachttisch mehr passt. „Wenn solche Löcher auf dem Festland unter Denkmalschutz stehen, zieht man einfach weg. Dann fällt denen eben das Haus zusammen“, sagt der zornige Andreas Kaufmann. „Aber weil wir nicht ausweichen können, glauben sie, sie können alles mit uns machen.“
Nach Darstellung der Kieler Denkmalpfleger ist das eine Minderheitsmeinung. „Nach der 1998 erfolgten Rücknahme der gemeindlichen Pauschalklage wollte letztlich kein Bürger den Denkmalwert seiner Immobilie – und Helgolands – mehr ernsthaft in Zweifel ziehen“, schrieb Helmut Behrens 2001. Das mag von Kiel aus so wirken. Annelie Fesser, die zweimal im Jahr zu „Helgoländer Bautagen“ auf die Insel fliegt, deutet aber vorsichtig an: „Als Denkmalpfleger ist man da nicht sehr beliebt.“ Fesser nimmt das tapfer auf sich. „Es ist mein Lieblingsdenkmal. Und ich möchte so gern, dass die Helgoländer stolz sind auf das, was sie da stehen haben.“
Sie streicht vor Ort den touristischen Wert heraus. „Ich habe da schon oft gesagt, die Leute fahren wegen des Stadtbilds nach Rothenburg ob der Tauber, und so was habt ihr hier auch. Das kann man fantastisch aufwerten und vermarkten. Junge Leute fahren doch auf Retro ab.“ Aber sie weiß auch: „Das Bewusstsein für Architektur der 50er-Jahre ist einfach noch nicht da.“ Helgolands Tourismusdirektor Klaus Furtmeier sieht das auch so: „Das Thema ist schwer zu kommunizieren. Die Gäste sehen die Häuser und denken gleich, da finden sie keinen neuzeitlichen Standard vor.“ In Internet-Reiseforen fand sich kein begeistertes Wort für die Architektur, nur das Gegenteil. Da ist mal von „hässlichen 50er-Jahre-Verschlägen“ die Rede, mal vom „damaligen Baustil in allen ärmlichen Varianten“, mal von einer „bemerkenswert eintönig-hässlichen Bausubstanz“. Man solle, rät ein Inselbesucher, „zunächst mal die kaputte Optik der unwirtlichen 60er Jahre Kasernen beseitigen und die historische Bebauung wieder herstellen. Dann kommen auch Touristen, die länger bleiben mögen, auch ohne dass sie sich betrinken müssen.“
So etwas kann auch Bürgermeister Botter nicht ignorieren, auch wenn er selbst alles andere als ein Banause ist. „Natürlich sollten wir den besonderen Charakter unseres Ortes erhalten.“ Er stört sich am „postmodernen Kram“ des 90e-Jahre-Hotels. „Das tut doch dem Auge weh!“, ruft er vor einem Wohnhausgiebel, der jetzt eine Baumarkt-Haustür, Butzenscheiben und Satellitenschüsseln tragen muss. Ab und
zu findet er mit den Denkmalpflegern einen Kompromiss – bei der Schule, beim Schwimmbad, jetzt wohl auch bei den durchfeuchteten Rathauswände, derentwegen er auch gegen das Amt geklagt hatte. Und das Farbkonzept von 1952 ist der heutigen Normenwelt angepasst; es gelten nun die jeweils ähnlichsten RAL-Farben.
Aber das sind nur einzelne Waffenstillstände im Dauer-Scharmützel. Wo die Denkmalpfleger nicht mehr als Wünsche äußern können, da werden sie von den Insulanern ignoriert, wo es nur geht. Gern hätten Fesser und Behrendt das noch Vorhandene vom 50er-Jahre-Straßenbild erhalten: Leuchten mit Betonmast, Pflaster und Mauer am Falmweg. Aber die Helgoländer pflastern und mauern in Rot und pflanzen Nostalgieleuchten.
Ihr Widerstand gegen die Konservatoren erhält gerade frischen Wind. Schleswig-Holstein will sein Denkmalschutzgesetz reformieren; die in Deutschland einzigartige Unterscheidung zwischen „einfachen“ und „besonderen“ Denkmälern soll aufgegeben werden. „Ab 1.Januar ist hier die Situation völlig unklar“, sagt Annelie Fesser. „Entweder es wird für eine Übergangszeit alles streng geschützt. Aber dann kann ich mich da gar nicht mehr blicken lassen.“ Oder der Schutz für die Mehrzahl der Häuser entfällt, wofür die Helgoländer in Kiel schon heftig ringen. Und dann würde das strenge Denkmal-Regiment in Anarchie umkippen und die Insel in einem Meer von Gauben, Riemchenfassaden, Jägerzäunen und schmiedeeisernen Laternen versinken. Eine Ortssatzung? Nach dem Denkmalschutz hat sie politisch kaum Chancen.
In einer Nebenstraße im Unterland hat die Gemeinde sich zu einer Architektur-Informationstafel durchgerungen. Doch das Lob darauf wirkt vergiftet: Helgoland „gilt einigen Fachleuten als blaue Mauritius der Architektur“. Einigen Fachleuten, aha. Und war die blaue Mauritius nicht ein Fehldruck?