Von Jürgen Tietz
Fußgängerzonen sind die autofreien Kinder der autogerechten Stadtplanung der Nachkriegsmoderne, die erstmals in den frühen 1950er-Jahren auftauchten. Es begann mit der Rotterdamer Lijnbaan; in Deutschland kommt der Treppenstraße in Kassel und der im ersten Abschnitt ebenfalls 1953 eingeweihten Kieler Holstenstraße eine Vorreiterrolle zu. Unter dem damaligen Stadtbaurat Herbert Jensen sollte die Wiederbelebung der stark kriegszerstörten Kieler Innenstadt als zentraler Standort für Handel, Dienstleistung und Verwaltung gelingen. In ihrem Buch „Das moderne Kiel 1900–1972“ schreiben Ulrich Höhns und Katrin Seiler-Kroll: „Der ungehemmte Fluss des Verkehrs und dessen zügige Heranführung an die City galt Jensen als entscheidende Voraussetzung für den Erhalt der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit des Gebietes. Daneben forderte er aber auch eine Aufgliederung des Stadtkörpers in überschaubare, dem Menschen angemessene Abschnitte sowie die Anlage von reinen Fußgängerwegen und Ruhezonen.“
Doch Kiel zeigt auch die städtebaulichen und verkehrstechnischen Schattenseiten dieses Konzepts. Denn der Autoverkehr wurde zwar aus der Holstenstraße verbannt. Doch er verschwand deshalb noch lange nicht aus der Innenstadt, sondern wurde lediglich auf die Entlastungsstraßen wie die Andreas-Gayk-Straße verlagert. Und auch die großen Parkhäuser, die sich zwischen Holstenstraße und Kieler Förde schieben, sind eine städtische Problemzone. Gleichwohl erhielt in den folgenden Jahrzehnten fast jede deutsche Stadt „ihre“ Fußgängerzone. Manche kürzer, andere länger – schienen sie den einzigen Ausweg zu bieten, um den explosionsartig anwachsenden Autoverkehr in den Stadtzentren zu bändigen. Der aufstrebende Einzelhandel im Wirtschaftswunderland benötigte Platz für sich und seine Kunden. Doch nicht nur die handtuchschmalen Gassen der historischen Altstädte wurden nun von ruhendem und fließendem Fahrverkehr entlastet.
Bis in die 1970er-Jahre verwandelte man auch breite Stadtstraßen wie die Kaufingerstraße in München oder die Königstraße in Stuttgart in reine Fußgängerzonen. Dahinter stand die Idee einer Innenstadt als reiner Einkaufszone, um ungestört vom Verkehr in überschaubaren städtischen Strukturen konsumieren zu können – lange bevor sich die Centerentwickler dieses Themas annahmen. Allerdings endeten Versuche im Fiasko, dieses autofreie Einkaufserlebnis durch Überdachungen auch vom Wetter unabhängig zu machen – etwa in der 1978 zur Fußgängerzone umgestalteten Wilmersdorfer Straße in Berlin. Von den Kunden nie angenommen, wurde die Überdachung hier folgerichtig wieder abgebaut und die Fußgängerzone damit aufgewertet.
Die Konsummeile als Auslaufmodell?
Inzwischen ist das Modell Fußgängerzone insgesamt in die Jahre gekommen. Spätestens eine Stunde nach Schließung des letzten Geschäfts verwandeln sich die meisten Fußgängerzonen in einen Hort der menschenleeren Trostlosigkeit, der nicht zum abendlichen Flanieren einlädt. Denn die meisten Fußgängerzonen wurden mit den Jahren monofunktional. Die Entflechtung der Verkehrsströme ging bis in die 1970er-Jahre mit einer strikten Entflechtung der innerstädtischen Nutzungen einher. Sie trat an die Stelle der historisch gewachsenen Durchmischung von Wohnen, Einkaufen und Arbeiten.
Dort, wo heute von zehn bis höchstens 22 Uhr eingekauft wird, wird kaum noch gewohnt. Bestenfalls finden sich in den Geschossen oberhalb der Ladenzone Büros oder Rechtsanwaltskanzleien, die sich gerne mit wohlklingenden innerstädtischen Adressen schmücken. Oder es entstanden monostrukturelle Kneipenmeilen, etwa in Düsseldorf und Frankfurt-Sachsenhausen. Auch dort mag kaum jemand wohnen, denn die Geräuschkulisse dort von lautstarken alkoholisierten Touristen geprägt. Letztlich ist das Dilemma der europäischen Fußgängerzonen ein Dilemma der Innenstädte insgesamt: Tagsüber sind sie unattraktiv überlaufen, abends sind sie entweder unattraktiv leer oder laut.
In den letzten Jahren haben viele Städte innerstädtische Plätze mit einer attraktiven Freiraumgestaltung aufgewertet. Bei Fußgängerzonen ist dies nicht in gleichem Maß gelungen, da sie jenseits ihrer Primärfunktion, nämlich einen sicheren Weg von Geschäft A zu Geschäft B zu gewährleisten, kaum einen stadträumlichen Mehrwert entwickeln. Und das ausgerechnet an den zentralen, oft prominentesten Orten der Städte.
Eng an die Frage der Monofunktionalität angebunden ist der Aspekt der Gestaltung: Selbst wenn in den Fußgängerzonen der Wildwuchs der überbordenden Leuchtreklamen und Markisen an den Geschäften dank Stadtplanungsamt und Architektenschaft auf ein halbwegs erträgliches Maß zurückgeschnitten wurde und der Straßenraum von Sonderangebotsständern und Plakataufstellern befreit ist, stellt sich häufig genug die Frage: Um was handelt es sich eigentlich? Klassische Straßen sind es nicht mehr, meist darf man dort nicht einmal Rad fahren. Mit Plätzen haben sie zwar oft die homogene Gestaltung und Möblierung, die Dominanz der Fußgänger sowie Randnutzungen wie Cafés gemein, aber nicht die kompakte Form. Eine eigene Identität hat dieser Stadtraumtyp nie gefunden. Bezeichnenderweise gibt es bis heute nur den verkehrstechnokratischen Begriff „Fußgängerzone“, aber kein populäres kürzeres Wort. Amerikaner sagen nicht zufällig oft „Mall“ dazu – wie zu ihren geschlossenen Einkaufszentren.
Inzwischen werden die in die Jahre gekommenen knochenförmigen Betonfertigsteine in Grau und Schwarz zunehmend ausgewechselt, die in den 1970er-Jahren deutschlandweit quer zum eigentlichen Verlauf der Straßen in Streifenform verlegt worden waren. Wo dies geschieht, stellt sich die Grundsatzfrage: Soll bei einer Neugestaltung ein Straßenraum erkennbar werden, mit zentraler „Fahrbahn“ und seitlichen Trottoirs? Oder soll sich der Bodenbelag einfach nur zwischen den begrenzenden Häuserzeilen spannen? Oder bieten sich trotz alltäglichen Lieferverkehrs zu morgendlicher Stunde vielleicht ganz andere Gestaltungsansätze? Doch Vorsicht: „Fußgängerzonen und Spielstraßen, die schwache Verkehrsteilnehmer schützen, haben aufgrund von Überregulierung und überdifferenzierten Gestaltungen allzu oft ihre baukulturelle Angemessenheit verfehlt“, warnten jüngst Bernhard Heitle und Carl Zillich im Baukulturbericht „Wie findet Freiraum statt?“.
Die Idee der Fußgängerzone als Kind der Moderne hat nur dort eine wirkliche stadträumliche Qualität entwickelt, wo sie von Anfang an im architektonischen und städtebaulichen Konzept auch vorgesehen war. Als Paradebeispiel dafür dient die Prager Straße in Dresden, dieser späte Nachkomme der Rotterdamer Lijnbaan. Leider begegnete man dem differenzierten städtebaulichen und freiräumlichen Konzept der Prager Straße nach 1990 in retrospektiver Hilflosigkeit – und verwandelte die breit gelagerte, ebenso offene wie öffentliche Fußgänger- und Aufenthaltszone in einen seltsam ambivalenten Ort: In ihrer ursprünglichen Anlage platzartig aufgeweitet, erhielt die Prager Straße nun durch das unangenehm dominante Beleuchtungssystem eine Ausrichtung.
Durchmischung als Chance
Die Fußgängerzonen befinden sich in einer Sinnkrise. Ihre einstige Funktion haben längst die innerstädtischen Einkaufscenter übernommen. In alten Städten mit schmalen Gassen werden sie auch in Zukunft unverzichtbar bleiben, um den Passanten den benötigten Raum gegenüber stärkeren Verkehrsteilnehmern zu sichern. Aber überall dort, wo die großen Warenhäuser als zentrale Publikumsmagneten geschlossen werden, beschleunigt sich der Niedergang der Fußgängerzonen.
Vielleicht lässt sich aber von Zürichs Bahnhofstraße lernen. Dort bleiben Bürgersteig – samt Baumbestand – und Fahrbahn klar getrennt, die Tram sorgt für städtische Atmosphäre (und für Entlastung bei fußfaulen Flaneuren). Der Autoverkehr bleibt weitgehend außen vor, darf die Bahnhofstraße aber stellenweise queren! Darauf könnte man zwar gut verzichten, grundsätzlich bietet die Durchmischung mit anderen Verkehrsformen eine attraktive Alternative zur reinen Fußläufigkeit. Fußgänger, Trambahn und Radfahrer schließen sich in einem gemeinsamen Straßenraum nicht aus. Zudem zeigt sich in Zürich, wie unprätentiös selbst eine der teuersten Einkaufsstraßen Europas daherkommen kann: mit simpelstem Asphalt als Belag der Bürgersteige, ohne dass dies die räumliche Qualität mindern würde.
In Deutschland ist die Frage der zukünftigen Gestaltung von Fußgängerzonen als öffentliche Räume eng vernetzt mit der Frage nach der künftigen Entwicklung und Nutzung der Innenstädte insgesamt zu betrachten. Der Monokultur Fußgängerzone sollte dabei eine stadträumliche Mischkultur entgegengesetzt werden – sie dürfte, ähnlich wie bei der Waldwirtschaft, weniger anfällig sein.
Dabei muss naturgemäß jede Stadt zu einer eigenen Lösung gelangen. Sei es per Qualifizierung der Fußgängerzonen durch zurückhaltende gestalterische Maßnahmen oder aber durch eine Rückkehr zu einer fußgänger- und einzelhandelsverträglichen Verkehrsmischung. Der Gefahr der Übergestaltung von Fußgängerstraßen gilt es ebenso auszuweichen wie der Preisgabe dieser öffentlichen Räume an allzeit interessierte Investoren. Die raren Beispiele ganzheitlicher städtebaulicher Planungen von Fußgängerzonen im Duktus der Nachkriegsmoderne aber gilt es zu bewahren – statt sie wie in Dresden entstellend zu banalisieren.
Dr. Jürgen Tietz ist Kunsthistoriker und Journalist in Berlin.
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