Von Roland Stimpel
Gerade die Schwächsten bieten manchmal das Wichtigste – zum Beispiel schwerbehinderte Kinder und Jugendliche der Potsdamer Oberlin-Sonderschule. „Diese jungen Leute sind beeindruckend kompetent und sensibel für ihre Bedürfnisse“, stellte die Architektin Ruth Rademacher dort auf einem Workshop fest. Nachdem sie für das Büro Schagemann Schulte einen Wettbewerb für den Umbau der Schule gewonnen hatte, wollte sie nun mit den künftigen Nutzern herausfinden: Was wollen und brauchen eigentlich junge Spastiker, Autisten und vom Muskelschwund Betroffene in ihren Räumen?
Rademacher lernte weit mehr: „Sie haben mir einen Blick aufs Leben eröffnet, wie ich ihn vorher noch nicht hatte.“ Zum Beispiel Christian und Henning, beide wegen einer Muskelkrankheit buchstäblich an den Rollstuhl gefesselt. Sie erwiesen sich als Experten für Brandschutz und Erste Hilfe, die jeden Löscher, alle Alarmknöpfe und Fluchtwege kannten. „Die beiden wären bei Feuer am hilflosesten. Also haben sie sich in alles eingearbeitet, was sie im Notfall retten kann.“ Oder Kinder, die schon den Tod von Klassenkameraden erfahren mussten. „Das ist eine Erfahrung, die hier viele machen müssen.“ Als Ort des Abschieds gab es in der alten Schule einen Aussegnungsplatz mit Bildern und Blumen. Der wurde in der Umbauplanung zunächst ganz vergessen. Erst die Schüler im Workshop sorgten für einen Andachtsraum. „Und zwar nicht in einem versteckten Winkel, sondern an einem Ort, wo jeder vorbeikommt.“
Von Rollstuhlgeschwindigkeiten und der Orientierung von Autisten, von der Ausdrucksstärke Sprachbehinderter mit Kamera und Filzstift, von der Liebe zum Schmuse- und dem Hass auf einen Therapieraum berichtete Rademacher auf der Berliner Tagung „Architektur macht Schule“ vor Kollegen, Lehrern und den Vertretern von Städten. Die Bundesarchitektenkammer, der Deutsche Städtetag und die Lehrergewerkschaft GEW hatten sich zusammengefunden, um voneinander zu lernen: über Architektur als Unterrichtsthema – und über Lehr- und Lernräume als Thema der Architektur. „Es geht um einen Brückenschlag zwischen Architekten und Lehrern“, stellte Carl Schagemann fest, der sich mit Projekten sowie ehrenamtlich für die Brandenburgische Kammer in Schulen engagiert.
Den Gewinn daraus beschreibt sein Kollege Thorsten Försteling aus dem Bielefelder Büro Alberts, der bei Schulsanierungen „pädagogische Bauausschüsse“ initiiert: „Da entsteht auf beiden Seiten Fachwissen. Pädagogen werden ein bisschen zu Architekten und Architekten zu Pädagogen.“ Aus Lehrersicht antwortet Mascha Kleinschmidt-Bräutigam vom Berlin-Brandenburger Landesinstitut für Schule und Medien: „Architekten an den Schulen bieten uns einen Fremdblick, der unheimlich wertvoll ist.“ Und lernen selbst Wertvolles: „Wer Schulen plant, muss natürlich die pädagogischen Ziele kennen, die sie heute haben. Es geht nicht mehr um die Anhäufung von Wissen, sondern um den Umgang mit Wissen – und das erfordert ganz andere Räume.“
Und es bietet neue Chancen, Architektur in der Schule zu vermitteln. Nicht als eigenes Fach – dafür sind die Lehrpläne viel zu verstopft. Auch nicht als Paukstoff im Kunst- oder Geschichtsunterricht mit Stilkunde von der Romanik bis zur reflexiven Moderne nebst Jahreszahlen zu jedem Zeitgeist. Sondern aus Pädagogensicht als Mittel, um Lehrstoff anschaulich zu machen und neue Bezüge herzustel-len. So kennt der Mathematiker und Didaktiker Karl-Heinz Schaedler aus Speyer „den Spaß und die Lust, mit Architektur Mathematik und Naturwissenschaften zu lernen. Allein in einem Unterrichtsprojekt über holländische Schwimmhäuser können Sie Mathematik, Physik, Biologie, Geografie und mehr vermitteln.“
Keine kleinen Architekten ausbilden
Schaedler hat mit Kollegen im Auftrag der Wüstenrot-Stiftung Unterrichtsmaterial entwickelt, das hier erhältlich ist (PDF mit 2,4 MB). Seine Kollegin Eva-Maria Kabisch zeigt die Eignung der Architektur für den Deutschunterricht: „Immer wieder spielen doch in der Literatur Häuser eine wichtige Rolle. Mit Fünfklässlern kann man Cornelia Funkes ,Tintenherz‘ behandeln, mit etwas Älteren Harry Potters Schloss Hogwarts. Und in der Oberstufe die Symbolbedeutung der Türen bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder das scheinbar so bürgerlich-ordentliche Verbrecherhaus in Fontanes ,Unterm Birnbaum‘.“
Natürlich diskutierten Architekten, Lehrer und Schulträger auch den oft kargen und mühsamen Alltag: Baumängel von der Akustik bis zum Abort, das Wechselbad von unterlassener Pflege und überstürzten Reparaturen oder die Mühen der Verständigung zwischen ambitionierten Architekten, idealistischen Lehrern, anspruchsvollen Eltern und formal denkenden Behörden. Aber die drei Gruppen entdeckten auf der Tagung auch, dass ihre scheinbar weit auseinanderliegenden hehren Ziele beim Thema Schule eine Schnittmenge finden. Bildungsdezernent Klaus Hebborn vom Deutschen Städtetag beschreibt als Vertreter der Kommunen „den Wert der Schulen für die Stadtentwicklung – als attraktive Wohnorte, für die örtliche Wirtschaft und als kulturelle Mittelpunkte“. Die stellvertretende GEW-Vorsitzende Marianne Demmer will auch per Architektur „die Wertschätzung der Schule in der Gesellschaft erhöhen“. Und der Weimarer Architekt und Lehrerausbilder Hannes Hubrich sieht gut behauste und fachlich kundige Schüler als spätere Zentralfiguren der Baukultur: „Wir wollen natürlich keine kleinen Architekten ausbilden. Aber wir wollen Raumverständnis vermitteln, das vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten der Welt offenbart und das gebildete Bauherren zum Mitmachen anregt.“