Von Roland Stimpel
Bei Stuttgart 21 haben einfach alle recht: Merkel und Mappus, wenn sie sagen, Demokratie ist, was die vom Volk Gewählten beschlossen haben. Aber natürlich hat auch das protestierende Volk recht, wen es sagt, wir sind viele und Demokratie ist, was wir wollen. Die Planer haben recht, die aus 100 Hektar Gleisfläche 100 Hektar Stadt machen wollen. Aber natürlich auch die Bürger, denen das kein Opfer von Bonatz-Flügeln und Schlossgartenbäumen wert ist. Recht haben die Beschleuniger des Bahnverkehrs, aber auch die, die wenige gesparte Minuten gegen viele investierte Milliarden aufrechnen. Ein sensibler Juror, den wir hier vor Namensnennung verschonen möchten, hatte recht, als er im Wettbewerb für Christoph Ingenhoven stimmte. Aber natürlich auch, als er später dessen Dachaugen „Pickel“ nannte. Frei Otto hatte recht, als er selbst am Tiefbahnhof plante. Und hat genau so recht, da er nun am Baugrund zweifelt (dem geologischen). Und wo Demonstranten für ihr demokratisches Recht sitzblockieren und Polizisten einen demokratischen Beschluss exekutieren, da haben nach der Rauferei natürlich beide recht, zusammen mit dem alten Dostojewski: „Alle sind an allem schuld.“ Am meisten recht hat natürlich Ingenhoven selbst: sowohl mit seinem vorwärtsblickenden Wagemut wie mit seiner eher konventionellen Haltung, in der Beton Fortschritt ist und man nicht „jeden historischen Schnipsel“ erhalten kann. Ach ja, Ingenhoven hat einen bitteren Flirt hinter sich: Überirdisch schöne Augen hat er der ideellen Gesamtschwäbin an ihrem Bahnhof gemacht, aber die fühlt sich unterirdisch angebaggert. Wir verstehen den abgewiesenen Liebhaber und die genervte Schöne, und wir empfehlen für alles einen Kompromiss: Stellt die Haupthalle des Bahnhofs so quer, wie die Bahn die Gleise will und wie sich ihre Gegner dagegen stellen. Legt die Gleise als Kompromiss nur ein bisschen tiefer und lasst die ICEs durch die Bahnhofs- Haupttore in den Schlossgarten fahren. Das sieht zwar doof aus und nichts funktioniert mehr richtig. Aber alle behalten recht, und so kommt wieder Frieden nach Stuttgart.
„alternativlos“
Im Januar wurde es nun gekürt, das „Unwort des Jahres 2010“, das auch auf Stuttgart-21 angewandt wurde. Zurecht haben die Juroren erklärt, der Begriff „alternativlos“ beinhalte etwas Undemokratisches, gar Diktatorisches. Wer es sagt, behauptet im Prinzip auch, dass er/sie recht habe und ein Widerspruch oder Protest nicht gerechtfertigt sei.
Alle Planungsdisziplinen können aus Stuttgart-21 und dem Unwort 2010 viel lernen. Aus ihrem täglichen Arbeiten wissen sie ohnehin, dass Planungs- und Bauprojekte immer mit gestalterischen Alternativen und Kostenvarianten untersucht werden. Auch Bürgerinformation, Präsentationen in Gremien und Öffentlichkeitsarbeit – dank Internet & Co. heute stark vereinfacht – gehört inzwischen zu fast jedem Projekt.
Bei besonderen, einzelnen, wichtigen Bauvorhaben kann auch eine Forderung nach Volksabstimmung entstehen und im Betroffenenkreis durchgeführt werden. So wurde schon das eine oder andere Theater oder Museum verhindert oder modifiziert, ein Park verändert, eine Nutzung mit Lärmemission wieder fallen gelassen. Uns Planern sollte da “kein Zacken aus der Krone” fallen und Arroganz hilft schon gar nicht. Eine Bürgerbeteiligung, die aber nur die Farbgebung der Fassaden und die Pflanzen auf Dach und Balkon zum Abstimmungsgegenstand hat, wird zur Farce, wie bei den Neubauvorhaben auf dem Gleisvorfeld in Stuttgart.
Ob eine Volksabstimmung über Stuttgart-21 zum jetzigen Zeitpunkt noch Sinn macht, ist äußerst fraglich. Das Projekt zeigt aber, dass sich die vorhandenen Verfahren abgenutzt haben, weil sie den Bürger nicht mehr mitnehmen. Wer sich als Laie bei Planoffenlegungen durch 40 Aktenordner arbeiten soll ist völlig überfordert und ein “empfehlendes Statement” zu einem Milliardenprojekt abzugeben bleibt ein “zahnloser Tiger” im Verfahren.
In Stuttgart ist das Verfahren durch die Geissler-Schlichtung vielleicht noch irgendwie zurück in die Spur gekommen. Für künftige Großprojekte müssen jedoch andere, neue Verfahren gefunden werden, bei denen der Bürgerentscheid am ANFANG stehen könnte, wenn es noch ums Grundsätzliche geht. Ist ein Projekt auf der Schiene, muss Vertragssicherheit für alle Partner herrschen, auch für den Planer und seine Angestellten.
Thomas Herrgen, Landschaftsarchitekt, Frankfurt am Main