Es gibt Worte mit Verfallsdatum. „Schutzmann“, „Waldsterben“, „Wählscheibe“ sind solche Begriffe, die ihre Bedeutung – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – verloren haben und langsam aus unserem Sprachalltag verschwinden. Auch die „Wohngemeinschaft“ scheint mir so ein Wort zu sein: Zweifellos wohnen weiterhin viele Studenten und Auszubildende in WGs; in den Medien und in Gesprächen taucht der Begriff aber höchst selten auf. Und wenn, dann als untrügliches Zeichen des demografischen Wandels – nämlich als „Senioren-WG“. Der berühmteste WG-Bewohner unserer Zeit ist kein Student, sondern ein Rentner: der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf.
Kein Wunder, denn die Deutschen, vor allem in ihrer Ausprägung als Stadtmensch, leben immer häufiger allein: Der jüngste Mikrozensus gibt die Zahl der Ein-Personen-Haushalte in Deutschland mit etwa 39 Prozent an. Das ist die größte Bevölkerungsgruppe, gefolgt von Haushalten mit zwei Personen (33,6 Prozent im Jahr 2006). Nach den Ergebnissen des Mikrozensus gibt es in Deutschland dagegen kaum noch Haushalte, in denen drei und mehr Generationen unter einem Dach zusammenleben – im Jahr 2006 war das noch ein Prozent der Haushalte. Und die Zahl der Ein-Personen-Haushalte steigt weiter – gerade in den großen Städten, die bei uns in Nordrhein-Westfalen dominieren.
Kein Trend, der nicht einen Gegentrend verursachen würde. In den Analysen von Architekten und Stadtplanern, der Wohnungswirtschaft und von Immobilieninvestoren tritt gegenwärtig eine Entwicklung immer deutlicher hervor: Das Interesse an gemeinschaftsorientierten Wohnformen in der Stadt ist ungemein groß. „Wir wohnen anders“ – so nennt sich ein solches Wohnprojekt, das die Architekten und Stadtplaner Norbert Post und Hartmut Welters in Dortmund realisiert haben und in diesem Jahr am Tag der Architektur öffentlich vorstellten. Die Art und Weise, wie sich hier 25 Bauherren zusammengetan haben, um individuelle Eigentumswohnungen zu errichten, die sich – in baulich moderner Architektur – inhaltlich fast wie eine dörfliche Gemeinschaft organisieren, hat über 500 Interessierte angelockt.
Unter den Bauherren und -frauen, die gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte favorisieren, finden sich häufig junge Familien; aber in großer Zahl auch Personen jenseits der Familienphase, die sich rechtzeitig auf ein vitales Leben und Wohnen im Alter vorbereiten wollen. Das Angebot, das diesem wachsenden Interesse gegenüber steht, ist noch verschwindend gering. Es ist kaum überspitzt, zu sagen: Wer eine entsprechende Wohnung haben möchte, muss sie schon selbst bauen.
Der demografische Wandel kommt schneller, als viele es heute wahrhaben wollen. Im Jahr 2030, so die Prognose des Statistischen Bundesamtes, beträgt die Quote der über 60-jährigen in Deutschland etwa 35 Prozent. Ich meine, hier liegt nicht nur ein wichtiger Aufgabenbereich für Architekten, Innenarchitekten, Landschaftsarchitekten und Stadtplaner. Es ist auch eine zentrale Chance auf dem Markt, im interdisziplinären Verbund Modelle zu entwickeln, die von der Wohnungswirtschaft im Zuge der laufenden Sanierungen unserer Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit bis in die 1980er-Jahre wirtschaftlich umgesetzt werden können. Die gemeinschaftsorientierten Typologien, die derzeit entwickelt werden, sind meist noch prototypisch zu sehen. „Lebendige Nachbarschaften“, „gemeinschaftsorientiertes Wohnen“, „Mehr-Generationen-Häuser“ oder eben „Wohngemeinschaften“ – wichtig wird es sein, in den kommenden Jahren ein Angebot zu schaffen, das altengerechte Wohnformen ebenso als Normalfall betrachtet wie das typische Einfamilienhaus oder die 3- bis 4-Zimmer-Wohnung.
Henning Scherf trägt übrigens weiterhin dazu bei, dass das Wort „Wohngemeinschaft“ nicht ausstirbt. Als WG-Bewohner mit mehr als 20 Jahren Erfahrung denkt er konsequent bis ins hohe Alter weiter – und hat schon Konzepte für „Demenz-WGs“ entwickelt. Die wiederum hoffentlich dauerhaft ein Sparten-Thema bleiben werden.