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Von wegen Endstation

Alte und pflegebedürftige Menschen haben individuelle und gemeinschaftliche Wohnwünsche, die derzeit noch zu selten erfüllt werden

01.11.20115 Min. Kommentar schreiben
Selbstbestimmt im Alter: Wer betagt ist und manchmal Hilfe im Alltag benötigt, ist kein Pflegefall. Sondern ein Mensch mit besonderen Wohnansprüchen.

Von Cornelia Dörries

Ein älteres Ehepaar sitzt gemeinsam beim Abendessen, es wird erzählt und gelacht, und man spürt die entspannte Zweisamkeit, die vertraute Normalität. Bis die Frau eine Bratpfanne in den Kühlschrank räumt. Erst jetzt nimmt man die vielen Zettel wahr, die an Herd und Schubladen kleben, und auch, mit welcher nachsichtigen Routine der Mann die Pfanne wortlos wieder aus dem Kühlschrank holt. Denn seine Frau leidet an Demenz.
Mit dieser Szene beginnt der kanadische Film „An ihrer Seite“, der davon erzählt, wie sich das Leben eines Paares nach 44 gemeinsamen Jahren durch den Ausbruch der Krankheit ändert. Die häuslichen Abläufe lösen sich allmählich auf, bis der Mann es allein nicht mehr schafft und seine Frau schweren Herzens in ein Pflegeheim bringt – ein typischer Verlauf.

In Deutschland gibt es derzeit etwa 1,2 Millionen an Demenz Erkrankte; im Jahr 2050 werden es voraussichtlich zwei Millionen sein. Schon heute sind 60 Prozent der in Pflegeeinrichtungen Lebenden Demenzpatienten. Das erfordert neue Betreuungs- und Wohnkonzepte – und damit neue architektonische Lösungen.

Vom Pflegefall zum Bewohner

Vor noch nicht langer Zeit beschränkten sich die Konzepte für das Wohnen im Alter auf Sonderbauten: Alten- und Pflegeheime, die nicht nur aussahen wie Krankenhäuser, sondern auch so funktionierten. Ihre Insassen waren keine Bewohner mit individuellen Ansprüchen mehr, sondern nurmehr behandlungsbedürftige Pflegefälle, verdammt zur rundumversorgten Passivität. Dieses fordistische Pflegemodell folgte dem Leitmotiv „satt und sauber“ und spiegelte sich wider in riesigen Heimen mit sterilen Doppelzimmern, langen, stereotypen Stationsfluren, zentralen Großküchen und Wäschereien sowie von den Zimmern separierten Rehabilitations- und Beschäftigungsmöglichkeiten.

In den 1980er-Jahren wurden jedoch Altenheime nicht mehr nur als Pflegeasyle betrachtet, sondern als Orte mit Individualität, Privatheit und Geborgenheit. Zugleich nahmen auch die nicht-stationären Pflegeangebote zu. Es etablierten sich das betreute Wohnen, ambulante Dienste und teilstationäre Pflegemöglichkeiten.

Das Leben in kleinen Gruppen fördert die Autonomie der Bewohner und geht mit der Aktivierung von Kräften und Fähigkeiten einher.

Die Aachener Architektin Gudrun Kaiser beschäftigt sich schon seit gut zwei Jahrzehnten mit dem Planen und Bauen für das Wohnen im Alter. Als sie am Anfang ihrer Berufstätigkeit einen Auftrag für die Sanierung eines Altenheims bekam, gab es zum Thema Architektur und Pflege nichts: keine Fachliteratur, keine Planungshandbücher und vor allem kein öffentliches Interesse. „Pflegeheimplanung war in der Nähe des Krankenhausbaus angesiedelt, aber als Bauaufgabe weniger attraktiv“, erinnert sie sich.

Gudrun Kaiser setzt sich heute für wohnungsähnliche und kleinteilige Wohngruppenkonzepte ein, die einen Rahmen für verschiedene Zielgruppen mit und ohne Pflegebedarf bieten und ohne monofunktionale Sonderbauten auskommen. „Eine Alteneinrichtung soll vor allem eine Wohneinrichtung sein, die auch als Studentenwohnheim oder von anderen gemeinschaftlich organisierten Zielgruppen genutzt werden kann“, fordert sie. Doch nicht nur Gudrun Kaiser, sondern auch Nutzer und Politik favorisieren inzwischen kleinteilige Alternativen zum klassischen Heim: Haus- und Wohngemeinschaften für acht bis zwölf Bewohner, die je nach Bedarf ambulant oder von einer Präsenzpflegekraft betreut werden können und in Räumen mit häuslicher Normalität leben.

Hier wird unter Beteiligung der Bewohner gekocht, geputzt und gewaschen, es gibt Platz für gemeinsame Aktivitäten und die Möglichkeit zum Rückzug in die mit vertrautem Inventar möblierten Zimmer oder Mini-Apartments. Farben, Materialien und Formen haben auf die Bewohner eine anregende und aktivierende Wirkung. Wer hier wohnt, muss bei einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands nicht in ein anderes Heim umziehen, sondern wird weiter in der vertrauten Umgebung betreut.

Gudrun Kaiser konzentriert sich mittlerweile ganz auf die Beratung von Kommunen, Trägern, Unternehmen, Architektenkollegen und Wohnungsbaugesellschaften. Vor allem bei den Betreibern von herkömmlichen Altenheimen stößt sie mit ihren Ansätzen noch häufig auf Widerstand: Ein 80-Betten-Haus scheint aus Sicht der Anbieter eben wirtschaftlicher zu sein als eine kleine Wohngruppe für maximal ein Dutzend Personen. Doch nicht wenige dieser großen Häuser – vor allem die anfangs beschriebenen, krankenhausähnlichen Anlagen in großen Städten – klagen bereits über Leerstand. Denn wo es viele alternative Wohnmöglichkeiten für Alte und Pflegebedürftige gibt, muss niemand mehr ins herkömmliche Heim ziehen.

Im Katharinenstift in Remscheid-Lennep leben in zwei Häusern je drei Gemeinschaften. „Auf eine zentrale Erschließung mit Verteilerfunktion wird komplett verzichtet“, so das Bonner Büro Moll Architekten.

Auch der Gesetzgeber unterstützt die Entwicklung hin zu dezentralen, in das Umfeld integrierten Wohnformen. Doch an einheitlichen Regelungen für Planung und Bau mangelt es noch. „Die baurechtlichen Rahmenbedingungen sind für Planer schwer zu durchschauen“, so Gudrun Kaiser. „Im Bereich der Alten- und Pflegeeinrichtungen kollidieren Baugesetz und Sozialgesetz.“ Architekten haben nämlich nicht nur mit den zwei getrennten Systemen von Krankenversicherung und Pflegeversicherung und der planungsrechtlich relevanten Frage zu tun, was Heim ist und was nicht, sondern auch mit den von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Heimgesetzen.

Allerdings lebt nur ein Drittel der Pflegebedürftigen überhaupt in einem Heim; der Großteil der älteren Menschen verbringt den Lebensabend in den eigenen vier Wänden. Doch immer häufiger handelt es sich dabei um neue Wände. Denn viele ziehen nicht in angestaubte Seniorenreservate, sondern werden auf ihre nicht ganz so alten Tage noch mal zu Bauherren. Oft schließen sich Gleichgesinnte zu selbstorganisierten Gruppen zusammen. Für solche Initiativen wünscht sich Gudrun Kaiser mehr Unterstützung von Ländern und Kommunen. „Das ist ein ganz neuer Markt. Dafür sollten die Gemeinden günstige Grundstücke zur Verfügung stellen und die KfW entsprechende Kredite.“ Diese Baugruppenprojekte zieht es nicht selten in lebendige Innenstädte. Planerisch sind diese Neubauten zumeist abgeschlossene, barrierefreie Wohneinheiten, die sich um Gemeinschaftsräume und kommunikative Außenbereiche mit Aufenthaltsqualität gruppieren.

Und selbstverständlich muss es sich bei diesen Projekten keineswegs um „Senioren only“-Anlagen handeln – wer sich dann wie zum gemeinschaftlichen Wohnen zusammenschließt, ist Sache der Gruppen selbst. Selbstbestimmung im Alter muss kein Thema für Sonntagsreden bleiben.

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