Text: Simone Hübener
Holzschindeln haben als Dacheindeckung und Fassadenbekleidung nicht nur in Deutschland eine jahrhundertealte Tradition. Die großen Stadtbrände verdrängten das Holz jedoch zugunsten anderer Materialien wie Dachziegel und Schiefer. Vor allem in der Schweiz verwenden einige wenige Architekten den historischen Baustoff seit geraumer Zeit wieder – etwa für die Kapelle des heiligen Benedikt in Sumvitg von Peter Zumthor und die Chesa Futura in Sankt Moritz von Norman Foster. Aber auch hierzulande gibt es interessante Beispiele.
Baumhäuser in Hamburg
Bei den „Treehouses“ in der Hamburger Bebelallee – einer Aufstockung von sechs Zeilenbauten aus dem Jahr 1959 – stand für blauraum architekten die Verwendung von Holz als Fassadenmaterial von Anfang an fest. Es sollte auf die Holzrahmenbauweise der zwei neuen Geschosse hinweisen. Allerdings mussten die Architekten erst noch den Bauherrn überzeugen, der hohen Wartungsaufwand fürchtete.
Nachdem verschiedene Deckungsarten in Betracht gezogen worden waren, fiel die Entscheidung schließlich für eine dreilagige Bekleidung mit Schindeln aus Alaska-Zeder. Damit erfüllten sich die Architekten zunächst den Wunsch nach einer optisch möglichst homogenen Fassade, die gut mit dem Klinker des Sockelbaus harmoniert. Außerdem ist die dreilagige Ausführung als harte Bedachung eingestuft, was die Erfüllung der Brandschutzauflagen entscheidend vereinfacht. Und schließlich schützt der hohe Anteil ätherischen Öls im Holz die Bekleidung äußerst wirkungsvoll gegen den Befall durch pflanzliche und tierische Schädlinge.
Um die Fassade allerdings überhaupt realisieren zu können, wurden nicht nur die fertigen Schindeln von weit her transportiert, auch die Handwerker hatten viele Kilometer zurückzulegen. Denn in ganz Deutschland war niemand zu finden, der die Schindelbekleidung in angemessener Zeit hätte fertigstellen können. Deshalb wurden Schindelmacher aus Südtirol beauftragt. Sie befestigten an den sechs Gebäuden rund 1,4 Millionen Schindeln mit 2,8 Millionen Nägeln (die unbedingt bei den statischen Berechnungen berücksichtigt werden müssen).
Fischbäuche in Berlin
Mit einem so beeindruckenden Verbrauch wie beim Hamburger Projekt kann die Schindelbekleidung der Werkhalle des neuen Artis-Betriebsgebäudes in Berlin von Roswag Architekten nicht aufwarten. Sie überzeugt durch andere Besonderheiten. Zum einen trat in diesem Fall der Bauherr, ein Hersteller hochwertiger Ladeneinrichtungen, Messestände und Prototypen, mit dem Wunsch nach einer Schindelfassade an die Architekten heran. Es drohte teuer zu werden, doch der Bauherr hatte eine Idee, wie sich sein Wunsch am Ende doch noch wirtschaftlich realisieren ließ: Der Lieferant brachte die Schindeln nur auf die Baustelle und schulte den Bauherrn und seine Mitarbeiter in Sachen Montage. Diese nagelten die Schindeln in zweifacher Deckung selbst auf die Unterkonstruktion – in einer Qualität, die alle überzeugte. Um weitere Kosten zu sparen, wurden Schindeln verwendet, deren Breite zwischen zehn und 30 Zentimetern variierte. Schindeln derart verschiedener Abmessungen sind wesentlich preiswerter als einheitlich breite.
Wie haltbar eine Schindelfassade letztlich ist, hängt neben der Holzart entscheidend von der Herstellung ab: gesägt oder gespalten. Roswag Architekten trafen die Auswahl so, dass der Bauherr von den Vorteilen beider Varianten profitiert. Die Rückseite der verwendeten Schindeln ist gesägt, was aufgrund der planebenen Oberfläche die Befestigung auf der Unterkonstruktion wesentlich erleichtert. Auf der Vorderseite sind die Schindeln dagegen gespalten. Dadurch bleiben die Holzfasern weitgehend unbeschädigt und die Bekleidung verhält sich Witterungseinflüssen gegenüber weitaus beständiger.
Beim Blick in die Werkhalle fällt ein weiteres traditionelles Element des Holzbaus auf. Rund 20 Meter lange Fischbauchträger bilden in statisch und materiell optimierter Bauweise das Dachtragwerk. Der Untergurt dieses Trägertyps ist so geformt, dass er dem Verlauf des Biegemoments unter Gleichlast entspricht. So treten in den Gurten im Idealfall nur konstante Normalkräfte auf. Daraus ergab sich für dieses Gebäude der Vorteil, dass der Untergurt aufgrund seiner Parabelform an den Auflagern keine statische Höhe mehr besitzt – in der Mitte sind es 1,85 Meter. Dadurch musste auch das unter dem Hallendach angeordnete Lichtband nicht unterbrochen werden. Neben dieser optisch guten Lösung gelangt gleichzeitg mehr Tageslicht in die Halle.
Der Obergurt und die Diagonalen sind aus Brettschichtholz gefertigt; der Untergurt besteht aus Furnierschichtholz. Letzteres kann die größeren Zugkräfte aufgrund der in Längsrichtung ausgerichteten Fasern besser aufnehmen. An den Seiten wird der Obergurt durch bündig angeschlossene, vorgefertigte Dachelemente stabilisiert. So verbinden sich bei diesem Gebäude moderne Materialien mit einer historischen Konstruktion zu einem gelungenen Ganzen.
Simone Hübener ist Fachjournalistin für Architektur und Bauen in Stuttgart.