Text: Cornelia Dörries
16:15 ab Paddington
Was an den Archway Studios am meisten verwundert, ist die Tatsache, dass nicht schon früher jemand auf diese Idee gekommen ist. Auf die Idee nämlich, die gemauerten Eisenbahnviadukte Londons mit ihren gut 10.000, meist ungenutzten Bögen als Ressource der Stadtentwicklung zu erschließen. Das Londoner Büro undercurrent architects hat mit seinem Modellprojekt zum Wohnen und Arbeiten nun gezeigt, dass sich die wuchtigen Anlagen aus dem 19. Jahrhundert sehr wohl als Grundlage für moderne und sogar großzügige Bauten eignen. Die Architekten platzierten vor dem Bogen eine stahlverkleidete, mit dem Viadukt nicht verbundene, gefächerte Struktur, die den so entstehenden Innenraum schützend mit mehreren lärmabsorbierenden Schichten abschirmt und ihn über große Schlitze und Öffnungen mit Licht versorgt. Ein Fundament aus Gummi dämpft die Vibrationen der nach wie vor verkehrenden Züge. Erst durch diese Struktur öffnet sich der Bogen, eigentlich ein lichtloser, enger Raum, als bespielbare Fläche. Verputzt und ganz in Weiß gehalten, bietet er mit seinem Volumen neues Gestaltungspotenzial und erscheint weder düster noch eng. Holz, Glas und leichte Einbauten machen im Inneren vergessen, dass es sich um ungeschlachte Industriearchitektur des viktorianischen Zeitalters handelt. Von außen passt sich das Neue jedoch mittels derber Materialien wie rostiger, vernieteter Stahl und raues Holz seiner ungeschliffenen Umgebung an.
Sommerhaus, jetzt
Auf der Insel Valentinswerder, gelegen im Tegeler See im Norden Berlins, entstand für eine vierköpfige Familie ein kleines Wochenendhaus in Holzbauweise. Es befindet sich auf einem 400 Quadratmeter großen Grundstück in Ufernähe und ist Teil einer bestehenden Datschensiedlung. Mit seiner schlichten, leichten Architektur, der recht bescheidenen Größe und dem verwendeten Material vereint es alle Attribute des klassischen Sommerhauses auf sich und setzt sich doch davon ab. Denn das Berliner Büro Hütten & Paläste entwickelte seine äußere Gestalt aus den starken Bezügen zwischen innen und außen und dem Wechsel zwischen Rückzugsraum und Offenheit. Das Innere des Hauses mit insgesamt knapp 50 Quadratmetern Nutzfläche besteht eigentlich nur aus einem offenen Raum, der sich über große Fenster und eine vorgelagerte Terrasse in südwestlicher Richtung zum Garten hin öffnet. Ein Einbauelement, das Stauraum, Küche und Sanitärbereich aufnimmt, bildet den Abschluss an der anderen Gebäudeseite. Während sich das Erdgeschoss konsequent zum umgebenden Garten orientiert, ist die Galerieebene zum See hin ausgerichtet. Diese Ebene wurde unter dem pultartig ansteigenden Dach platziert und ist über eine schlichte Stiege zu erreichen. Hier gibt das große Fenster den Blick auf das Gewässer frei. Auch die Gebäudebreite variiert in Abhängigkeit von der Nutzung. So sind die Wohn- und Aufenthaltsbereiche am breitesten. Der dadurch entstehende Knick wird für eine maximale Tageslichtausbeute genutzt; das Haus kann dem Lauf der Sonne damit länger folgen.
Raumwunder an der Förde
Wie man aus der Not mehr als eine Tugend machen kann, beweist dieser Lückenschluss in Kiel. Einem gerade mal 29 Quadratmeter großen Grundstück in der dicht bebauten Innenstadt trotzte der Architekt Björn Siemsen ein Stadthaus mit 96 Quadratmetern Wohnfläche für eine fünfköpfige Familie ab und ließ es sich nicht nehmen, das Raumwunder mit Balkonflächen und einer 15 Quadratmeter großen Dachterrasse zu krönen. Um die unregelmäßig geschnittene Parzelle mit einem sich nach hinten verjüngenden Grundriss überhaupt für Wohnzwecke nutzen zu können, war eine strikt vertikale Raumanordnung erforderlich. Die Aufgabe wurde dadurch nicht leichter, dass das Haus an seiner schmalsten Stelle lediglich 0,8 Meter misst. Die Wohn- und Aufenthaltsbereiche mit ihren großen, raumhohen Fensterfronten befinden sich deshalb im 4,5 Meter breiten vorderen Bereich. Dem dahinter liegenden Treppenhaus, das die fünf Geschosse des Gebäudes wie eine Hauptschlagader durchzieht, sind kleinere, auf halber Treppe liegende Rückzugsräume nachgeordnet. Funktionen, die sich sonst in der Horizontalen sortieren, sind hier in einem komplexen Mehrebenen-Modell organisiert. Die eigenwillig verkantete Straßenfront des schmalen Neubaus ergibt sich aus dessen Lage: Genau hier kreuzen sich die zwei Fluchten der geknickten Straße. Während die Fassade stadteinwärts wie ein vorspringender Erker aussieht, steht sie aus der entgegengesetzten Perspektive exakt in der Flucht des Nachbarhauses.
Sichtbeton und Alpenglühen
Die Kanisfluh ist ein Bergmassiv im österreichischen Vorarlberg und dank ihrer markanten Nordflanke ein Wahrzeichen des Bregenzerwaldes. Hier entstand in 1.100 Meter Höhe ein Haus, das die Weltabgeschiedenheit der Bergwelt auf sinnfällige Weise veranschaulicht. Es heißt niemanden willkommen und gibt auch dem erschöpftesten Wanderer gleich zu verstehen, dass ihm hier keine Einkehr gewährt wird. In diesem Haus will jemand seine Ruhe haben. Das selbstgenügsame Alpenquartier, entworfen von Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf, ist ein knapp zehn Meter hoher, schlichter Kubus aus Beton. Mit seiner 65 Zentimeter starken, zweischaligen Hülle trotzt dieses Gebäude der Wucht der unberechenbaren Natur in diesen Höhen und öffnet sich über große Fenster zugleich ihrer Schönheit. Die Einfachheit der äußeren Erscheinung korrespondiert mit der Klarheit der Räume im Inneren. Das Erdgeschoss wird über unterschiedliche Raumhöhen strukturiert und ist in einen Ess- und Wohnbereich sowie die Küche unterteilt. Ein Panoramafenster an der Westseite des Hauses bietet einen weiten Blick über die Alpenlandschaft. In ein paar Metern Abstand zum Hauptgebäude befindet sich ein kleiner, eingeschossiger Satellitenbau, der als Gästehaus dient. Die Architektur lässt keinen Zweifel daran, dass diese beiden Gebäude zusammengehören. Ihre Erschließung erfolgt über eine kleine Treppe, die vom Feldweg zu den rückwärtigen Eingängen führt. Bei so viel optisch vermittelter Abgrenzung ist kein Zaun mehr nötig.