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Zurück Lernen von Japan

Schlichtheit in Fernost

Japans bescheidene Häuser faszinieren viele in Europa. Was können wir von ihnen lernen – und was geht nur dort?

29.11.20129 Min. Kommentar schreiben

Text: Jeanette Kunsmann

 

Immer wieder widmen Fachmagazine dem Thema „Japan“ ganze Ausgaben. Zahlreiche Ausstellungen bringen die fragilen Modelle und zarten Zeichnungen nach Europa. Und internationale Architekturblogs überschlagen sich sogar fast täglich mit den verlockenden Projekt­fotos aus dem Land der aufgehenden Sonne. Die experimentellsten Wohnhäuser werden in Japan gebaut, vor allem im Großraum Tokio. Was aber fasziniert uns eigentlich so sehr und immer wieder aufs Neue an der japanischen Architektur? Sind es die schneeweißen, streng geometrisch geformten Bauten, die schlichten Räume, die immer leer und aufgeräumt sind, die häufig fließenden Grundrisse oder die papierdünnen Wände? Ist es der hiesige Überdruss an raumverschwenderischem Luxus, an computergenerierten Visualisierungen oder parametrisch gestalteten und komplex berechneten Architekturen? Sind es die manchmal winzigen Flächen, oder ist es der andersartige, für uns ungewohnte Gebrauch?

In Europa wird die japanische Architektur oft als schillerndes Kaleidoskop einfacher Experimentalbauten wahrgenommen und dabei schnell auf wenige Eigenschaften reduziert. Die Generation junger Architekten in Japan bediene sich einer subtilen Formensprache und einer auffallend asketischen Reduktion, die eine klare, ja manchmal sogar steril wirkende Reinheit in den Räumen schaffe, heißt es in vielen Architekturkritiken. Weiß, aufgeräumt und bescheiden – der europäische Blick auf die Architektur in Japan und insbesondere in Tokio ist stark von Klischees geprägt. Denn lange waren Gebäude in Japan eher dunkel als hell. Strahlend weiß, wie wir sie heute kennen, wurden sie erst durch europäische Einflüsse. Erst seit Mitte der Neunzigerjahre lässt sich in Japan beobachten, dass die Architektur aus dem Dunkeln tritt – es begann mit den hellgrauen Sichtbetonbauten von Tadao Ando. Was wir als genuin japanisch ansehen, sehen manche Japaner als späten Ästhetik-Import des Bauhauses und anderer westlicher Strömungen.

Das Bauhaus wiederum verarbeitete auch japanische Impulse. Bruno Taut schrieb 1933 auf seiner Japanreise: „Als die moderne Architektur das Licht der Welt erblickte, also in den Jahren um 1920, war es der einfache und völlig freie japanische Wohnraum mit seinen großen Fenstern, den Wandschränken und der völligen Reinheit seiner Konstruktion, der den stärksten Anstoß zur Vereinfachung des europäischen Wohnraums gab.“ Taut entdeckte im alten japanischen Wohnhaus Prinzipien der modernen europäischen Baukunst: Einfachheit, Sachlichkeit und konstruktive Klarheit. Auch Gropius zeigte sich später fasziniert von dem Land. Ästhetisch ist es also ein Wechselspiel, kein einseitiger Einfluss Japans auf Europa. Manchmal mag hiesige Begeisterung für schlichte weiße Kuben in Japan sogar ihren Grund darin haben, dass diese Häuser an unsere Moderne-Tradition erinnern.

Zweite Facette der Faszination an Japan ist die ganz andere Wohn- und Alltagskultur. Sie ist stark mit den städtischen Strukturen verflochten: Zu Hause wird kaum mehr als geschlafen; alle anderen Aktivitäten geschehen draußen – oft in der direkten Nachbarschaft: Der rund um die Uhr geöffnete Supermarkt ersetzt den Kühlschrank, die kleinen Restaurants und Garküchen machen die eigene Küche überflüssig, das Badezimmer wird ins Badehaus in der Nachbarschaft ausgelagert, Freunde trifft man in der Karaoke-Bar und das Love-Hotel wird zum Ehebett. In Tokio wohnt man mehr außer Haus als drinnen. Hier zeigen sich Grenzen der Übertragbarkeit auf Europa: Uns ist diese Lebensweise ungewohnt; die Infrastruktur dafür fehlt. Allenfalls in Metropolen mit knappem, teurem Wohnraum gibt es Ansätze zu einer Lebensform, die Kneipe, Spätverkaufsladen, Waschsalon und Schwimmbad einbezieht.

Botanisch: Vertikaler Garten von Ryue Nishizawa in Tokio. Foto: Iwan Baan Photography

Das Wohnhaus als Kunstwerk

Zudem ist Japan nicht so homogen, wie es aus unserer Sicht oft den Anschein hat. Da gab es die Metabolisten in den Sechzigerjahren, die dem Kontext der Stadt in die Zukunft zu entfliehen versuchten. Man denke nur an all die gezeichneten und teilweise sogar gebauten Visionen wie Kisho Kurokawas „Capsule Hotel“ oder Stadtutopien wie die Helix-City. Schon damals hatte sich aber ein anderes Denken und Bewusstsein unter jungen Architekten entwickelt. Mit dem Werk von Kazuo Shinohara (1925–2006) ist der Rückzug in eine ästhetisierende Haltung verbunden, die sich jeglicher sozialen Aussage verweigerte. Er deklarierte das Wohnhaus zum Kunstwerk und entwickelte eine Architektur des Wohnens weit jenseits von Funktionalität und gesellschaftlichen Aufgaben. Durch seine Tätigkeit als Lehrer am Tokyo Institute of Technology hat er Generationen von japanischen Architekten beeinflusst; er versuchte stets, traditionelle Elemente mit moderner Architektur zu verbinden, wie zum Beispiel bei dem 1954 erbauten Wohnhaus Kugayama, Hier kombinierte Shinohara die Gestaltung eines Katsura-Palastes mit der ­Architektur Mies van der Rohes – ein erfolgreiches Experiment, mit dem er international bekannt wurde. Seine Bauten haben die Arbeit von Toyo Ito, Kazuyo Sejima und anderen jüngeren japanischen Architekten stark beeinflusst; in ­Europa sind sie bis heute weitestgehend unbekannt.

 

Alles offen: Im „Haus N“ im südjapanischen Oita inszeniert Sou ­Fujimoto das Wohnen seiner Schwiegereltern in je einer vielfach durchlöcherten Innen- und Außen-Box. Foto: Iwan Baan Photography
Das „Haus N“ von der Straße aus betrachtet. Foto: Iwan Baan Photography

Glück im Rest

Viele der ungewöhnlichen Minihäuser haben auch eine ebenso ungewöhnliche Geschichte. Die meisten stehen in einem dichten Stadtgefüge auf seltsam aufgeteilten Grundstücken. Für die Architektur sind genau diese Restflächen, die sich junge Bauherren gerade noch leisten können, ein Glücksfall, sonst wären dort wahrscheinlich Standard-Häuser mit Standard-Grundrissen gebaut worden.

Aus dem uns chaotisch erscheinenden Stadtbild hat sich die Vorstellung entwickelt, in Japan gebe es kaum Regeln und Anforderungen fürs Bauen. Das Gegenteil trifft zu: Es gibt zwar weniger Vorschriften für Gestaltung, Nutzung und technische Standards, jedoch existieren strenge Regeln, zum Beispiel für die Gewährleistung der Erdbebensicherheit. Dass die Grundstücke winzig und eigenwillig geschnitten sind, ist eine Folge des Erb- und Steuerrechts, das immer wieder zur Teilung von bereits winzigen Parzellen zwingt. Gerade daraus entspringt Qualität und Originalität – schließlich sind Einschränkungen und Regeln immer eine spannende Herausforderung. Ein widerspenstig geschnittenes Grundstück mag dem Architekten schlaflose Nächte bereiten, bis er eine fantasievolle und eigenwillige Lösung findet – nicht selten mit papierdünnen Wänden und schlichten Räumen, die oft dreimal so groß aussehen, wie sie in Wirklichkeit sind.

Extreme Reduktion

Die extreme Reduktion geht bis zum Verzicht auf Fenster wie dem „Daylight House“ in Yokohama, von Takeshi Hosaka entworfen. Stattdessen gibt es für alle Räume eine streng gerasterte Lichtdecke. Das Haus ist hell und klein: Hier wohnt auf gerade einmal 85 Quadratmetern eine vierköpfige Familie. Im „Lagerhaus“ von Shinichi Ogawa & Associates in einem Vorort von Hiroshima sind die einzelnen Wohnbereiche linear hintereinandergeschaltet, sodass auf Innentüren und Wände verzichtet werden konnte. Frei stehende Schränke, eingebaute Regale, Schiebetüren und Ebenen ermöglichen die offene Raumteilung und separieren die einzelnen Wohnbereiche. Küche und Badezimmer sind zentral in der Gebäudemitte platziert, während Wohn- und Schlafzimmer sich an den Gebäudeenden orientieren. Das Washitsu, ein mit Tatami-Matten ausgelegtes Zimmer in japanischer Tradition, versinkt tiefer als die anderen Bereiche im Boden; darüber schwebt auf einer eingezogenen Ebene das Kinderzimmer.

Während die Wohnhäuser in Tokio und anderen Großstädten meist kleine, verwinkelte mehrgeschossige Wohnmaschinen sind, konnte das Büro von Takeshi Hosaka im Städtchen Fujiyoshida-shi den eingeschossigen Pavillon „Outside In“ realisieren, den Um- und Erweiterungsbau eines Wohnhauses. Über 100 Quadratmeter misst das Haus für eine Familie mit drei Töchtern – auf einem 175 Quadratmeter großen Grundstück mit Blick auf den angrenzenden Wald. Grundgedanke ist die Ebenerdigkeit; dafür wurde das gesamte Wohnensemble als eingeschossiger Baukörper entwickelt.

Ein weiteres, für Europäer faszinierendes Phänomen ist die Nutzungsneutralität von Räumen. Sie hat in Japan eine lange Tradition. Wohn- und Schlafbereich verschmelzen zu einer funktionalen Einheit; Individualräume im westlichen Sinn gibt es herkömmlich nicht. Auch auf die Möblierung der Grundrisse verzichten viele Architekten noch heute. „Primitive Architektur“ nennt Sou Fujimoto diesen Ansatz, einer der wichtigsten Vertreter der japanischen Architektur. Bei ihm weisen erst die Bewohner dem Raum seine Funktion zu. Was ist Küche, was ist Schlaf- und was ist Wohnzimmer? Diese Begriffe verschwimmen. Im Bad markieren nur Duschkopf und Abfluss die Nutzungsfunktion, und die Kochnische lässt sich beliebig von Zimmer zu Zimmer verschieben. Selbst in Japan ist aber offen, ob sich so viel Flexibilität als Standard durchsetzt oder ob dies für viele Bewohner zu frei und gewöhnungsbedürftig ist.

Fujimoto sucht immer wieder das Experiment – aber dafür gibt es auch in Japan keinen unbegrenzten Spielraum: Er hat weit mehr entworfen, als er tatsächlich bauen durfte. Es ist für ihn nicht immer leicht, die Klienten von seinen gebauten Metaphern und experimentellen Wohnformen zu überzeugen. Projekte wie das „Haus N“ in der Hafenstadt Oita können auch in Japan nur im Auftrag mutiger Bauherren entstehen. Das Gebäudekonzept basiert auf drei ineinander verschachtelten Kuben: ein Karton im Karton im Karton, die jeweils einen anderen Grad der Privatheit symbolisieren. „Von dem großen Kubus war der Hausherr zunächst gar nicht überzeugt“, erzählt Fujimoto. Dieser habe überhaupt nicht verstanden, warum die dritte Hülle über die anderen beiden gebaut werden sollte. „Es gab viele Diskussionen um diese „crazy white box“, erinnert sich der Architekt – schließlich konnte die Ehefrau ihren Mann von dem ungewöhnlichen Entwurf überzeugen. Aber auch für Fujimoto ist das Besondere kein Selbstzweck. „Ich finde es langweilig, wenn Leute sich nur für etwas interessieren, weil es sonderbar ist“, erklärt er. „Japanische Architektur sollte aus dieser Sackgasse herauskommen.“

Doch viele der bei uns publizierten Projekte stellen äußerst avantgardistische Formen des Wohnens dar, die auch in Japan auffallen und längst nicht als allgemeingültig angesehen werden können. Es sind Versuche, die Fragen stellen: Was muss eine Wohnung bieten? Welchen Mehrwert kann eine Wohnung haben? Auf welche Funktionen innerhalb der eigenen vier Wände kann man verzichten?

Solche Gebäude könnten bei uns schon wegen der Standardanforderungen nicht realisiert werden. Zudem sind es Imperative, die zu einer ganz bestimmten Form des Wohnens auffordern. Und davon kann man gerade in Europa nur schwer einen Bauherrn überzeugen. Dennoch bleibt Japans Architektur für uns spannend – als die eines weit entfernten, leisen Wunderlands. Der Blick über den Tellerrand hilft uns, das eigene Essen besser zu würzen. Japans Häuser lenken den Blick in eine Zukunft, die auch bei uns schlichter und bescheidener sein könnte, als wir gewohnt sind und als wir es erwarten.

Jeanette Kunsmann ist Architektin und Journalistin in Berlin.

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