Text: Nina Bohle
Die „Smart Material Houses“ auf dem Hamburger IBA-Gelände stellen neue, intelligente Baustoffe und anpassungsfähige Baukonstruktionen vor. Besonders spektakulär ist das „BIQ“. Diese eigenwillige Abkürzung steht für „Bio-Intelligenzquotient“. Das Gebäude hat die weltweit erste Algen-Bioreaktorfassade. Seine Südwest- und seine Südostseite haben eine zweite Außenhülle aus 130 lichtdurchlässigen, plattenförmigen Glascontainern, sogenannten Photobioreaktoren (PBR). Ihre Fronten werden aus je zwei strukturell miteinander verklebten Glasscheiben gebildet, deren äußere als Photovoltaik-Modul ausgeführt wird. In den Containern werden in einem wässrigen Kulturmedium Mikroalgen kultiviert. Diese Kleinstpflanzen betreiben unter Sonneneinstrahlung sowie unter Zufuhr von Kohlenstoffdioxid und den Nährstoffen Stickstoff und Phosphor Photosynthese und produzieren dabei Biomasse. Über diese wird sowohl Kohlenstoffdioxid gespeichert als auch Biogas gewonnen, das zum Heizen oder zum Betrieb von Motoren verwendet werden kann. In der hausinternen Brennstoffzelle wird das Biogas zudem in Strom und Wärme umgewandelt, wodurch das von den Mikroalgen benötigte Kohlenstoffdioxid entsteht.
Biostrom fürs ganze Haus
Entworfen wurde das BIQ vom Grazer Architekturbüro Splitterwerk; Bauherr und Investor ist das Hamburger Bauunternehmen Otto Wulff. Geschäftsführer Stefan Wulff freut sich darüber, dass „Umweltbewusstsein und Stilsicherheit sehr gut miteinander harmonieren“. Für die Strategic Science Consult GmbH, die als Ko-Investor des Projekts fungiert, erklärt Geschäftsführer Martin Kerner: „Über die 200 Quadratmeter große Bioreaktorfassade kann bei einem durchschnittlichen Ertrag von 15 Gramm Trockenmasse pro Quadratmeter und Tag bei der Umwandlung von Biomasse in Biogas ein Nettoenergiegewinn von rund 4.500 Kilowattstunden pro Jahr erzielt werden.“ Die Algenfassade könnte damit den gesamten Haushalt der Familie mit Biostrom versorgen – so Stefan Wulff.
Zudem gewinnt die Fassade Energie, indem sie das nicht von den Algen genutzte Sonnenlicht absorbiert. So erklärt Martin Kerner: „Pro Jahr werden über die solarthermische Funktion rund 32 Megawatt Wärme erzeugt.“ Diese wird in der Energiezentrale – dem Herzstück des integrierten Energiekreislaufs – ausgekoppelt und anschließend direkt im Haus genutzt oder in das Nahwärmenetz eingespeist beziehungsweise im Erdboden zwischengespeichert. Dank der hybriden Funktionalität der Algenfassade vereint BIQ verschiedene Formen regenerativer Energiegewinnung zu einem nachhaltigen Kreislaufsystem: Solarthermie, Geothermie, Biomasse und eine Brennstoffzelle ergeben drei speicherbare Energieträger in Form von Wärme, Strom und Biogas. Darüber hinaus erfüllt die Fassade alle klassischen und ästhetischen Funktionen einer konventionellen Gebäudeverkleidung.
Den Mittelpunkt des Kreislaufs bildet die Energiezentrale. Sie managt den gesamten Betrieb der Bioreaktorfassade sowie die Erzeugung und Verteilung von Energie. Zentraler Bestandteil ist hier die Messstation: Sie bestimmt und überprüft alle für das Algenwachstum relevanten Parameter, wie den Nährstoff-, Sauerstoff- und Salzgehalt, den pH-Wert, die Trübung und die Temperatur. Über die Messstation werden außerdem Produktion und Verbrauch erfasst und an die Steuerungsanlage übertragen. Diese passt die Leistung sämtlicher Geräte kontinuierlich an, sodass stets optimale Wachstumsbedingungen für die Mikroalgen und ein energieeffizienter Betrieb des Gebäudes sichergestellt sind.
Der geringe Platzbedarf der BIQ-Fassadentechnologie ermöglicht den Einsatz im urbanen Raum für den Wohnungs- wie für den Bürobau. An Fassaden oder auf Dächern von Industrie- und Gewerbebauten lässt sich mit großen Reaktorflächen ein beträchtliches Energiepotenzial aktivieren. Die Integration einer Algenfassade ist nicht nur bei Neubauten, sondern auch bei der Modernisierung von Bestandsgebäuden möglich. Ihre rauchspeichernde Funktion reduziert die CO2-Emission. Durch den Einsatz der Algenfassade kann beispielsweise Kohlenstoffdioxid, das bei Produktionsprozessen im Industrie- und Gewerbebereich anfällt, direkt abgebaut werden.
Im Inneren bietet das Haus neue Wohntypologien, führt das Büro Splitterwerk aus: „In den zwei Modellwohnungen werden Räume nicht wie gewohnt bestimmten Funktionen zugeteilt, sondern die verschiedenen Funktionen nach Bedarf hinzugefügt. Nach dem Prinzip von Einbaumöbeln kann der zentralen, funktionsneutralen Zone der Wohnung quasi auf Knopfdruck etwa der Badbereich, die Küchenzeile oder die Couchecke zugeschaltet werden. Das Konzept der schaltbaren Räume lässt sich auch auf andere Bereiche, wie etwa Bürogebäude oder Hotels, hervorragend übertragen.“
Nina Bohle ist Redakteurin und PR-Beraterin in Hamburg
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Ein ausgesprochen spannendes Projekt, dass die Algenbiotechnologie einem breiteren Publikum zugänglich macht. Auch in Frankreich gibt es aktuell Bemühungen, Algenfassaden zu installieren. Leider erhalten die Algen-Technologien hier in Europa deutlich weniger Zuspruch als in den USA, wo die Bereitschaft für Risikokapital-Investments höher ist.