Texte: Roland Stimpel
Soziale Mischung: Ideal und Wirklichkeit
Die soziale Mischung in Städten gilt erstens als Tugend, zweitens als früher oft erreichter Zustand. Die Autoren dieser Studie über fünf Jahrhunderte schränken jedoch beides ein: „In keiner der wichtigen Epochen der deutschen Stadtgeschichte hat es tatsächlich eine nachweisbare soziale Durchmischung in den Städten ohne zeitgleiche Formen der Ausgrenzung, Absonderung und kleinräumiger Segregation gegeben.“ Sie sprechen vom „idealisierenden Konstrukt einer sozial durchmischten Stadt“ und von einer „unvermeidlichen und bis zu einem gewissen Maß durchaus zu schützenden positiven Funktion freiwilliger Segregation“. Was der Volksmund mit „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ beschreibe, sei auch das Motiv hinter vielen privaten Standortentscheidungen in den Städten. Allerdings zitieren sie auch die umgekehrte Weisheit „Gegensätze ziehen sich an“. Die Autoren sind keine urbanistischen Hardcore-Liberalen, sondern verweisen auch auf die Notwendigkeit von Eingriffen: „Gerade auf den unteren Wohnungsteilmärkten und in benachteiligten Quartieren ist kaum je vom Idealtypus ,freiwilliger Segregation‘ auszugehen. Hier überlagern sich in aller Regel ethnische und soziale Stigmatisierungen und machen eben doch Gegensteuern und aktive Mischungspolitiken unerlässlich.“ Das fordern im Buch auch Vertreter von Wohnungswirtschaft und Städten. Eine besondere Qualität gewinnt das Buch durch Studien aus 15 Ländern von Korea bis Dänemark und in seiner Analyse deutscher Praxisbeispiele. Insgesamt bietet es fundierte Informationen und sorgsam ausgeleuchtete Zusammenhänge über Notwendigkeit, Bedarf und Grenzen einer städtischen Mischungspolitik.
Tilman Harlander, Gerd Kuhn, Wüstenrot Stiftung (Hg.): Soziale Mischung in der Stadt.
kraemerverlag, Stuttgart, 2012, 440 Seiten, 29,50 Euro
Hochhaus-Modernisierung: Erfolg und Übertreibung
Ein 16-geschossiger Wohnturm am Rand von Paris, gebaut 1959, wurde in den 80er-Jahren billig saniert und stand 2004 vor dem Abriss. Ein Staatsprogramm sah dafür pro Wohnung 15.000 Euro und für den jeweils fälligen Ersatz 152.000 Euro vor. Da traten die Architekten Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal auf den Plan. Das Ergebnis ihrer Arbeit bezeichnet die vorliegende Publikation jetzt als „gebautes Manifest“: Für weit weniger Geld, als zunächst verplant, haben die Wohnungen Vorbauten mit Balkons und Wintergärten erhalten, hier als „Außenwohnraum“ bezeichnet. Die Mieter konnten sogar während der Arbeiten im Haus bleiben; das Ganze kostete pro Wohnung 112.500 Euro, also rund 30 Prozent weniger als Abriss und Neubau. Die Wohnqualität wurde deutlich verbessert.
Die Schrift dazu, ein DIN-A3-Heft mit üppigem Foto-Mittelteil und vielen auch technischen Zeichnungen, zeigt das Projekt in jedem denkbaren Detail. Doch leider begnügen sich die Autoren nicht mit dieser Dokumentation, sondern übertreiben vierfach. Erstens sprechen sie dem Projekt Originalität und Pioniercharakter zu, was es definitiv nicht hat. Der weiter vorn in diesem Blatt vorgestellte Stefan Forster hat schon 1999 Plattenbauten in Leinefelde ganz ähnlich umgebaut. Zweitens suggerieren die Autoren, es sei nun der Königsweg für die Großwohnbauten der Nachkriegszeit gefunden. Es gibt auch unzählige andere Wege, von Anbauten über die Wegnahme von Teilen bis zu Veränderungen im Inneren, ohne die Grundstruktur anzutasten. Drittens halten sie das Konzept für ökonomisch vervielfältigungsfähig. Das gilt sicher, vergleicht man die Kosten mit denen für Abriss und Ersatzneubau. Es gilt aber nicht im Verhältnis zum schlichten Nichts- oder Wenigertun. Mit 112.500 Euro pro Wohnung war die Modernisierung nicht sparsam, sondern finanziell luxuriös. Hochgerechnet auf deutsche Großsiedlungen wie Berlin-Gropiusstadt, Köln-Chorweiler oder München-Perlach, würde sie jeweils mehrere Milliarden Euro kosten. Viertens erklären die Autoren summarisch das Pariser Projekt als wichtigen Schritt zur „physischen und sozialen Rehabilitation des Massenwohnungsbaus der 60er- und 70er-Jahre“. Aber ist ein Haus rehabilitiert, wenn es nach gut 50 Jahren nur mit solchem Aufwand zu retten ist? Oder zeigt der Bedarf an teurem Umbau erneut, wie fragwürdig das Konzept war?
Ilka und Andreas Ruby (Hg.): Druot, Lacaton & Vassal. Tour Bois le Prêtre.
Ruby Press, Berlin, 2012, 78 Seiten, 18 Euro
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