Unten stehender Text stammt von 2013. Eine 2020 aktualisierte und erweiterte Fassung des Beitrags lesen Sie hier.
Von Hubertus Schulte Beerbühl
Satzungen, insbesondere Bebauungspläne, und Gesetze werden von Planern oftmals als Hemmschuh architektonischen Gestaltungswillens angesehen. Manche zum Teil Jahrzehnte alte Festsetzungen erweisen sich in der Tat gelegentlich als fragwürdig. Bisweilen drängt sich auch bei der gebotenen objektiven Sicht der Eindruck auf, der Plangeber sei sich bei der Kreation der Festsetzungen selbst nicht darüber im Klaren gewesen, welche Auswirkungen seine Rechtssetzung hat und welche beengenden Folgen sich hieraus ergeben. Oftmals fragt sich der Leser eines Bebauungsplans, ob denn die Mitglieder des Gemeindeparlaments die Regelungen in ihren weitreichenden Auswirkungen überhaupt verstanden haben. Auch für Gesetze drängt sich manchmal die Frage auf, ob der Gesetzgeber wollte, dass seine Regelung auch für Vorhaben wie das hier in Rede stehende gelten sollte.
Die oft verständliche Kritik ändert nichts daran, dass – selbstverständlich – Satzungen und Gesetze zunächst einmal so zu beachten sind, wie sie gelten. Für Ausnahme, Befreiungen und Erleichterungen gelten strenge Regelungen, die im Gesetz ausdrücklich genannt und, soweit erforderlich, von der Rechtsprechung weiter ausgeformt worden sind. Das im Baugesetzbuch und in der Baunutzungsverordnung angelegte System sollte der Architekt kennen, damit er weiß, welche rechtlichen Möglichkeiten das Normgefüge ihm bietet, um dem Bauherrn das geplante Vorhaben doch zu ermöglichen.
Ausnahme, Befreiung und Abweichung – rechtliche Möglichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen
Die Gemeinde erlässt zur städtebaulichen Lenkung von Bauvorhaben Bebauungspläne, die sie aus Flächennutzungsplänen entwickelt. Dabei steht ihr nach dem Baugesetzbuch ein sehr weit reichendes, allerdings nicht unbegrenztes Planungsinstrument zur Verfügung. Das Mittel ihrer Lenkung durch Bebauungspläne ist die abstrakt-generell wirkende Festsetzung. Diese kann sich beispielsweise beziehen auf die Art und das Maß der baulichen Nutzung, auf die Bauweise, die überbaubaren und die nicht überbaubaren Grundstücksflächen sowie die Stellung der baulichen Anlagen (§ 9 BauGB). Durch die Festsetzung gelten die Regelungen der Baunutzungsverordnung einschließlich der Regelungen über die Zulassung einer Ausnahme unmittelbar. Die Gemeinde hat durch die unveränderte Übernahme der Regelung über die ausnahmsweise Zulassung oder ihre Erhebung zur regelmäßig zulässigen Nutzung oder zum vollständigen Ausschluss in dem Bebauungsplan die Möglichkeit einer Feinsteuerung. Damit hat sie unmittelbaren Einfluss auf das Planungsrecht. Die Ausführung erfolgt freilich durch die Genehmigungsbehörde, die diese satzungsrechtlichen Vorgaben zu beachten hat.
Auf der nachfolgenden Ebene des Verwaltungsvollzugs kann die Baugenehmigungsbehörde durch eine einzelfallbezogene Befreiung etwaigen Besonderheiten Rechnung tragen, wenn eine schematische Anwendung der Festsetzungen in dem Bebauungsplan zu Ergebnissen führen würde, die in dieser Form mit dem Willen des Satzungsgebers nicht vereinbar wären. Anders als dies bei Ausnahmen der Fall ist, kann die Gemeinde, ist der Bebauungsplan erst einmal erlassen, auf die Möglichkeit von Befreiungen keinen Einfluss mehr nehmen. Weil die Möglichkeit einer Befreiung von gesetzlichen Voraussetzungen abhängig ist und der Satzungsgeber sich nicht über das Gesetz stellen kann, kann in dem Bebauungsplan die Zulassung von Befreiungen weder ausgeschlossen noch generell (im Sinne einer großzügigen Handhabung) erlaubt werden. Mittelbare Einflussmöglichkeiten bestehen allerdings insofern, als die Gemeinde in der Begründung des Bebauungsplans ihren Planungswillen zum Ausdruck bringen kann und damit, je nach Sachlage, der Genehmigungsbehörde den Weg zur Bejahung des Merkmals „die Grundzüge der Planung werden nicht berührt“ (§ 31 Abs. 1, 1. Halbsatz BauGB) erleichtern oder erschweren kann. Eine darüber hinausgehende Einflussnahme auf die Zulassung oder Verweigerung von Befreiungen seitens der Genehmigungsbehörde ist nicht möglich; einschränkende oder lenkende Zusätze wie „soll“ oder „kann“ verbieten sich im Zusammenhang mit planerischen Festsetzungen.
Von den Ausnahmen und den Befreiungen sind die Abweichungen zu unterscheiden. Sie sind – anders als Ausnahmen – weder (positiv oder negativ) der planerischen Entscheidung des Rates zugänglich, noch erklären sie – anders als Befreiungen – Vorschriften für im Einzelfall unanwendbar. Vielmehr setzen sie gerade die Anwendbarkeit einer Norm voraus, bieten aber der Genehmigungsbehörde die rechtliche Möglichkeit, unter Aufrechterhaltung der grundlegenden Aussage des Bebauungsplans im Einzelfall einen (geringfügigen) Verstoß zuzulassen. Es handelt sich um eine Art Bagatellklauseln zur Vermeidung einer sonst erforderlichen Befreiung.
§ 31 BauGB Ausnahmen und Befreiungen
(1) Von den Festsetzungen des Bebauungsplans können solche Ausnahmen zugelassen werden, die in dem Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind.
(2) Von den Festsetzungen des Bebauungsplans kann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3. die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde
und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Der Anwendungsbereich des § 31 BauGB
Die Bestimmungen über die Zulassung von Ausnahmen und Befreiungen gelten für Vorhaben im planungsrechtlichen Sinn. Das sind Vorhaben, die die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen zum Gegenstand haben. Im Falle einer Nutzungsänderung stellt sich die Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit und damit einer möglichen Ausnahme oder Befreiung auch dann neu, wenn für diese bauliche Anlage früher einmal eine Ausnahme oder Befreiung erteilt worden ist. Denn eine Genehmigung ist nur auf eine bestimmte Nutzung bezogen. Bei einem erkennbar als dauerhaft gedachten Übergang zu einer anderen Nutzung geht die Wirksamkeit der bisherigen Genehmigung unter, und mit ihr die Ausnahme oder Befreiung.
Die Norm ist zunächst für den Geltungsbereich eines Bebauungsplans anwendbar. Denn sowohl in der Einleitung des § 31 Abs. 1 BauGB als auch in der des § 31 Abs. 2 BauGB ist von „Festsetzungen des Bebauungsplans“ die Rede. Gemeint sind damit nicht nur Bebauungspläne, die „mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen“ enthalten (sog. qualifizierte Bebauungspläne, § 30 BauGB). Sie ist in gleicher Weise auf Bebauungspläne anzuwenden, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen („einfache Bebauungspläne“), wie auch auf vorhabenbezogene Bebauungspläne.
Jedoch ist der Anwendungsbereich der Bestimmung nicht auf Plangebiete beschränkt. Er erstreckt sich mit Blick auf die Art der baulichen Nutzung auch auf den im Zusammenhang bebauten Ortsteil nach § 34 BauGB. Das ist eigentlich systemfremd. Denn in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil bildet nicht eine Satzung den Maßstab für die Zulässigkeit von Vorhaben, sondern das Faktische, die vorhandene Umgebungsbebauung. Hiervon eine Ausnahme zu erteilen oder zu befreien mutet seltsam an. Jedoch hat der Gesetzgeber durch einen Kunstgriff in § 34 Abs. 2, 2. Halbsatz BauGB die Regelungen in § 31 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB teilweise für anwendbar erklärt: „Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre; auf die nach der Verordnung ausnahmsweise zulässigen Vorhaben ist § 31 Abs. 1, im Übrigen ist § 31 Abs. 2 entsprechend anzuwenden.“ Die Gleichstellung im zweiten Halbsatz findet ihre Rechtfertigung in der fiktiven Gleichstellung der Vorhaben im unbeplanten Innenbereich mit den Vorhaben im beplanten Bereich in ersten Halbsatz. Bei der Anwendung der Voraussetzung des § 31 Abs. 2 BauGB, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen (dazu später), treten an ihre Stelle die tatsächliche städtebauliche Situation und der Rahmen, der durch die Umgebungsbebauung gebildet wird. Diese Anwendungserklärung beschränkt sich nur auf die Art, nicht aber auf das Maß der baulichen Nutzung, auf die Bauweise oder die Grundfläche, die überbaut werden darf. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits im Jahr 1969 verbindlich entschieden, dass § 31 BauGB im nicht beplanten Bereich über § 34 Abs. 2, 2. Halbsatz BauGB hinaus nicht anwendbar ist (Urteil vom 19. September 1969 – 4 C 18.67 -).
Auf das Bauen im Außenbereich (§ 35 BauGB) ist § 31 BauGB nicht anwendbar. Dort gibt es keinen Plan und auch keinen Planersatz, von dem eine Ausnahme oder eine Befreiung erteilt werden könnte oder müsste.
Ebenso wenig ist § 31 BauGB auf das Bauordnungsrecht anwendbar. Stattdessen haben die Bauordnungen der Länder eigene Abweichungsvorschriften erlassen (z.B. § 73 BauO NRW).
Ausnahmen
Nach § 31 Abs. 1 BauGB können von den Festsetzungen des Bebauungsplans solche Ausnahmen zugelassen werden, die in dem Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind. Die Regelung zeigt deutlich, dass die Genehmigungsbehörde nur dann befugt ist, eine Ausnahme zu erteilen, wenn der Bebauungsplan eine solche zugelassen hat. Die Gemeinde ist nicht berechtigt, neue Ausnahmen zu erfinden, die in dem Baugesetzbuch oder in der Baunutzungsverordnung nicht vorgesehen sind. Vielmehr ist sie beschränkt auf den in diesen Normen angelegten Katalog zur Art der baulichen Nutzung, zum Maß der baulichen Nutzung, zur Bauweise und zur überbaubaren Grundstücksfläche.
Ausnahmen zu Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung
In den jeweiligen Vorschriften über die Baugebiete (§§ 2 bis 9 BauNVO) ist zunächst dargestellt, wozu diese Gebiete dienen. (Für Sondergebiete, die der Erholung dienen, § 10 BauNVO, und sonstige Sondergebiete, § 11 BauNVO, fehlt eine solche Zweckbestimmung, weil diese sich erst aus dem Sondercharakter ergeben kann.) Sodann folgt eine abschließende Aufzählung der in diesen Gebieten zulässigen Nutzungen. Schließlich sind die ausnahmsweise zulässigen Arten der baulichen Nutzung beschrieben. Die Regelung wird dadurch, dass die Gemeinde ein Baugebiet festsetzt, zum Gegenstand des Bebauungsplans. Sie hat dabei nicht das Recht, neue Baugebietstypen zu schaffen. Auch die Bestimmungen über die ausnahmsweise Zulassung von weiteren Vorhaben werden Inhalt des Plans. Im Bebauungsplan können allerdings sehr differenzierte Regelungen über die Zulassung von Ausnahmen getroffen werden. Deren Verständnis eröffnet erst die Möglichkeit, sachgerecht einen Ausnahmefall geltend zu machen.
Die gesetzlichen Regelungen über die zulässige Art der baulichen Nutzung:
§ 2 BauNVO Kleinsiedlungsgebiete WS
§ 3 BauNVO reine Wohngebiete WR
§ 4 BauNVO allgemeine Wohngebiete WA
§ 4a BauNVO besondere Wohngebiete WB
§ 5 BauNVO Dorfgebiete MD
§ 6 BauNVO Mischgebiete Mi
§ 7 BauNVO Kerngebiete MK
§ 8 BauNVO Gewerbegebiete GE
§ 9 BauNVO Industriegebiete GI
§ 10 BauNVO Sondergebiete, die der Erholung dienen SO
§ 11 BauNVO sonstige Sondergebiete SO
§ 12 BauNVO Stellplätze und Garagen
§ 13 BauNVO Gebäude und Räume für freie Berufe
§ 14 BauNVO Nebenanlagen
§ 15 BauNVO Allgemeine Voraussetzungen für die Zulässigkeit baulicher und sonstiger Anlagen
Komplizierte Gestaltungsmöglichkeiten: Die Ausnahme wird zur Regel – die Regel wird zur Ausnahme – die Ausnahme wird ganz verboten
Die Gestaltungsmöglichkeiten der Gemeinde sind weit gefasst. Dabei sind allerdings zwei Grundpfeiler stets zu beachten: Erstens muss zumindest die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets gewahrt bleiben. Insofern ist insbesondere die Aussage in dem jeweiligen Absatz 1 der das Baugebiet betreffenden Bestimmung („… dienen (vorwiegend/ausschließlich)…“) in den Blick zu nehmen. Bisweilen wird darüber hinaus sogar verlangt, dass besondere städtebauliche Gründe die Festsetzung rechtfertigen. Zweitens muss der „numerus clausus“ des Instrumentariums der Baunutzungsverordnung gewahrt bleiben. Die Gemeinden sind insbesondere dem Typenzwang der in der Baunutzungsverordnung enthaltenen Baugebiete unterworfen und dürfen sie nur in dem Maße abweichend gestalten, wie dies nach § 9 BauGB und den Vorschriften der Baunutzungsverordnung zugelassen ist. Die Regelungen in § 1 Abs. 4 bis 10 BauNVO besagen im Einzelnen:
Im Bebauungsplan kann festgesetzt werden, dass bestimmte Arten von Nutzungen, die nach den §§ 2, 4 bis 9 und 13 BauNVO allgemein zulässig sind, nicht zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können. Die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets muss dabei gewahrt bleiben.
Beispiel: Ein Bebauungsplan, der ein Gewerbegebiet ausweist, setzt fest, dass Tankstellen, die eigentlich allgemein zulässig sind (§ 8 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO), nicht zulässig sind, oder er regelt, dass sie nur ausnahmsweise zugelassen werden können.
Auch kann festgesetzt werden, dass alle oder einzelne Ausnahmen, die in den Baugebieten nach den §§ 2 bis 9 BauNVO vorgesehen sind, nicht Bestandteil des Bebauungsplans werden oder in dem Baugebiet allgemein zulässig sind, wobei auch hier die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets gewahrt bleiben muss.
Beispiel: Ein Bebauungsplan, der ein Gewerbegebiet ausweist, setzt fest, dass Vergnügungsstätten, die eigentlich als Ausnahme zugelassen werden können (§ 8 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO), nicht – auch nicht ausnahmsweise – zulässig sind, oder er regelt, dass sie allgemein – und nicht nur als Ausnahme -zulässig sind.
In Bebauungsplänen für Baugebiete nach den §§ 4 bis 9 BauNVO kann, wenn besondere städtebauliche Gründe dies rechtfertigen, festgesetzt werden, dass in bestimmten Geschossen, Ebenen oder sonstigen Teilen baulicher Anlagen nur einzelne oder mehrere der in dem Baugebiet allgemein zulässigen Nutzungen zulässig sind – nachfolgend Beispiel (a) -, einzelne oder mehrere der in dem Baugebiet allgemein zulässigen Nutzungen unzulässig sind oder als Ausnahme zugelassen werden können – nachfolgend Beispiel (b) – oder alle oder einzelne Ausnahmen, die in den Baugebieten nach den §§ 4 bis 9 BauNVO vorgesehen sind, nicht zulässig oder allgemein zulässig sind – nachfolgend Beispiel (c) -, (sog. vertikale Gliederung).
Beispiele:
(a) Ein Bebauungsplan, der ein allgemeines Wohngebiet ausweist, setzt fest, dass oberhalb des Erdgeschosses nur Wohnnutzung (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO) oder nur Wohnnutzung und Anlagen für gesundheitliche Zwecke (§ 4 Abs. 2 Nr. 3, 4. Alt. BauNVO) zulässig sind.
(b) Ein Bebauungsplan, der ein Mischgebiet ausweist, setzt fest, dass nicht kerngebietstypische Vergnügungsstätten (§ 6 Abs. 2 Nr. 8 i.V.m. § 4a Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) oder solche Vergnügungsstätten und Schank-und Speisewirtschaften (§ 6 Abs. 2 Nr. 3, 2. Alt. BauNVO) oberhalb des Erdgeschoss unzulässig sind, oder er setzt fest, dass Anlagen für sportliche Zwecke (§ 6 Abs. 2 Nr. 5, letzte Alt. BauNVO) oberhalb des Erdgeschosses nur ausnahmsweise zugelassen werden können.
(c) Ein Bebauungsplan, der ein Dorfgebiet ausweist, setzt fest, dass nicht kerngebietstypische Vergnügungsstätten (§ 5 Abs. 3 i.V.m. § 4a Abs. 3 Nr. 2 BauNVO; kerngebietstypische Vergnügungsstätten sind ohnehin nicht zulässig und können auch nicht als Ausnahme zugelassen werden) oberhalb des Erdgeschosses auch nicht ausnahmsweise zugelassen werden können.
Die vorgenannten Festsetzungen können sich auch auf Teile des Baugebiets beschränken.
Schließlich kann festgesetzt werden, dass nur bestimmte Arten der in den Baugebieten allgemein oder ausnahmsweise zulässigen baulichen oder sonstigen Anlagen zulässig oder nicht zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können. Mit dieser Regelung wird eine noch weiter gehende Differenzierung in dem Bebauungsplan ermöglicht. Während nämlich die bislang genannten Bestimmungen die Arten von Nutzungen ansprachen, soll die Möglichkeit der Feindifferenzierung auch für einzelne Unterarten von Nutzungen und Anlagen gelten. Damit meint der Verordnungsgeber verschiedene Erscheinungsformen eines Nutzungstyps. So kann ein Einzelhandelsbetrieb (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 3, 1. Alt. BauNVO) sich etwa darstellen als Laden, Warenhaus, Supermarkt usw.; eine Anlage für sportliche Zwecke (z.B. § 4 Abs. 2 Nr. 3, letzte Alt. BauNVO) kann ein Hallenbad, ein Tennisplatz oder eine Turnhalle sein; eine Tankstelle (z.B. § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO) kann mit oder ohne Pflegehalle betrieben werden. Der Plangeber ist berechtigt, für solche Unterarten besondere Regelungen zu treffen. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Festsetzung ist allerdings, dass besondere städtebauliche Gründe eine solche Maßnahme rechtfertigen.
Wären bei der Festsetzung eines Baugebiets nach den §§ 2 bis 9 BauNVO in überwiegend bebauten Gebieten bestimmte vorhandene bauliche und sonstige Anlagen unzulässig, kann im Bebauungsplan festgesetzt werden, dass Erweiterungen, Änderungen, Nutzungsänderungen und Erneuerungen dieser Anlagen allgemein zulässig sind oder ausnahmsweise zugelassen werden können. Im Bebauungsplan können insofern nähere Bestimmungen über die Zulässigkeit getroffen werden. Die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets muss in seinen übrigen Teilen gewahrt bleiben. Eine solche Regelung kann auch im Wege einer Änderung und Ergänzung eines Bebauungsplans getroffen werden.
Der Gebietscharakter muss immer gewahrt bleiben
Deckt sich das Vorhaben mit dem als Ausnahme geregelten Fall, ist – diesmal durch die Genehmigungsbehörde – zu prüfen, ob die Zulassung einer Ausnahme dem Gebietscharakter nicht zuwider läuft. Das steht zwar nicht ausdrücklich im Gesetz, ist aber durch höchstrichterliche Rechtsprechung gesichert. Widerspricht sie dem Gebietscharakter – insofern ist wiederum unter Anderem die Aussage in dem jeweiligen Absatz 1 der das Baugebiet betreffenden Bestimmung in den Blick zu nehmen -, darf die Ausnahme nicht erteilt werden und es besteht kein Anspruch auf sie. In diesem Zusammenhang sind die Anforderungen des jeweiligen Vorhabens an ein Gebiet, die Auswirkungen des Vorhabens auf ein Gebiet und die Erfüllung des spezifischen Gebietsbedarfs von besonderer Bedeutung. Entscheidend ist, ob ein Vorhaben dieser Art generell geeignet ist, ein „bodenrechtlich beachtliches Störpotenzial“ zu entfalten, das sich mit der Zweckbestimmung des Baugebiets nicht verträgt. Im Rahmen dieser Beurteilung kommt es nicht auf die konkrete Bebauung in der Nachbarschaft an. So hat etwa das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 2. Februar 2012 – 4 C 14.10 – ein Krematorium mit Abschiedsraum in einem Gewerbegebiet für nicht zulässig gehalten. Zwar ist dies eine Anlage für kulturelle Zwecke, sein Betrieb ist aber mit einem Gewerbegebiet, das von Handel und Produktion gekennzeichnet ist, nicht vereinbar. Das Gericht hob auf die Klage eines Nachbarn die Genehmigung auf.
Ausnahmen zu Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche
Gemäß § 16 BauNVO kann im Bebauungsplan das Maß der baulichen Nutzung bestimmt werden durch Festsetzung der Grundflächenzahl oder der Größe der Grundflächen der baulichen Anlagen, der Geschoßflächenzahl oder der Größe der Geschoßfläche, der Baumassenzahl oder der Baumasse, der Zahl der Vollgeschosse oder der Höhe baulicher Anlagen. Die Gemeinde kann von dem so festgesetzten Maß der baulichen Nutzung Ausnahmen vorsehen; diese müssen aber nach Art und Umfang in dem Bebauungsplan bestimmt werden, § 16 Abs. 6 BauNVO. Außerdem kann die Gemeinde bei Bebauungsplänen nach der Änderung der Baunutzungsverordnung mit Wirkung vom 27. Januar 1990 (für „alte“ Pläne gilt dies nur, wenn diese entsprechend geändert worden sind) festsetzen, dass bei der Berechnung von Geschossflächen, deren Höchstzahl durch die Festsetzung einer Geschossflächenzahl vorgegeben ist, die Flächen von Aufenthaltsräumen in anderen Geschossen einschließlich der zu ihnen gehörenden Treppenräume und einschließlich ihrer Umfassungswände ganz oder teilweise mitzurechnen oder ausnahmsweise nicht mitzurechnen sind (§ 20 Abs. 4 Satz 2 BauNVO). Wie jede Festsetzung darf auch eine solche nur aus städtebaulichen Gründen erfolgen. Für Stellplätze, Garagen und Gemeinschaftsanlagen können im Bebauungsplan besondere Regelungen hinsichtlich deren ausnahmsweise Nichtanrechnung auf die Zahl der zulässigen Vollgeschosse, der Baumasse, der Grundstücksfläche, der Grundfläche und der Geschossfläche getroffen werden (§ 21a BauNVO). Schließlich kann der Bebauungsplan Festsetzungen über die ausnahmsweise Zulässigkeit eines Vor- oder Zurücktretens gegenüber Baulinien sowie eines Überschreitens einer Baugrenze treffen (§ 23 Abs. 2 und 3 BauNVO).
Befreiungen
Bebauungspläne leiten ihre Bedeutung von der Legitimation der Abgeordneten in dem Gemeindeparlament ab. Die Stadtverordneten „setzen Recht“, und lediglich im Rahmen dieses geschaffenen Rechts ist die Verwaltung befugt, im Einzelfall, wenn Anlass dazu besteht, flexibel zu handeln. Deshalb muss sich jede Befreiung daran messen lassen, inwieweit durch sie die Grundzüge der Bauleitplanung beeinträchtigt werden. Insbesondere darf nicht durch eine Befreiung ein angeblicher Missgriff in einer Planfestsetzung ausgeglichen werden. Vielmehr hat sich bereits die Planfestsetzung an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes zu orientieren. Bei einem Verstoß hiergegen ist die Festsetzung ungültig und nicht zu beachten – sofern eine Aufrechterhaltung des Bebauungsplans ohne diese Festsetzung noch einen Sinn macht; gegebenenfalls ist sogar der gesamte Bebauungsplan unwirksam, wenn der verbleibende Rest nur noch einen Planungstorso darstellt. Wenn der Bebauungsplan unwirksam ist, stellt sich die Frage einer Ausnahme oder einer Befreiung gar nicht erst. Denn von einer ungültigen Norm braucht und kann weder eine Ausnahme noch eine Befreiung erteilt werden.
Andererseits folgt aus der Erkenntnis, dass bereits auf der planerischen Ebene die grundlegenden Entscheidungen getroffen werden müssen und diese Entscheidungen nur dann eine tragfähige Grundlage für einen wirksamen Bebauungsplan bilden können, wenn der Abwägungsvorgang rechtlich fehlerfrei erfolgt ist, dass für nachträgliche Korrekturen nur in äußerst beschränktem Maß Raum ist. Das Instrument der Befreiung dient eben nicht zur Änderung von unter Beachtung des Abwägungsgebots wirksam getroffenen, aber heute als unbillig angesehenen Entscheidungen. Das gilt auch für den Fall, dass eine Festsetzung als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird; sie darf nicht einfach ignoriert werden. Erforderlichenfalls muss eben der Plan geändert werden.
Befreiung nur im Falle einer „Atypik“
Eine frühere Fassung des § 31 Abs. 2 BauGB besagte, dass die Befreiung „im Einzelfall“ erteilt wird. Die heutige, seit dem 1. Januar 1989 gültige Fassung enthält diese Formulierung nicht mehr. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber bereits bald nach der Rechtsänderung ausgeführt, die Anwendung der Befreiungsvorschrift des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB setze weiterhin voraus, dass ein „atypischer“ Sachverhalt besteht. Ein „atypischer“ Sachverhalt liege jedenfalls nicht vor, wenn die Gründe, die für eine Befreiung streiten, für jedes oder nahezu für jedes Grundstück im Planbereich gegeben sind (so wörtlich die Leitsätze der Entscheidung vom 20. November 1989 – 4 B 163/89 –). Die Richtigkeit dieses Verlangens ist umstritten. Allerdings dürfte die Bedeutung des Streits in der Praxis geringer sein als die Heftigkeit der wissenschaftlichen Diskussion. Denn durch die unabdingbare Voraussetzung für eine Befreiung, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen (dazu weiter unten), wird der Streit entschärft. Denn würde in einem nicht nur atypischen, sondern „normalen“ Fall eine Befreiung erteilt, würde das Berufungsfälle ermöglichen. Damit bestünde die Gefahr, dass die Planungskonzeption nicht länger berücksichtigt wird. Daher wird durch eine strenge Anwendung des Kriteriums des Verbots des Berührens von Grundzügen der Planung dasselbe erreicht, wie wenn eine Korrektur durch ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal wie „atypischer Sachverhalt“ oder „im Einzelfall“ geprüft würde.
Die Grundzüge der Planung dürfen nicht berührt sein
Das Erfordernis, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen, war nach früher geltendem Recht lediglich eine von mehreren Tatbestandsalternativen für eine zulässige Befreiung. Der Gesetzgeber hat es in der jetzt gültigen Fassung gleichsam vor die Klammer gezogen und zur allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzung erhoben, die für alle Befreiungsfälle Geltung beansprucht. Das hat seine Rechtfertigung in dem oben dargestellten Rechtsnormcharakter der Festsetzungen eines Bebauungsplans. Einerseits soll mit § 31 Abs. 2 BauGB im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit und der Wahrung der Verhältnismäßigkeit für Vorhaben, die den Festsetzungen zwar widersprechen, sich mit den planerischen Vorstellungen aber gleichwohl in Einklang bringen lassen, ein Mindestmaß an Flexibilität geschaffen werden. Andererseits soll durch das Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung sichergestellt werden, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht beliebig durch Verwaltungsakt außer Kraft gesetzt werden. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 2 Abs. 4 BauGB der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde. Hierfür ist ein bestimmtes Verfahren unter Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange vorgeschrieben, von dem nur unter gesetzlich beschriebenen Voraussetzungen abgesehen werden kann.
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Dies zu erkennen setzt eine sorgfältige Auslegung des Bebauungsplans voraus. Unter Umständen muss auf die Aufstellungsvorgänge zurückgegriffen werden. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um- )Planung möglich ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf – jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind – nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (so das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 8. Mai 1989 – 4 B 78/89 -).
Drei Alternativen als Befreiungsgründe
Weitere Voraussetzung für eine Befreiung ist, dass Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde.
Wie sich schon aus dem Begriff „Gründe des Wohls der Allgemeinheit“ ergibt, sind allein private Interessen nicht ausreichend für eine Befreiung unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls. Vielmehr muss es um öffentliche Interessen und Belange gehen. Der Begriff „deckt in seiner Abstraktheit eine Vielfalt von Sachverhalten und Zwecken“ ab und „bedarf deswegen stets der Konkretisierung im Einzelfall“ (so das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 18. Dezember 1968 – 1 BvR 638/74 – ). Die Gründe beschränken sich nicht auf spezifisch bodenrechtliche Belange, sondern erfassen alles, was im Allgemeinen unter den öffentlichen Belangen oder – insoweit gleichbedeutend – den öffentlichen Interessen zu verstehen ist. So kann beispielsweise das Gemeinwohl gefördert werden durch soziale Einrichtungen (Krankenversorgung, Kinderbetreuung, Altenpflege), durch kulturelle Einrichtungen (Schulen, sonstige Bildungsstätten, Museen, Theater), durch sportliche Einrichtungen (Sportplätze, Badeanstalten, Turnhallen), durch Einrichtungen der Freizeitgestaltung (Spielplätze, Grünanlagen), durch Einrichtungen, die der Sicherheit der Bevölkerung dienen (Brandwachen, Polizeiwachen), durch Umweltschutzeinrichtungen (Kläranlagen, Immissionsschutzanlagen), durch Verkehrsanlagen, Versorgungsanlagen oder Entsorgungsanlagen u.a.m..
Die Gemeinwohlinteressen „erfordern“ eine Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht erst dann, wenn den Belangen der Allgemeinheit auf keine andere Weise als durch eine Befreiung entsprochen werden könnte, sondern nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift schon dann, wenn es zur Wahrnehmung des jeweiligen öffentlichen Interesses „vernünftigerweise geboten“ ist, mit Hilfe der Befreiung das Vorhaben an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen (so das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 9. Juni 1978 – 4 V 54/75 – ). Die Befreiung muss nicht schlechterdings das einzige denkbare Mittel für die Verwirklichung des jeweiligen öffentlichen Interesses sein. Dessen Erfüllung muss also nicht mit der Erteilung der Befreiung „stehen und fallen“. Auch dann, wenn andere – auch weniger naheliegende – Möglichkeiten zur Erfüllung des Interesses zur Verfügung stehen, kann eine Befreiung zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses „vernünftigerweise geboten“ sein; dabei kann es auch auf – nach objektiven Kriterien zu beurteilende – Fragen der Zumutbarkeit und Wirtschaftlichkeit ankommen. Dass die Befreiung dem Gemeinwohl nur irgendwie nützlich oder dienlich ist, reicht allerdings nicht aus.
Städtebaulich vertretbar ist eine Befreiung dann, wenn eine entsprechende Festsetzung mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung vereinbar wäre. Dies ist dann zu bejahen, wenn sie Gegenstand einer sachgerechten Abwägung im Rahmen eines Planänderungsverfahrens sein könnte. Insoweit kommt es insbesondere auf öffentliche Belange an. Aber auch private Belange kommen in Betracht, soweit diese im Falle einer Bebauungsplanung bedeutsam sein können. Sind die Festsetzungen in dem Bebauungsplan sehr differenziert, kommt eine Befreiung davon weniger in Betracht; deshalb dürfte z.B. eine Befreiung von dem Ausschluss bestimmter Nutzungen unter dem Gesichtspunkt der städtebaulichen Vertretbarkeit kaum in Betracht kommen.
Eine offenbar nicht beabsichtigte Härte ist nur selten anzunehmen. Nicht jede Betroffenheit rechtfertigt eine Befreiung. Denn die Festsetzungen eines die Ausnutzbarkeit eines Grundstücks begrenzenden Bebauungsplans stellen immer schon einen Nachteil dar. Hierfür genügt nicht schon, dass der Satzungsgeber eine bestimmte Möglichkeit baulicher Ausnutzung nicht bedacht hat. „Hinzutreten muss vielmehr weiter, dass der jeweilige Fall in bodenrechtlicher Beziehung Besonderheiten aufweist, die ihn im Verhältnis zu der im Bebauungsplan getroffenen Festsetzung als einen Sonderfall erscheinen lassen. Trifft das nicht zu, hat also der Plangesetzgeber mehr oder weniger „allgemein“ etwas nicht bedacht, dann besteht Anlass, deshalb (insoweit) die Gültigkeit der planerische Festsetzung anzuzweifeln, nicht aber eine Rechtfertigung, in einem Einzelfall oder eventuell gar in zahlreichen Einzelfällen von ihr Befreiung zu erteilen.“ (so das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 6. Juli 1977 – 4 B 53/77 -). Unbeabsichtigt ist eine Härte dann, wenn die Belange nicht Gegenstand der Abwägung im Rahmen der Erstellung des Bebauungsplans waren, weil sie der Gemeinde nicht bekannt waren oder nicht bekannt sein mussten und auch von den betroffenen Eigentümern während des Planaufstellungsverfahrens nicht vorgetragen worden waren. Auch insofern scheiden private Belange nicht von vornherein aus. Sie spielen aber nur dann eine Rolle, wenn sie grundstücksbezogen sind; persönliche (z.B. familiäre) Besonderheiten sind unmaßgeblich. Im Ergebnis gilt das Gleiche, wenn sie auf Umstände zurückzuführen sind, die insofern in die Privatsphäre des Bauherrn fallen, als sie ihre Ursache in einem nicht genehmigten Vorhaben haben. Auch wenn eine bauliche Anlage nur noch Bestandsschutz genießt, ist die Härte, die darin liegt, dass ein Vorhaben wegen Entgegenstehens einer planerischen Festsetzung nicht zulässig ist, nicht unbeabsichtigt. Denn es ist davon auszugehen, dass der Plangeber bei Erlass der Festsetzung die Existenz des Bestandsschutzes und deren rechtliche Reichweite erkannt und in Kauf genommen hat.
Die Würdigung nachbarlicher Interessen und die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen
Die Anforderung der Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen deckt sich weitgehend mit der Anforderung, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen (s.o.) sowie mit einigen Elementen der Nrn. 1 und 2. Der Anwendungsbereich ist deshalb begrenzt.
Öffentliche Belange im Sinne dieser Vorschrift sind alle für eine Bauleitplanung relevanten städtebaulichen oder bodenrechtlichen Belange, nicht aber rein fiskalische Interessen (auch etwa der Gemeinde). Es kommt auf den Einzelfall an, wobei bei entgegenstehenden Interessen eine Abwägung nach dem Gewicht der Interessen erfolgen muss. Das Ergebnis ist einer vollen gerichtlichen Überprüfung unterworfen, d.h. es besteht kein Ermessensspielraum der Genehmigungsbehörde. Eine Befreiung ist umso eher nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar, je tiefer sie in das Interessengeflecht der Planung eingreift. Was den Bebauungsplan in seinen Grundzügen verändert, lässt sich durch Umplanung ermöglichen und darf nicht durch einen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden; die Abwägungsfrage darf nicht gleichsam auf der Genehmigungsebene neu aufgeworfen werden. Außerdem darf die Befreiung nicht anderen Vorschriften des Baugesetzbuchs zuwider laufen.
Nach dem System des Planungsrechts sind bereits im Rahmen der Bauleitplanung, also insbesondere auch bei der Fassung eines Bebauungsplans, nachbarliche Belange zu berücksichtigen. Ein Plan, der solche Belange, ohne sie in seine Abwägung mit einzubeziehen, schlicht übergeht oder übersieht, ist unwirksam – wobei die Gemeinde selbstverständlich berechtigt ist, sie nach einem fehlerfreien Abwägungsvorgang zurücktreten zu lassen hinter anderen, von ihr als vorrangig eingestuften Belangen. Im Falle einer Befreiung stellt sich die Frage des Nachbarschutzes erneut. Deshalb verlangt § 31 Abs. 2 BauGB konsequenterweise, dass nachbarliche Belange auch hier in den Blick zu nehmen sind.
Unter „Belange“ sind alle Formen von planungsrechtlich relevanten Interessen zu fassen. Das sind nicht nur solche, die im Sinne des Baunachbarrechts auf Grund einer nachbarschützenden Bestimmung ein subjektives öffentliches Recht darstellen. Auf der Ebene der Abwägung der Belange ist allerdings bedeutsam, ob der nachbarliche Belang „bloß“ ein Interesse (im Sinne eines reinen, nicht schutzwürdigen Affektionsinteresses) oder ein subjektives öffentliches Recht, das ihm die Rechtsordnung ausdrücklich eingeräumt hat, darstellt. Denn im zweiten Fall wird es sich eher gegenüber dem Interesse des Bauherrn durchsetzen können als im ersten. Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 19. September 1986 – 4 C 8.84 -) hat die Abwägung wie folgt beschrieben: „Der Nachbar kann umso mehr an Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch eine an die Stelle der im Bebauungsplan festgesetzten Nutzung tretende andersartige Nutzung berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, um so weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind.“ Weiterhin sei zu prüfen, ob die durch die Befreiung eintretenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was einem Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist. Die in diesem Zusammenhang oft von Nachbarn geltend gemachte „erdrückende Wirkung“ eines hinzu tretenden oder erweiterten Gebäudes, dessen verschattende Wirkung oder sonstige störende Folgen sind an diesen Anforderungen zu messen; in der Rechtspraxis führen die Feststellung oft zu schwierigen Bewertungsfragen.
Ermessensentscheidung bei der Erteilung einer Ausnahme und einer Befreiung
Wenn in § 31 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB von „kann“ die Rede ist, dann drückt dieser Begriff entsprechend der in der Gesetzestechnik üblichen Bedeutung aus, dass der Behörde Ermessen zusteht. Das besagt: Auch bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausnahme oder einer Befreiung hat die Behörde die rechtliche Befugnis, die Erteilung der Ausnahme abzulehnen. Der Bauherr hat nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Die Behörde muss hierfür die allgemeinen verwaltungsrechtlich anerkannten Grundsätze über die Ermessensausübung berücksichtigen: Sie muss zunächst allem von dem richtigen tatsächlichen Sachverhalt ausgehen. Ferner muss sie den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten: Der Bauherr hat einen Anspruch auf die Erteilung der Ausnahme bzw. Befreiung, wenn die Behörde sich durch die Erteilung von Ausnahmen bzw. Befreiungen in anderen, gleich gelagerten Fällen so sehr gebunden hat, dass die diesmalige Ablehnung gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen würde. Die Behörde muss bei ihrer Entscheidung in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch machen: Die Versagung darf nur aus städtebaulichen Gründen erfolgen. Dabei reicht es nicht aus, dass die Gemeinde dem Vorhaben bestimmte entgegenstehende Planungsabsichten hat. Denn um diese zu sichern stehen der Gemeinde andere Instrumente zur Verfügung, nämlich die Zurückstellung von Baugesuchen und die Veränderungssperre. Schließlich muss sie nach § 39 Abs. 1 Satz 3 Verwaltungsverfahrensgesetz eine Begründung fertigen, die die Gesichtspunkte erkennen lässt, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist.
Abweichungen
Mit den im Baugesetzbuch abschließend aufgeführten Möglichkeiten zur Erteilung von Abweichungen soll dem Bauherrn Gestaltungsfreiheit eingeräumt werden, die nicht an einer zu kleinlichen Handhabung der Vorschriften scheitern soll. Das Gesetz bietet die Möglichkeit,
- von der als zwingend festgesetzten Höhe baulicher Anlagen geringfügige Abweichungen zuzulassen, § 18 Abs. 2 BauNVO,
- geringfügige Überschreitungen der zulässigen Grundflächenzahl zuzulassen, § 19 Abs. 4 BauNVO,
- das Vor- und Zurücktreten von Gebäudeteilen in geringfügigem Ausmaß über die im Bebauungsplan festgesetzte Baugrenze oder Baulinie zuzulassen, § 23 Abs. 2 und 3 BauNVO; soweit der
Satzungsgeber nach § 23 Abs. 2 S. 3 BauNVO von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, ein Vor- oder Zurücktreten von Gebäudeteilen in geringfügigem Ausmaß zuzulassen, ist eine entsprechende Entscheidung allerdings eine Ausnahmeentscheidung nach § 31 Abs. 1 BauGB),
- Nebenanlagen im Sinne von § 14 BauNVO in der Abstandfläche zuzulassen, § 23 Abs. 5 BauNVO.
Über die Abweichung entscheidet die Baugenehmigungsbehörde im Ermessenswege; sie kann die Abweichung ablehnen, wenn sie dafür gute Gründe anführen kann. Insofern gilt das zur Erteilung einer Ausnahme und einer Befreiung Gesagte.
Die rechtlichen Möglichkeiten stellen keinen Freibrief dar
Der vorstehende, die Möglichkeiten von Ausnahmen, Befreiungen und Abweichungen bei weitem nicht erschöpfend darstellende Überblick soll dies deutlich machen:
Der Gesetzgeber und der Satzungsgeber haben auf Grund ihrer parlamentarischen Legitimation die Rechtssetzungskompetenz. Die Genehmigungsbehörde hat in dem Rahmen, den das Gesetz und die Satzung ihr lassen, die Befugnis, mittels Ausnahmen, Befreiungen und Abweichungen flexibel zu handeln, um Rechtsschematismus zu vermeiden. Ihr verbleibt dabei ein Ermessensrahmen, den sie unter Beachtung der Rechtsordnung auszuschöpfen hat. Eine zu großzügige Handhabung insbesondere der Befreiungsmöglichkeiten verbietet sich aus rechtsstaatlichen Gründen und kann im Falle einer flächendeckenden Praxis dazu führen, dass die Festsetzung – im Extremfall sogar der gesamte Bebauungsplan – funktionslos und damit ungültig wird.
Ist ein Vorhaben wegen entgegenstehender gesetzlichen Bestimmungen oder Festsetzungen nicht genehmigungsfähig und liegen auch die Voraussetzungen für eine Ausnahme, Befreiung oder Abweichung nicht vor, ist es nur nach einer Umplanung des Vorhabens bzw. Änderung des Bebauungsplans realisierbar. Das Unterfangen, ihm mit den genannten Mitteln über die Hürde hinwegzuhelfen, ist ansonsten untauglich: Eine Maßnahme, die an den gesetzlichen Voraussetzungen vorbei geht, heilt den Verstoß nicht, sondern bezweckt allenfalls die Suggestion der Rechtmäßigkeit, vergleichbar einem Radfahrer, der im Dunkeln den Radweg in der entgegengesetzten Richtung benutzt und, damit er dabei nicht erwischt wird, sicherheitshalber auch noch die Fahrradbeleuchtung nicht einschaltet.
Dr. jur. Hubertus Schulte Beerbühl war Richter am Verwaltungsgericht Münster. Er ist als Buchautor und freier Referent tätig.
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu:
Wenn im Bplan zwei Grundstücke eingezeichnet sind zur Bebauung mit je einem Reihenhaus. Beide Grundstücke aber an eine Person verkauft werden, der die beiden Grundstücke im Grundbuch als ein Grundstück zusammen fast.
Jetzt möchte er aber ein 4 Parteien Haus anstatt der eingezeichneten 2 EinfamHäuser errichten.
Ist das zulässig oder dürfen nur 2 Einfam Häuser wie im Bplan eingezeichnet gebaut werden?
Gruß und danke für eine Antwort
Ch.Klein
ein 4200qm großes Wiesengrundstück innerhalb eines B-Plans (ländliche Umgebung) mit Festsetzung als allgemeines Wohngebiet. Dieses Grundstück liegt im nicht überbaubaren Bereich, kann aber wegen der Festsetzung nicht mehr für die Pferdehaltung genutzt werden. Praktisch ist ohne eine Bebauungsmöglichkeit gar keine sinnvolle Nutzung mehr möglich. Die Erschließung des Grundstücks ist gesichert und es könnten ca. fünf Einfamilienhäuser gebaut werden. Liegt dann ggf. eine unbeabsichtigte Härte vor? Es ist die bei weitem größte Freifläche innerhalb des B-Plans. Eine bauliche Nachverdichtung wird seitens der Gemeinde mit dem Argument der Präzidenzfallschaffung abgelehnt, obwohl es nur einige wenige sonstige Grundstücke im B-Plangebiet gibt, bei denen vielleicht ein weiteres Haus außerhalb der Baugrenze möglich wäre.