Text: Roland Stimpel
Die Marienburg in Hildesheim war seit ihrer Gründung im Jahr 1346 schon vieles: Bischofssitz, Wehr- und Wohnburg, Getreidespeicher, Brauerei, Gemüsehof und Eisfabrik. Jetzt erlebt sie mal wieder etwas Neues, als „Kulturcampus“ für Ästhetik-Abteilungen der Hildesheimer Universität, als Ausflugsziel und nicht zuletzt als Denkmal, dem fast alle seine Nutzungen und ein Gutteil der Baustile seit der Gotik anzusehen sind.
Zu verdanken ist das einem glücklich gefügten Duo von Bauherr und Planer: dem ambitionierten Hildesheimer Universitäts-Baudezernenten Thomas Hanold und dem Architekten Thiemo Pesch, Niederlassungsleiter des Büros agn Niederberghaus & Partner GmbH in Halle an der Saale. Die beiden fanden ab dem Jahr 2007 zusammen, in dem agn Niederberghaus das VOF-Verfahren mit integriertem Wettbewerb für den vorgesehenen Kulturcampus gewann und den Auftrag als Generalplaner erhielt. Daraus erwuchsen drei sehr unterschiedliche Aufgaben: der Weiterbau der 660 Jahre alten Burg, der Einbau sensibler Musikräume in einen rustikalen Pferdestall und der Neubau eines Hochschultheaters.
Für den Architekten Pesch war das Projekt Himmel und Hölle zugleich: „Eine absolut exotische Bauaufgabe. Die Komplexität und Unerforschtheit ist faszinierend, hat aber alle Beteiligten extrem gefordert.“ Zumal sie oft auch widersprüchlich war: „Natürlich wollten wir in den Bestand so wenig wie möglich eingreifen, alles Vorhandene respektieren und nur minimalistisch weiterbauen. Aber zugleich ist es unmöglich, so etwas mit einem einzigen Gestaltungs-Dogma zu realisieren. Man muss hier prinzipientreu und flexibel zugleich sein.“
Immer wieder kam die Frage auf: Was sollte von der bewegten Geschichte der Kernburg sichtbar bleiben – oder wieder sichtbar werden? Das war anfangs nur städtebaulich und äußerlich klar: „Wir wollten die Burg wieder freistellen und in ihrer Dominanz zeigen.“ Die zeigt sie nun wieder, vor allem durch ihr 30 Meter aufragendes „Hohes Haus“, einen gewaltigen Turmbau von 22 mal 13 Metern Umfang. Draußen sind junge Anbauten abgerissen, aber nur an einer Stelle ist die Kernburg selbst durch den Umbau äußerlich verändert: Das neu gedeckte Dach des Querhauses hat einen breiten Erker bekommen – nötig, um in diesem Trakt das geforderte Sicherheitstreppenhaus unterzubringen. Anderswo sind zerstörte gotische Fenstersäulen teils gar nicht ersetzt, teils in farblich und formal abgesetztem Beton neu geschaffen, wo das statisch nötig war.
Drinnen verschwanden aus den unteren Geschossen die Fliesen, die in der Epoche von Eiscreme und Gemüsekonserven gelegt worden waren. Ebenso verschwanden aus den 150-Quadratmeter-Sälen die nachträglich eingebauten senkrechten Mittelstützen aus der Kornspeicher-Epoche. Viele weitere Eingriffe waren unvermeidlich, schonten aber Substanz wie Ambiente. Etwa die stark durchhängenden Balken der historischen Geschossdecken. Zunächst planten Thiemo Pesch und seine Kollegen neue in einem Holz-Beton-Verbund. „Das mussten wir verwerfen, weil es bei der Spannweite von neun Metern das Holz zerrissen hätte.“ Zugleich hätten auch die Außenmauern trotz Wandstärken bis zu drei Metern die Decke nicht tragen können – der Kalkmörtel im Mauerwerk ist zu weich. Zudem sollte Heizungs- und Klimatisierungstechnik in die Decken. Diese werden nun von relativ leichten, filigranen Stahlträgern gehalten – unsichtbar oberhalb der belassenen und von unten sichtbaren alten Holzbalken. Zwischen den Stahlträgern liegen die Lüftungskanäle für die Fußbodenheizung, die den Einbau von Heizkörpern in den mittelalterlichen Hallen erübrigt hat. Da die Warmluft im Boden vor den Wänden austritt, braucht der Bau auch keine Innendämmung. „Die Wände allein helfen bei der Erwärmung nicht.“ Gerade weil sie so dick sind, halten sie das ganze Jahr über eine nur mäßige Durchschnittstemperatur – noch im fünften Stock ein Effekt wie im Keller.
Niemand weiß, wohin die Treppe führte
Das Gemäuer beherbergt jetzt einen modernen Universitätsbetrieb mit Aula im einstigen Bischofssaal sowie mit Seminar- und Übungsräumen. Man betritt sie mal durch frühere Kamine, mal durch frühere Kreuzblumenfenster. Die meisten Räume tragen gotische, barocke und jüngere Spuren; die Aula-Etage ist laut Pesch „im Hinblick auf die Fenster das einzige homogene, in sich stimmige Geschoss“. In dem gotischen Saal findet man vorn die einstige Altarnische, hinten Kuriosa wie den Flur zum bischöflichen Abort, heute ein mit gelagerten Stühlen zugestellter Gang. Anderswo entdeckt man eine nach wenigen Schritten vermauerte Treppe, von der „kein Mensch weiß, wo die mal hingeführt hat“. An Holzbalken vor den Fenstern sind noch Einkerbungen sichtbar, die von den Seilen des Getreideaufzugs geschliffen wurden. „Ein schönes Detail – so was liebe ich“, schwärmt Pesch.
Das zweite Bauprojekt neben dem Hohen Haus war der Neubau eines Burgtheaters gleich nebenan. „Da ist erstmals in Deutschland ein Universitätsgebäude speziell für ein theaterwissenschaftliches Institut geschaffen worden.“ Der Bau hält respektvollen Zehn-Meter-Abstand zur Burg nebenan und entspricht den Proportionen der Turmfestung, nur ohne Spitzdach und um 90 Grad gekippt. Eine Abstraktion, die die Fachwelt anspricht, von Laien aber wohl kaum wahrgenommen wird – ebenso wie die gestalterische Anspielung der Kupfertore an die Vorhänge einer Bühne. Hauptsache aber, der Bau lässt die alte Burg weiter dominieren, in seiner Form wie in der dunkelgrauen Farbe seiner Betonwände. Diese sind 80 Zentimeter stark und mit Blähton durchsetzt, was weitere Wärmedämmung erspart.
Dritter Teil des Projekts waren die Pferdeställe aus dem 19. Jahrhundert. Sie stehen im Sumpf des Flüsschens Innerste, das gleich hinter der Burg entlang plätschert. „Ihre Gründung ist bis zu sechs Meter tief und enthält zwei Drittel der Baumasse – eigentlich ein konstruktiver Wahnsinn“, meint Pesch. Bauhistorisch bedeutsam findet er sie auch nicht, aber sie gehören nun mal zum Ensemble. Also erhielten sie eine neue Gründung und im Inneren eine leichte, zweigeschossige Holzständerkonstruktion. Sie umfasst schallgeschützte Übungsboxen für Musikstudenten und entspricht schulmäßig der Denkmalschutzregel, dass eine neue Konstruktion die alte möglichst nicht zu berühren habe.
Thiemo Pesch beschreibt den wichtigsten Unterschied des Burg-Projekts zu einem gewöhnlichen Bauvorhaben: „Anderswo hat man ein Konzept und setzt es um. Hier dagegen fährt man auf Sicht. Bei allem, was man vorhat, muss man erst mal prüfen, ob es in der besonderen Situation überhaupt greift. Das war immer wieder ein Experiment für alle Beteiligten.“ So etwas geht nicht mit jedem Bauherrn – Pesch bescheinigt dem seinen in der Person Thomas Hanolds „Mut und unendliche Geduld“. Und zugleich Zielstrebigkeit: „Er hat es konsequent und gradlinig mitgetragen.“
Für das Büro agn Niederberghaus bilanziert Pesch das Projekt als „schöne Referenz – aber wir mussten schon einen Riesenaufwand betreiben“. Das brauchte Erfahrung, die man sonst nirgendwo sammeln kann – aber auch nirgendwo verwerten: „90 Prozent führen Sie so nie wieder aus.“
Buch zur Burg: Tilman Borsche, Wolfgang-Uwe Friedrich, Thomas Hanold (Hg.):
Die Domäne Marienburg bei Hildesheim. Von der Bischofsburg zum Kulturcampus.
304 Seiten, 24,95 €, Gebrüder Gerstenberg Verlag