Text: Simone Hübener
Steildachhäuser stehen bei vielen Bauherren und auch Architekten nicht gerade hoch im Kurs. Denn damit werden eher angestaubte, konventionelle Wohnformen verbunden, nach denen heute niemand mehr zu streben scheint. Doch dieser Rückschluss allein aufgrund der Dachform kann trügerisch sein. Davon zeugen in Stuttgart, der Hochburg der Häuslebauer, zwei äußerst gelungene Beispiele. Unter ihren Dächern entfaltet sich eine enorme Lebens- und Aufenthaltsqualität. In beiden Fällen brachten die Bauherren aber auch den notwendigen Mut auf, mit ihrem jeweiligen Architekten neue, ungewöhnliche Wege zu beschreiten.
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Außen klein, innen groß
Als klassisches Zweifamilienhaus kam das eher kleine und unscheinbare Gebäude mit seinem Krüppelwalmdach in Stuttgart-Vaihingen daher. Die Wände im Erdgeschoss waren feucht und dunkel, weshalb dort nicht an Wohnen zu denken war. Ein Mieter hatte sich in diesem Bereich seine Werkstatt eingerichtet und wohnte mit Frau und Kindern in einer klassisch gegliederten Wohnung im ersten Obergeschoss und unter dem Dach. Als der Mieter das Haus kaufen konnte, das seiner Familie lieb geworden war, wurden gemeinsam mit dem Architekten Philippe Frey die Möglichkeiten von Haus und Budget ausgelotet. Relativ schnell konnte Frey seine Kunden von einem mutigen Schritt überzeugen: Die Decken über dem Erd- und dem Obergeschoss wurden auf einer Fläche von je zwei mal vier Metern durchbrochen, sodass über die gesamte Gebäudehöhe ein Luftraum entstand. Anfangs fiel es den Bauherren schwer, sich das alles vorzustellen. Doch das Vertrauen in ihren Architekten war groß genug, und bis heute haben sie diese Entscheidung keine Sekunde bereut. Zum einen ging in der Summe nicht viel Fläche verloren, da im Dachgeschoss neuer Raum dazukam. Die Treppe, die einst vom Ober- ins Dachgeschoss führte, wurde in den Bereich des Luftraums verlegt. Das bestehende Treppenloch im Dachgeschoss konnte geschlossen werden. Luftig leicht, so wie es bestens zu diesem Haus passt, steigt der neue Treppenlauf aus gefaltetem Stahlblech ins Dachgeschoss empor.
Der neue Luftraum kaschiert außerdem die relativ niedrige Raumhöhe des Erdgeschosses. Der Blick kann in die oberen Etagen schweifen; das von dort einfallende Licht wirkt wie ein Magnet. Das führt zum dritten Vorteil, den dieser radikale Umbau mit sich gebracht hat: Obwohl die Gebäudehülle inklusive der Position der Fenster bis auf einige Brüstungen komplett erhalten wurde, wirkt das Innere unglaublich groß, hell und freundlich. All das würde man von außen so nicht erwarten. Für den Lichteinfall von oben genügt ein einziges Dachfenster, das es in kleinerem Format ebenfalls bereits gab. Das restliche Licht holen die Fenster in den Außenmauern ins Haus.
Zu dieser offenen und lichtduchfluteten Atmosphäre trägt auch der Innenausbau bei: Geländer rings um den Luftraum, die aus Glas gefertigt wurden, ein strahlendes Weiß für Wände und Decken sowie ein heller Parkettboden mit leichtem Grauschimmer. Die Architekten machten mit diesem Entwurf das für dieses Haus Maximale möglich und schafften es gleichzeitig, die Gebäudehülle optisch quasi nicht zu verändern. So bleibt außen – im städtebaulichen Sinne äußerst positiv – alles beim Alten, während sich den Bewohnern innen eine völlig neue, transparente und offene Wohnwelt präsentiert.
Spiel mit Licht und Schatten
Angepasst und gleichzeitig ungewöhnlich wirkt ein neu gebautes Wohnhaus im Stuttgarter Stadtbezirk Sillenbuch, entworfen vom Architekturbüro se(arch). Der vertraut-neuartige Eindruck rührt von seiner Gebäudeform und seinem Fassadenmaterial her. Mit seinem hohen Giebel passt es sich seinen Nachbarn an und greift mit den Holzschindeln einen Werkstoff auf, der in nächster Umgebung durchaus präsent ist, allerdings in weitaus kleinerem Umfang und fast immer mit einer dunklen Farbe gestrichen. Das Haus ist dagegen auf allen Außenflächen inklusive des Dachs mit Schindeln bekleidet und zeigt sich – zumindest zur Straße hin – sehr introvertiert. Einzig ein Oberlichtband, das sich über die gesamte Hausbreite erstreckt, lässt von dieser Seite Licht ins Innere.
Dachflächenfenster, die den Innenraum erhellen könnten, sind nicht auszumachen. Deshalb ist man umso erstaunter, wenn man das Haus durch die nach Westen gerichtete Stirnseite betritt. Man wird von einem hellen, gebäudehohen Raum empfangen, in den das Licht aus allen Richtungen einströmt. Durch das bereits erwähnte Oberlichtband streift es sanft an der Dachschräge entlang. Tagsüber ist das Licht natürlichen Ursprungs; abends sorgen dimmbare LED-Lichtleisten für den gewünschten Effekt. Ein zweites Oberlichtband, das im Firstbereich angeordnet ist, schickt Sonnenstrahlen bis hinunter ins Erdgeschoss. Und von der Seite her kann das Licht durch die riesige Fenstertür der Küche und den Durchgang zu den anderen Räumen des Erdgeschosses ebenfalls hereinfließen. Da auf die Innenseite der geschlossenen Nordfassade somit kein direktes Licht fällt, eignet sie sich bestens als Präsentationsfläche für die kleine Bildersammlung des Bauherrn. Zugleich erzeugen diese perfekt inszenierten Lichteinfälle eine Sogwirkung in Richtung ihres Ursprungs. Das bedeutet: hinein in den Wohn-Essbereich oder hinauf in die privaten Räume der Familie.
Dabei wird man – egal, für welchen Weg man sich entscheidet – mit einem außergewöhnlichen Element konfrontiert: Über die gesamte Breite und Höhe des Hauses erstreckt sich ein etwa drei Meter breiter Betonkern, der alle dienenden Funktionen aufnimmt: Eingangsbereich, Treppenläufe, Badezimmer, Küche und im Obergeschoss auch Einbauschränke. Der Aufwand dafür war enorm, denn zum einen mussten die Architekten sehr detailliert planen, in welcher Reihenfolge die horizontalen und die vertikalen Bauteile betoniert werden konnten. Zum anderen war ein großes Gerüst mit Ablageflächen nötig. Am Ende entstand eine begeh- und nutzbare Skulptur, die vom Licht umströmt und von der fünfköpfigen Familie in Beschlag genommen wird.
Simone Hübener ist Fachjournalistin für Architektur und Bauen in Stuttgart.
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