Text: Nils Hille
Wo will er nur hin? Ein Schuljunge läuft in eine Richtung, in die sich sonst wohl nie Kinder allein bewegen würden. Doch der Kleine ist sich seiner Sache sicher. Er öffnet eine der Glastüren und flitzt quer durch ein markantes Gebäude. Treppauf, treppab – gefilmt von einer Kamera, die zu schweben scheint, so sanft, wie sie sich durch die außergewöhnliche Architektur bewegt und sie dabei ganz nebenbei in Szene setzt. Der Junge interessiert sich aber nicht weiter für das Gebäude. Kurz grüßend, läuft er an einer Dame vorbei, die auf dem Boden kniet und einzelne der unzähligen kleinen Fliesen austauscht. Und auf einmal ist er mittendrin – im Konzertsaal der Berliner Philharmonie, in der Chefdirigent Sir Simon Rattle gerade mit dem berühmten Orchester probt. Doch auch hier bleibt der Junge nur kurz. Er will weiter in einen Regieraum, in dem sein Vater arbeitet und Kameras fernsteuert, die die Konzerte aufzeichnen und in alle Welt übertragen. Da heute nur eine Probe stattfindet, darf der Sohn mal den Joystick am Regiepult bedienen – und somit nicht nur die Musiker und ihre Musik, sondern auch den Musiktempel in Szene setzen.
Die Geschichten der Gebäude
Eigentlich in Szene gesetzt hat das alles Wim Wenders. Als einer von sechs international renommierten Regisseuren steuerte er eine Geschichte zu der Dokumentation „Kathedralen der Kultur“ bei, die seit dem 28. Mai 2014 in den deutschen Kinos läuft. Er und die anderen fünf Filmemacher waren aufgerufen, ihre Lieblingskulturbauten zu porträtieren. Und sie sollten dabei eine zentrale Frage beantworten: Wenn Gebäude sprechen könnten, was würden sie uns erzählen? Wenders findet Antworten in Form von unterschiedlichen menschlichen Akteuren, die, wie der kleine Junge, alle direkte oder indirekte Bezugspunkte zu dem Kulturbau haben. Auch Simon Rattle ist einer von ihnen; Wenders durfte ihn unglaublich nah bis direkt vor und sofort nach einem Konzert hinter den Kulissen mit der Kamera begleiten. Die Aufnahmen in 3-D schaffen so viel Direktheit, dass der Zuschauer nach der knappen halben Stunde denken könnte, er hätte sich selbst durch die Berliner Philharmonie bewegt und live ein Konzert erlebt.
Allein wegen dieser Episode lohnt der Besuch des Films – dies sollte sich der Kinogänger immer wieder sagen, wenn er das zweite, vor Langeweile nur so strotzende Gebäudeporträt überstehen muss. Michael Glawogger stellt darin die von Yegor Sokolov entworfene Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg vor, indem er deren Mitarbeiterinnen unendlich oft und lange mit Büchern und Pappkärtchen durch die unzähligen Gänge laufen oder an Schreibtischen arbeiten lässt – monoton, einschläfernd und grauslich garniert durch eine überbetonende Kommentarstimme. Danach aber wird der eventuell noch wache Zuschauer mehr als entschädigt – mit einer ruhigen und doch emotional aufwühlenden Darstellung des norwegischen Gefängnisses in Halden, gebaut vom dänischen Architekturbüro EMA, gefilmt von Michael Madsen. Ein Film, der einen zwischen Begeisterung für das wohl außergewöhnlichste Gebäude seiner Art und der Gewissensfrage, ob gerade Straftäter so einen Bau erhalten sollten, hin und her reißt.
Anschließend folgen mit dem Salk Institute, dem Osloer Opernhaus und dem Centre Pompidou noch drei weitere in sich abgeschlossene und somit kaum sich gegenseitig bereichernde Episoden. Dies zieht den Gesamtfilm mit seinen über zweieinhalb Stunden einfach zu sehr in die Länge. Das scheint auch der Filmproduktion aufgefallen zu sein. In einer empfehlenswerten „Version B“ werden zweimal je drei Porträts gezeigt. Egal welche Längen-Variante der Zuschauer wählt, auf 3-D sollte er keinesfalls verzichten. Nur so klappt die Reise durch die Kulturreiche.
Wie Sabine Werner ihre Berufe als Architektin und Set-Designerin verbindet, erfahren Sie hier