Text: Cornelia Dörries
Wer nach einer Richtungsbeschreibung für das Baugeschehen im Ruhrgebiet sucht, muss eigentlich nur einen Blick auf die Projekte werfen, die am diesjährigen Tag der Architektur zur Besichtigung offen standen. Zum Beispiel in Essen, mit mehr als einer halben Million Einwohnern die viertgrößte Stadt Nordrhein-Westfalens. Hier öffneten am letzten Juniwochenende 2014 insgesamt 15 Gebäude ihre Türen. Doch davon sind nur vier tatsächliche Neubauten. Die anderen elf Projekte lassen sich unter der weit gefassten Kategorie „Bauen im Bestand“ verbuchen: Umbauten, Sanierungen, Modernisierungen. Und dieses Verhältnis zwischen Neubau und Bestandspflege ist typisch für eine Region, die von Strukturwandel, demografischer Alterung und einer anhaltend lahmenden Wirtschaft immer noch in Mitleidenschaft gezogen wird.
Doch einige der zu besichtigenden Projekte zeigen, wie es gerade mit guter Architektur gelingen kann, neue Impulse zu setzen und Bewegung in stagnierende Gegenden zu bringen.
Dem Stillstand mit guten Ideen begegnen
Was im Programm etwas sperrig als „Neubau eines integrativen Hotels mit Veranstaltungssaal“ angekündigt wurde, erweist sich beim Ortstermin als Publikumsmagnet. Das neue Gebäude befindet sich auf dem parkartigen Gelände des „Franz-Sales-Hauses“, einer 1884 gegründeten Behinderteneinrichtung in Essen-Huttrop. Hier errichtete das ortsansässige Büro Nattler Architekten im Auftrag des konfessionellen Trägervereins ein barrierefreies Vier-Sterne-Hotel mit angeschlossenem Begegnungs- und Veranstaltungstrakt. Der wohltuend zurückhaltende, dreigeschossige Neubau liegt leicht erhöht in das Grundstück gerückt und gibt dem weitläufigen, heterogen bebauten Areal zur Straßenseite eine neue bauliche Fassung. Es ist kein spektakuläres Gebäude, aber ein sichtbarer Gewinn für die Umgebung.
Im Foyer des Gebäudes haben sich trotz Dauerregens weit über 100 Besucher zu einer der stündlichen Führungen eingefunden; die meisten unter ihnen haben längst das Rentenalter erreicht und interessieren sich für alles, was mit Barrierefreiheit zu tun hat. Und die ist in diesem „integrativen Hotel“ bis ins kleinste Detail durchdacht und umgesetzt: 48 barrierefreie Zimmer, großzügige Flure, in denen sich Rollstuhlfahrer nicht in die Quere kommen, sowie spezielle Ausstattungsmerkmale für gehör- oder sehbehinderte Gäste, selbstverständlich alles im gehobenen Vier-Sterne-Standard. „Man weiß ja nicht, wie lange man selbst noch ‚nicht barrierefrei‘ wohnen kann“, so eine ältere Dame. „Ich wollte mal wissen, wie so etwas aussehen kann.“ Wie angenehm es sich in barrierefreien Wohnungen indes leben lässt, kann man ein paar Kilometer weiter im Stadtteil Holsterhausen besichtigen. Dort wurde die 1961 errichtete Lukaskirche nach Profanisierung und anschließendem Verkauf vom Essener Büro Heinrich Böll Architekten zum Lukas-K-Haus umgebaut. Der neue Eigentümer ließ den ehemaligen Sakralbau für eine funktionale Mischung aus Praxisräumen, Kindergarten und barrierefreien Mietwohnungen ertüchtigen. Dafür wurden in den schlichten rechteckigen Baukörper zusätzliche Geschosse eingezogen – zwar unter Preisgabe der hallenartigen Großzügigkeit und der vertikalen Kirchenfenster entlang der Längsfassade, doch zugunsten eines kleinen raumökonomischen Wunders: Alle Ebenen wirken dank großzügiger neuer Fensterflächen und Balkone offen, luftig und hell.
Eine architektonische Meisterleistung ist das Treppenhaus, das mit etwas Abstand zur Stirnseite platziert wurde, sich durch das ganze Gebäude zieht und die Besucher und Bewohner am original erhaltenen Bleiglasfenster vorbeiführt, das nicht nur an die frühere Kirche erinnert, sondern auch die lichte Höhe des Raums auf sehr erhabene Weise erfahrbar macht. Die Wohnungen im Lukas-K-Haus waren schnell vermietet. Viele der Bewohner sind Einheimische, die vorher in städtischen Randlagen lebten, nun an der Schwelle zum Ruhestand stehen und sich bewusst für eine zentralere Wohnlage mit barrierefreier Ausstattung entschieden haben. Ein neuer Nachfragetrend? Zumindest der Beweis, dass gute Architektur die Menschen auch in höherem Alter in Bewegung versetzt. Und von guter Architektur kann dann die Rede sein, wenn sie auf veränderte Bedürfnisse und neue Ansprüche mit Ideen, gestalterischem Anspruch und hoher Qualität reagiert.
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