Text: Cornelia Dörries
Selbst im Büro der Berliner Architekten Frank Arnold und Mathias Gladisch sprengt das Flughafengebäude Tempelhof alle Maßstäbe. Ordentlich sortierte Stapel aus Gutachten, Plänen und Studien, geschätzt etwa zehn Kilo Papier, bedecken den großen Besprechungstisch. Dennoch sind sie nur ein kleiner Teil der analytischen Bestandsaufnahme des 1,3 Kilometer langen Bauwerkes, an der Arnold und Gladisch von 2004 an gearbeitet haben. Vor mehr als zehn Jahren, als die Schließung des Flughafenbetriebs in Tempelhof schon beschlossene Sache war, bekamen die Architekten den Auftrag für ein baufachliches Gutachten. Die Bundesrepublik, damals noch Mehrheitseigentümerin, wollte sich von den Potenzialen ihrer denkmalgeschützten Liegenschaft ein umfassendes Bild verschaffen und prüfen lassen, ob und wie sie die Immobilie selbst nutzen könnte. Dabei ging es um ganz pragmatische Fragen: Taugt das Gebäude als Sitz eines Ministeriums? Wie viele Bundesbedienstete hätten darin Platz? Was würden Umbau und Modernisierung kosten?
Die erste Kurzbegehung, durchgeführt von zwei Mitarbeitern des Büros, dauerte einen Monat. Dann erarbeiteten die Architekten ein Schema zur Erklärung des Komplexes und stellten anhand einer Analyse der einzelnen Gebäudeteile und der vorhandenen unterschiedlichen Raumtypologien fest: Grundsätzlich lässt sich der Bestandsbau zum Behördensitz umbauen und böte Platz für etwa 5.000 Mitarbeiter. Allerdings müssten dafür die riesigen, geschlossenen Hangarflächen mit temporären Strukturen nachverdichtet werden. Das allerdings nur mit Kompromissen beim Denkmalschutz, in Sachen Aufenthaltsqualität und Raumökonomie sowie mit geschätzten Kosten von seinerzeit 500 Millionen Euro. Der Bund zog sich komplett zurück und veräußerte seinen Flughafen-Anteil von 83 Prozent an das Land Berlin, dem bis dahin nur 17 Prozent gehörten. Die arme Hauptstadt besaß nun ein europäisches Architekturdenkmal von Rang – entworfen von Ernst Sagebiel, erst nach dem Krieg fertiggestellt und später von Norman Foster zur „Mutter aller Flughäfen“ geadelt. Doch es fehlte nicht nur an Geld, sondern auch an Ideen für Nutzung und Weiterbetrieb des Gebäudes. Nun begann das Nachdenken über das Flughafengebäude – weitgehend entkoppelt von der Debatte um die Freifläche.
Im Jahr 2006, zwei Jahre vor der endgültigen Schließung des Flughafens, trat mit dem Investor Lauder Langhammer plötzlich der sprichwörtliche Onkel aus Amerika auf den Plan und wollte mit Berlin ins Geschäft kommen. Die Idee: Tempelhof als internationaler Gesundheits- und Medizinstandort mit Kliniken, Forschungseinrichtungen, Hotel und Tagungszentrum, allerdings unter Aufrechterhaltung des Flugbetriebs. Solvente Patienten aus aller Welt sollten direkt von der Gangway ihres Privatjets zur Herz-OP gelangen.
Die mit den Gegebenheiten bereits vertrauten Architekten Arnold und Gladisch bekamen über die Vermittlung der BIMA von Lauder Langhammer den Auftrag für eine erneute Studie, die nach ihrem Abschluss unter dem Namen „Innovation und Baudenkmal“ die Machbarkeit der gewünschten Mischnutzung belegte. Doch an dem politischen Beschluss, den Flugbetrieb in Tempelhof zugunsten des entstehenden neuen Großflughafens BER endgültig stillzulegen, war bald nicht mehr zu rütteln. Damit hatte sich das Vorhaben einer medizintouristischen Nutzung mit direktem Flughafenanschluss in Tempelhof erledigt. „Das Projekt von Lauder Langhammer war schon weit gediehen. Es gab bereits Vorverträge mit Dienstleistern“, so Architekt Frank Arnold. „Doch nachdem sich diese Option zerschlagen hatte, war an den Verkauf an einen Investor nicht mehr zu denken.“ Das Vorhaben war der letzte ernsthafte Versuch, dem gigantischen historischen Bestand mit einem Gesamtkonzept und einem entsprechenden Investitionsbudget zu Leibe zu rücken. Zwar wurde noch geprüft, ob das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung BBR zusammen mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben BIMA nach Tempelhof ziehen könnte; eine konkrete Planung ergab sich daraus allerdings nicht.
Arnold und Gladisch entwickelten auf Grundlage ihrer Gutachten umfangreiche Konzepte, die nicht mehr von einer kohärenten Gesamtnutzung ausgingen, sondern verschiedene Nutzungen unter einem Dach bündelten. Denn physisch und strukturell ist der überraschend robuste und flexible Bestand für vieles und Verschiedenes geeignet. Bei aller zur Schau gestellten äußeren Monumentalität handelt es sich um eine bautechnisch moderne und durchdachte Stahlskelettkonstruktion, deren Ausstattung mit Doppelböden und Unterflurkanälen nach damaligen Kriterien sehr fortschrittlich war. Natürlich entsprechen die bauphysikalischen Merkmale – Stichwort: Betriebskosten – nicht mehr heutigen Maßstäben; und auch das Verhältnis zwischen Verkehrs- und Nutzflächen ist alles andere als optimal. Doch im weiten Spektrum zwischen Büro- und Gewerbenutzungen sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen ist in den knapp 80 Jahre alten Mauern alles Mögliche denk- und machbar.
Zu wenig Geld für zu viel Größe
Dieses Potenzial will, nein, muss das Land Berlin als Eigentümer ausschöpfen – und zwar sowohl ohne den reichen Onkel aus Amerika als auch ohne Geld für eine Komplettsanierung des Hauses. Für die Verwaltung und allmähliche Entwicklung des Gebäudes wurde 2010 die landeseigene Tempelhof Projekt GmbH gegründet, die sich nach dem jüngsten Aus für jedwede Baumaßnahme auf dem Flugfeld nun ausschließlich der Bestandsimmobilie widmet. Ihre Strategie setzt auf eine kleinteilige Entwicklung und berücksichtigt dabei, wie Sprecher Martin Pallgen sagt, „die begrenzten Mittel des Landeshaushalts“.
Und so ist die Lage: Von den 310.000 Quadratmetern Gesamtfläche sind 205.000 Quadratmeter prinzipiell vermietbar. Derzeit wird ein Drittel als Büro-, Gewerbe- und Lagerflächen genutzt; ein weiteres Drittel steht als Veranstaltungs- und Eventbereich zur Verfügung. Dazu gehört auch der gesamte Bereich von Haupteingang und ehemaliger Abfertigungshalle, der dadurch nicht mehr öffentlich zugänglich ist und dem Gebäude die Anmutung einer verriegelten Festung verleiht. Der Rest, meist kleine, über das gesamte Gebäude verteilte Einzelbereiche, befindet sich derzeit noch in einem nicht vermietbaren Zustand und soll schrittweise saniert und modernisiert werden. Die Einkünfte aus den Vermietungen decken im Moment allerdings nur die laufenden Betriebskosten. Für die teilweise dringend nötigen Instandsetzungen an dem nie fertiggestellten Bauwerk muss die öffentliche Hand weiterhin draufzahlen.
Während Tempelhof als Austragungsort für Messen, Ausstellungen, Kongresse, Festivals und Sportveranstaltungen seit 2009 erfolgreich vermarktet wird, läuft die Vermietung der Büro- und Verwaltungsbereiche nur langsam an. „Im Fokus stehen hier vor allem Unternehmen aus dem Kreativ- und Bildungsbereich sowie der Life-Sciences“, so Martin Pallgen von der Tempelhof Projekt GmbH. „Die Leitidee, den Flughafen als Ort der Kommunikation und des Austauschs zu begreifen, soll sich auch in der Mieterstruktur und der weiteren Nutzung widerspiegeln.“
Im Grunde beschreibt er damit die klassische Strategie, mit der Konversionsprojekte sozusagen „von unten“ entwickelt werden: Fabrik- und Industrieanlagen, ausgemusterte Kasernen oder leer stehende Gewerbeimmobilien. Im Idealfall koexistieren wirtschaftlich potente Mieter mit weniger einträglichen oder exotischen Gewerken aus dem Kunst- und Kulturbereich und bilden so eine attraktive Mischung mit Außenwirkung.
Welche gestalterischen Möglichkeiten der historische Kontext von Gebäude und Flugfeld birgt, lässt sich im Dachgeschoss bei der Firma Exozet besichtigen. Die Digitalagentur für „Creative Technologies“ hat sich von dem Berliner Architekten Wolfgang Blum auf 2.000 Quadratmetern ein Büro einrichten lassen, in dem sich die architektonische Qualität des Hauses und die einmalige Weite des Tempelhofer Felds auf beeindruckende Weise ergänzen. Vor den geschosshoch verglasten Fensterfronten erstreckt sich das ehemalige Flugfeld wie eine Savannenlandschaft; innen ist die vormals düstere, verschachtelte Zellenbürostruktur einer offenen, luftigen Raumfolge gewichen. Blum entwickelte seinen Entwurf aus einer ganz pragmatischen Gegenüberstellung des Bestands und der gewünschten Anforderungen. „Es ging darum, eine Lösung für die Widersprüche zu finden“, so der Architekt. Dabei erwies sich ausgerechnet der in solchen Fällen oft gefürchtete Denkmalschutz als ermutigender Partner. Anstatt nur mit Auflagen und Verboten zu kommen, kooperierten die Denkmalpfleger mit dem Bauherrn und dem Architekten von Anfang an und trugen engagiert dazu bei, den Räumen neues Leben einzuhauchen. Historische Details wie Spolien und Wandbilder aus der Zeit, als hier die Alliierten saßen, wurden aufwendig konserviert; Haustechnik und Ausstattung sind jedoch komplett neu. Mit dem Entwurf ist es gelungen, das einmalige Umfeld als Qualität für das Gebäudeinnere zu nutzen und beides – das Haus und das Flugfeld – als Zusammenhang zu begreifen. So gesehen, ist das Exozet-Büro eine Pioniertat.
Die von der Tempelhof Projekt GmbH angestrebte Nutzungsmischung und Vielfalt kommt dem Konzept einer städtischen Integration des Komplexes von Arnold und Gladisch sehr nah. Doch vermissen die Architekten eine übergreifende Idee für das Areal und beklagen, dass die Öffentlichkeit auch weiterhin erfolglos am Haupteingang des Gebäudes nach einem Zugang zum Tempelhofer Feld suchen wird. Befragt nach der ihrer Meinung nach idealen Nutzung für das Haus, legen Mathias Gladisch und Frank Arnold ein schönes Rendering auf den großen Besprechungstisch: Ein Luft- und Raumfahrtmuseum mit angeschlossenen Forschungsinstitutionen, das wäre nach Ansicht der Architekten eine der Geschichte des Ortes und seinen baulichen Voraussetzungen am besten entsprechende Nutzung. Die Planungen dafür haben Arnold und Gladisch sich als Kür auf eigene Kosten geleistet und stießen damit bei vielen auf Begeisterung. Mangels Geld und interessiertem Betreiber ist das Museum ein Traum geblieben. Aber auch mit Träumen ist man jetzt im alten Flughafengebäude gut aufgehoben: In Kürze eröffnet die Sigmund-Freud-Universität hier ihre Berliner Zweigstelle.
Der dritte Mann
Albert Speer senior kennt heute jeder als den führenden Architekten der Nazizeit. Ernst Sagebiel, den Entwerfer der Tempelhofer Flughafengebäude, kennen viele. Aber nur wenige kennen Herbert Rimpl. Dabei führte er das mit bis zu 1.000 Beschäftigten größte Planungsbüro im Nazireich; der Autor Jo Sollich spricht vom „größten Architekturkonzern Westeuropas“. Dieser entwarf Industriebauten, genauer: Rüstungsfabriken. Nach dem Krieg pflegte Rimpl den Mythos, er habe während der Nazizeit eine Großnische der Moderne unterhalten. Das Buch widerlegt dies: Funktionale Sachlichkeit diente nur der Kostensenkung im Fabrikbau; irgendeine Architekturhaltung ist bei Rimpl nicht erkennbar – außer grenzenlosem Opportunismus, gepaart mit starken Management-Leistungen im Dienst der bösen Sache.
Jo Sollich
Herbert Rimpl. Architektur-Konzern unter Göring und Speer
Dietrich Reimer Verlag, 2013,430 Seiten,
79 Euro