Text: Claas Gefroi
Hamburg-Wilhelmsburg – war da was? In Hamburg ist die Internationale Bauausstellung, die den stigmatisierten und gebeutelten Arbeiterstadtteil auf der Elbinsel voranbringen sollte und die letztes Jahr ihr Finale feierte, schon wieder Schnee von gestern, denn die hiesige Stadtentwicklung besetzt immer neue Felder: Nach Hafencity, Sprung über die Elbe, IBA Wilhelmsburg und Mitte Altona wird nun – der Wahlkampf zur Bürgerschaftswahl 2015 ist eröffnet – die Weiterentwicklung des Hamburger Ostens als neuestes Kaninchen aus dem Zylinder des amtierenden Bürgermeisters gezaubert – mit dem Versprechen Zigtausender neuer Wohnungen.
Vieles begonnen und noch wenig zu Ende geführt, kein Innehalten, um über das eigene Tun zu reflektieren: Gerade im Falle der IBA ist dies bedauerlich, denn aus ihren Methoden und Erfahrungen ließe sich einiges lernen. Öffentlich wahrgenommen wurde vor allem die eher enttäuschende Neue Wilhelmsburger Mitte – dabei entstand in ihrem (kurzen) Schatten ungleich Interessanteres, wie das „Weltquartier“ im Reiherstiegviertel. Jetzt wurde es mit dem Deutschen Städtebaupreis ausgezeichnet (siehe Kasten Seite 16). Laut Jury ist es hier gelungen, „auf sozialer, partizipativer und gestalterischer Ebene eine angemessene Sprache zu finden, sodass das Weltquartier für viele zu einer neuen Heimat wurde“.
Heimatforscher ermitteln Bewohnerwünsche
Ganz ohne Leuchttürme und Landmarken wurde hier ein disparates Gebiet unter Einbeziehung der 1.700 Einwohner aus über 30 Nationen zu einem Quartier mit eigener Identität entwickelt. Kern des Projekts war die Sanierung und Modernisierung einer Werftarbeitersiedlung aus den 1930er-Jahren, die energetisch, aber auch funktional nicht mehr heutigen Erfordernissen genügte. Die IBA GmbH und der Eigentümer, die städtische SAGA, initiierten hierfür einen intensiven, niedrigschwelligen Beteiligungsprozess, dessen Ziel es war, die Wünsche und Ideen der aus aller Herren Länder stammenden Bewohner zu berücksichtigen. Dabei ging man einen ungewöhnlichen Weg: Statt Versammlungen einzuberufen, zu denen zumeist nur die immer gleichen engagierten Bürger erscheinen, klingelten sogenannte „Heimatforscher“ an jeder Tür und erkundigten sich in den jeweiligen Sprachen nach den Vorstellungen und Vorlieben der internationalen Bewohnerschaft.
Vieles davon floss als Vorgabe in den städtebaulichen Ideenwettbewerb und auch in die Entwürfe der im Wettbewerb siegreichen Architekten kfs ein: Balkone und Loggien entstanden, Dächer wurden ausgebaut, Grundrisse familienfreundlich neu aufgeteilt, Wohnräume nach außen vergrößert, neue Hauseingänge geschaffen. Den Wärmedämmungen sind Riemchenfassaden vorgeblendet; es gibt neue Bauteile wie Dachgauben, Wohnraumerweiterungen und Balkone. Dadurch stellt sich außen eher der Eindruck von Neu- denn von Altbauten ein, was aber in Anbetracht der ästhetisch dürftigen Erscheinung des Bestands kein Nachteil war.
Auch die Außenanlagen wurden vollständig erneuert: Die Erdgeschosswohnungen erhielten Vor- und Mietergärten, in den Höfen entstanden neue Grünanlagen, unter anderem mit Gemeinschaftsflächen, für deren Gestaltung und Pflege die Mieter eines Hauses die Verantwortung tragen. Bis ins kleinste Detail wurde das soziale Miteinander gefördert: Vor jedem Hauseingang gibt es nun ein kleines Plateau mit Sitzbank als halbprivate Vorzone. Der Landschaftsarchitekt Sven Andresen baute den Weimarer Platz, der bislang bloß Parkplatz war. Hier entstand schließlich ein Quartierstreffpunkt mit Sitzbänken und Tischen, Spielgeräten und einem Pavillon nach dem Entwurf von Kunst + Herbert Architekten, in dem Kaffee getrunken oder Hausaufgabennachhilfe gegeben wird.
Rund um den Platz wurden weitere Wohnhäuser der Siedlung modernisiert – verantwortlich waren die Architekten Knerer und Lang und czerner göttsch. Wer die Gegend noch aus Vor-IBA-Zeiten kennt, reibt sich verwundert die Augen: Wo früher alter Hausrat und Müll achtlos auf der Straße abgeladen und Wände vollgesprüht wurden, wirkt heute selbst Monate nach der Fertigstellung alles wie aus dem Ei gepellt. Zwar machten viele Altmieter nicht von ihrem Rückkehrrecht Gebrauch, obwohl die Mieterhöhung nur gering war. Viele Menschen zogen neu in die Siedlung. So oder so erstaunt, wie gut in Schuss hier alles ist. Ganz offensichtlich identifizieren sich die alten und neuen Bewohner mit ihrem Quartier, achten auf seine Unversehrtheit und pflegen es.
Ergänzt wurde die sanierte Siedlung durch zahlreiche Neubauten. Ganz im Norden, als Abschluss der alten Siedlung zur Neuhöfer Straße, werden derzeit ein u-förmiges Gebäude sowie ein sogenanntes Turmhaus von Gerber Architekten fertig- gestellt. Ihre Höhen, aber auch die bewegte Satteldachlandschaft orientieren sich eher an den Gründerzeithäusern im weiteren Umfeld und setzen als Entree in die Siedlung einen markanten städtebaulichen Akzent.
Die Ziegelfassaden hingegen sind von der unmittelbaren backsteinernen Umgebung inspiriert, wirken mit ihrem sanften Schwung, hervorspringenden Läuferschichten und herausgezogenen, bodentiefen Fenstern zugleich jedoch modern. Hinter den hohen, fensterlosen Giebeln verbergen sich übrigens Abstellräume für die Mieter und die raumgreifenden Lüftungsanlagen, denn alle Neubauten mussten im Passivhaus-Standard errichtet werden. Unweit davon, an der Westflanke der Siedlung, wachsen die Neubauten mit 120 Wohnungen der Architekten petersen pörksen partner empor.
Im Süden schließlich war das Büro Knerer und Lang tätig: Zwei Riegel und ein U sowie ein Ergänzungsbau in einem bestehenden kleinen Block stammen von ihnen. Letzterer fällt mit seinen in schneeweiße Putzfassaden hineingestanzten Fenstern und Loggien aus dem Rahmen und passt sich doch gut in die verputzten Altbauten des Blocks ein. Die frei stehenden Neubauten bilden hingegen den Abschluss der alten Arbeiterwohnsiedlung und tragen deshalb ebenfalls ein rotes Ziegelkleid, belebt durch einige Faltenwürfe der Außenwände und der metallenen Balkonbrüstungen.
Die Grundrisse aller Neubauten sind konventionell – es dominiert die immer anachronistischer wirkende stereotype Aufteilung in etwas großzügigere Wohn- und kleine Schlaf- und Kinderzimmer. Die IBA-Macher und die Architekten haben hier gewiss anderes im Sinn gehabt, und man kann sich nur wünschen, dass die städtische SAGA als Bauherr, aber auch Land und Bund als Urheber der Richtlinien für den geförderten Wohnungsbau künftig größere Spielräume ermöglichen.
Doch das Weltquartier besteht nicht nur aus Wohnbauten. Ganz im Süden lag auf 6.700 Quadratmetern eine ungeordnete Baracken- und Hallenlandschaft, in die sich teilweise migrantische Gewerbetreibende mit Kfz-Werkstätten, Schrott- und Autoteilehandlungen eingemietet hatten. Üblich ist in so einem Fall, den Gewerbehof aufgrund der Lärm- und Abgasemissionen in ein Industriegebiet zu verlagern. Die IBA hingegen wollte ihn am Standort belassen, aber dem Gewerbe im wirtschaftlich schwachen Stadtteil mit angemesseneren und funktionalen Gebäuden eine neue Zukunftsperspektive geben.
Der realisierte Entwurf von Dalpiaz + Giannetti Architekten basiert auf einem modulartigen System: Flexible Boxen lassen sich als Werkstätten, Lager oder Büros an die Anforderungen der Betriebe anpassen. Ein transparentes, alles überspannendes Dach aus Polycarbonat-Platten ermöglicht unabhängig vom Wetter Arbeiten, Handeln und Plaudern im Außenbereich und fördert so das soziale Miteinander der Gewerbetreibenden – fast ein wenig wie auf einem orientalischen Basar.
Solche Ansätze machen das IBA-Weltquartier so überaus interessant und nachahmenswert. Weder wurde diesem disparaten Stadtgebiet ein rigoroses Städtebauprogramm aufgezwungen noch wurde ein Architekturzoo gebaut. Stattdessen nahm man das Vorhandene ernst, die Menschen, Gebäude, Räume. Stadtplanung ist hier ein Prozess, ein langer Weg, den die Planer mit den Bürgern in vielen kleinen Schritten zusammen gehen. Das, was am Ende steht, entstand aus dem Quartier für das Quartier und besitzt eine ganz eigene Stimmigkeit und Authentizität.
Städtebaupreis für urbane Projekte
Das Weltquartier Hamburg ist einer der beiden Gewinner des Deutschen Städtebaupreises 2014. Den zweiten, das Münchener Innenstadt-Projekt Hofstatt, stellen wir im Dezember vor. Der Deutsche Städtebaupreis wird alle zwei Jahre von der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung ausgelobt und von der Wüstenrot Stiftung gefördert. Nach einem Ausflug ins Landschaftliche im Jahr 2012 konzentriert er sich jetzt wieder auf urbane Projekte. Auszeichnungen und Sonderpreise gab es für den Ausbau der Goethe- und Germaniastraße in Kassel, die Neugestaltung des Fischmarkts in Erfurt, den Berliner Gleisdreieck-Park, den Schilde-Park in Bad Hersfeld, die neue Ortsmitte im bayerischen Wettstetten, die Potsdamer Gartenstadt Drewitz und das Technologie-Terminal Ilmenau. Anerkennungen erhielten eine Brücke in Raunheim, der Richard-Wagner-Platz in Leipzig, der Bitscher Platz in Lebach, der Herderplatz in Weimar und die Schottenhöfe in Erfurt.
Claas Gefroi ist freier Autor sowie Presse- und Öffentlichkeitsreferent der Hamburgischen Architektenkammer.
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