Text: Roland Stimpel
Leipzig, am 6. und 7. Januar 1990. Trotz Kälte, Smog und nach-revolutionärer Erschöpfung haben sich mehr als tausend Menschen in den Vorort Markkleeberg aufgemacht und versammeln sich in der Halle einer Agrar-Messe. Hier waren noch vor genau drei Monaten friedliche Demonstranten von der Volkspolizei eingesperrt worden – bis zu zehn Menschen in einer Pferdebox.
Jetzt siegt das Volk. „Es war die erste freie Veranstaltung zum Bauen und Planen in der DDR“, erinnert sich der Initiator der Veranstaltung, Wolfgang Hocquél. Es kamen „Architekten, Ingenieure, Künstler, Denkmalpfleger, Wissenschaftler, Angestellte der Bauverwaltungen und Baubetriebe, Umweltakteure“ und viele normale Bürger. Eher Randfiguren waren der aus Berlin angereiste Bauminister, sein Staatssekretär und die Generaldirektoren der Leipziger Baukombinate. Denn die Veranstaltung hieß „Volksbaukonferenz“. Sie war ein Fanal für ein neues Planen und Bauen und markierte den Wendepunkt auf dem Weg zur freien Architektenschaft.
Nicht zufällig fand die Konferenz in Leipzig statt, der kaputtesten Metropole der DDR. „Die Stadt fiel uns auf den Kopf“, erinnert sich Hocquél, gelernter Bauingenieur, Kunstwissenschaftler und Denkmalpfleger auf zuvor oft verlorenem Posten. 48.000 Haushalte suchten vergeblich eine Wohnung; zugleich standen 30.000 marode Wohnungen leer, die der Staat nicht reparieren ließ. Stattdessen drohte der Abriss – im DDR-Deutsch die „Aussonderung“ – von weiteren 53.000 Wohnungen in den folgenden zehn Jahren, mehr als der Hälfte aller Leipziger Altbauten.
Ganze Stadtviertel lagen darnieder; Verfall und Umweltzerstörung gehörten zu den Antrieben der Montagsdemonstrationen. Auch in der Woche nach dem Mauerfall dachte Hocquél nicht ans Reisen, sondern an die Rettung seiner „schwer gezeichneten Stadt“. Hocquél erinnert sich an den 15. November 1989 – „einen typischen Novembertag, an dem im Regen die ganze Stadt schwarz war“. Im Klub des Kulturbunds überlegte er laut, „wie sich die Kraft der Straße in aktives Handeln zur Erneuerung der Baupolitik umwandeln ließe“.
Für seine Idee einer öffentlichen Tagung gewann er drei Kultur- und Architektenverbände; sieben Wochen später begann sie in der Agrarhalle. Die Geschäftsordnung war einfach: Wer sich meldete, durfte der Reihe nach sprechen, aber jeder höchstens fünf Minuten. „Redner hatten wir nicht eingeladen“, sagt Hocquél. „Jeder konnte kommen und sich äußern, denn jeder wurde gebraucht.“ Zur Eröffnung bezeichnete der Kulturbund-Vorsitzende Peter Held die Konferenz als „Aufschrei“. Sie sei aber „kein Schrei der Verzweiflung, sondern ein Schrei nach konstruktiver Veränderung“.Held protestierte gegen Flächenabriss und neue „Miss-Bauten“, gegen „Unordnung und Verfall“ und gegen den absoluten Vorrang von „kurzfristigen ökonomischen Überlegungen“ beim Bauen.
Stabile Mieten oder stabile Häuser?
Der Kunsthistoriker Thomas Topfstedt erinnerte an den größten Abriss-Skandal der Stadt, die 1968 von Walter Ulbricht verfügte Sprengung der Paulinerkirche. Der Chef der Hochschulbücherei, Bernd Rüdiger, stellte sich mit den Worten vor: „Ich bin Direktor der größten Bibliotheksruine der Welt.“ Die Architektin Angela Wandelt protestierte gegen die Gewalt und die Monotonie des industriellen Neubaus: „Die Plattenwerke sind nun einmal gebaut und produzieren immer weiter. Gebäude werden nicht für den jeweiligen Standort entworfen, sondern man macht die Stadtgebiete für das Erzeugnis frei. Damit ist der Fertigungsprozess wichtiger geworden als der Planungsprozess.“
Eine Frau forderte ein Baugesetzbuch und Vorrang für die Innenentwicklung statt neuer Wohngebiete. Ein Mann protestierte gegen die drohende Vernichtung im historischen Industriegebiet Plagwitz-Lindenau. Ein anderer gab ein nur acht Sätze kurzes Statement ab – mit einer Frage, die im System der DDR-Billigstmieten politisch höchst brisant war: „Bürger, wollt ihr stabile Mieten oder wollt ihr stabile Häuser?“
In bedrückendem Kontrast zum Mut und Elan der Initiatoren und Bürger standen die Statements von Funktionären. Der städtische Chefarchitekt Dietmar Fischer schwärmte vor der kaputten Kulisse der Stadt von „Tiefgaragen und Parkdecks in den Wohngebieten. Parkhäuser in den Zentren gehören längst zum internationalen Standard. Nur bei uns durfte bisher nichts davon gebaut werden.“
Der stellvertretende Bezirksbaudirektor Karl-Heinz Klein meldete, „13 bezirksgeleitete Betriebe haben ihre Pläne im Jahr 1989 annähernd erfüllt“. Er warnte konventionell und grundsätzlich vor dem „Verhalten des Privatkapitals“ und glaubte genau zu wissen, woran es in Leipzig fehlte: „3.181 Tonnen Walzstahl, 207 Tonnen Aluminium, 2.090 Quadratmeter Schnittholz und 7.900 Tonnen Straßenbaubitumen“. Und der Kombinatsmann meinte: „Leipzig ist in dem Maß zu retten, wie unsere Republik gesundet.“
Aus Berlin reiste Bauminister Gerhard Baumgärtel an, Mitglied einer nur schwach gewendeten und nach wie vor nicht demokratisch gewählten Regierung. Wie Klein sah er die Leipziger Baumisere in alter DDR-Manier als reines Quantitätsproblem, das zentral in Berlin zu lösen sei. Baumgärtel versuchte, die Bürger mit der Ankündigung einer Materialschlacht zu gewinnen, und versprach zusätzliches Gerät: „Vier Bagger, fünf Planierraupen, acht Zwangsmischer und eine Betonaufbereitungsanlage“, außerdem „Erhöhungen der Materialfonds gegenüber dem Vorjahr um 8.000 Quadratmeter Wandfliesen, 2.700 Spülkästen und 4.000 Meter PVC-Rohr“ sowie „10.000 Quadratmeter Raumheizer aus Stahlblech“ und nicht zuletzt „flexible Verteiler für Mischbatterien für mehrere Tausend Wohnungen“. Da er die wahren Probleme völlig ignorierte, wurde Baumgärtel in der Konferenz ausgepfiffen.
Dann kamen wieder Revolutionäre zu Wort. Visionär und folgenreich auf ganz andere Art war die Rede des Architekten Winfried Sziegoleit, renommiert mit Bauten wie dem Rundkino an der Dresdner Straße, dem Gewandhaus und dem „Bowlingtreff“ in Leipzig, einem der wenigen postmodernen Schmuckstücke der DDR. Er sprach für die oppositionelle Initiative Leipziger Architekten, die sich kurz zuvor außerhalb des offiziellen Architektenbundes BdA gebildet hatte. Diesem warf Sziegoleit „anhaltende Sprachlosigkeit“ vor und proklamierte den schönen Satz: „Wir möchten nicht, dass alles ganz anders bleibt.“
Architektenblatt als Schmuggelgut
Bisher waren die meisten Architekten untergeordnete Mitarbeiter der Baukombinate; freie Büros gab es nicht. Offiziell nannte man das „Einheit von Konstruktion, Technologie und Ökonomie“. Daraus wollten Sziegoleit und viele andere ausbrechen. Aber sie wollten den Berufsstand nicht in eine Wildnis führen, sondern ihm einen Rahmen für bestmögliche Arbeitsbedingungen schaffen. Wie sollte das gehen? Sziegoleit hatte schon Jahre zuvor eine Inspirationsquelle aus der noch unerreichbaren Bundesrepublik – das Deutsche Architektenblatt. „Irgendein Verwandter hatte 1987 drei oder vier Stück mitgebracht. Die habe ich durchgeschmökert und dabei Grundbegriffe wie Kammer und HOAI kennengelernt.“
In der Revolution von 1989 war ihm dann „rasch klar, dass das auch die Basis unserer Tätigkeit sein musste“. Also kündigte er auf der Volksbaukonferenz an, die von ihm vertretene Initiative wolle „den organisatorischen Rahmen für die Gründung einer Architektenkammer schaffen“. Mit diesem Vorstoß begann der Ausbruch der ostdeutschen Architekten aus den starren Strukturen. Bald nach der Konferenz gründete Sziegoleit einen Verein zur Gründung einer DDR-Architektenkammer. Und im Juli 1990 beschloss das nunmehr demokratische Parlament in Ost-Berlin, die Volkskammer, auf einer ihrer letzten Sitzungen vor der Einheit ein Architektengesetz als rechtlichen Rahmen. Gegründet wurden die Kammern dann aber erst 1991 in den neuen Bundesländern.
Die Volksbaukonferenz fand ein weites Echo. Das DDR-Staatsfernsehen und auch einzelne westdeutsche Medien berichteten (nicht das Deutsche Architektenblatt – späte Asche auf unser Haupt). Daheim in Leipzig hatte die Konferenz rasch Erfolg: Die Stadt erließ den von ihr geforderten Abriss-Stopp für bis dahin bedrängte Altbauquartiere, der Platten-Neubau im Zentrum wurde gestoppt. Hocquél wurde bald an den runden Tisch eingeladen, der das Machtvakuum zwischen gestürzter SED und noch nicht gewähltem demokratischem Parlament füllte. Nicht lange danach saß er dem Bauausschuss des Leipziger Stadtrats vor; später leitete er das Denkmalamt im Regierungspräsidium. Winfried Sziegoleit wurde im folgenden Jahr der erste Präsident der neu gegründeten Architektenkammer. Und Leipzig hat sich ab der Volksbaukonferenz auf den Weg zum blühenden Gemeinwesen gemacht.
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Es ist bedauerlich, dass dem DAB zum 25. Jahrestag der „1. Leipziger Volksbaukonferenz“ nichts besseres eingefallen ist, als alte Klischees zu reproduzieren. Um ihre Zielsetzungen und Ergebnisse heute einem breiteren Interessentenkreis nahe zu bringen, hätte diese denkwürdige Veranstaltung eine sachlich und fachlich fundierte Würdigung verdient. Einer sorgfältigen Recherche wäre dabei sicher die Festschrift zum 1. Architektentag der Architektenkammer Sachsen aus dem Jahr 1995 aufgefallen, in der der Publizist Wolfgang Kil die Konferenzergebnisse wie folgt analysierte:
„Heutige Pragmatiker und Realisten werden die dort von Architekten formulierten Vorschläge für einen Umbau der Planungshierarchien, der industriellen Produktionsbasis und der Auftraggeberschaft als naiv belächeln. Aber ich hoffe, künftige Historiker werden einen Wert dieser Veranstaltung als bleibend erkennen: Es war der letzte tief ernst gemeinte Versuch, die Architekten als Gesamtverantwortliche für sämtliche gebauten Lebensumstände anzusprechen und in die Pflicht zu nehmen. Es war der letztmalig öffentlich artikulierte Anspruch, Architektur als GRUNDSÄTZLICH SOZIALE Verpflichtung zu begreifen, als ganzheitliche Umweltkultur unter Einschluss von Ökonomie (also Sparsamkeit) und Ökologie (also Bescheidenheit) und somit als Anliegen von gesamtgesellschaftlichem Rang. Und zum letzten Mal wurde über die Chancen von Planung diskutiert, jenseits der heute alles entscheidenden Prämisse: Wem gehört der Boden?! Ein Luftschloss, wir wissen es inzwischen, wie so viele errichtet wurden in jenen wilden und phantasiereichen Tagen. Und doch möchte ich darauf beharren: Architektur in Sachsen nach der „Wende“ begann mit einem letzten Griff nach der Utopie.“ (Aus: Wolfgang Kil: „Fünf aufregende Jahre – Versuch einer Bilanz“ / Architektenkammer Sachsen, Materialien zum Architektentag 1995). Zur weiteren Entwicklung des Planens und Bauens im Osten schrieb Wolfgang Kil 1995:
„Die nachfolgende Wirklichkeit hat alle hochfliegenden idealistischen Ansätze aus dem Blickfeld gedrängt. Die im Januar 1990 dabei waren, sich voller Elan zu emanzipieren, gerieten kurz darauf neuerlich in die Defensive.“
Auch die damaligen „Revolutionäre“, wie sie vom DAB genannt werden, haben sich inzwischen in der heutigen Realität eingerichtet. Ein markantes Beispiel ist die 2012 fertiggestellte Neubebauung des Leipziger Brühls. Aus „Sachzwängen“ heraus wurde hier die einmalige Chance vergeben, einer Top-Innenstadt-Lage mit heutigem Geld, modernen Baumaterialien und Betreibervielfalt zu einer Renaissance der historischen städtebaulichen Identität zu verhelfen. Der ehemalige Leipziger Planungsamtsleiter Wolfgang Kunz beschreibt das Ergebnis und nennt die Ursachen: „… Stattdessen bekommen wir nun eine flache Kiste. Es waren gewiss keine städtebaulichen Gründe, die dafür gesprochen haben, sondern die wirtschaftlichen Nöte der LWB (der städtischen Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft. Ho.), die das Grundstück möglichst teuer verkaufen wollte…“ (Aus: „Leipziger Volkszeitung v. 14.10.2011).
Der im DAB-Beitrag mehrfach erwähnte Wolfgang Hocquel, bis 2008 oberster Denkmalschützer des Regierungsbezirks und in Leipziger Architektenkreisen für seine einseitigen Sichtweisen bekannt, redet das städtebauliche Desaster in seinem eigens verfassten „kunsthistorischen Konzept“ schön, demzufolge man „in einem hochmodernen Shoppingcenter auch auf Spurensuche gehen kann, um etwas über die Vorläuferbauten aus den verschiedenen Epochen zu erfahren“ (Aus der Werbebroschüre „Die Höfe. Die neue Shoppingwelt im Herzen der Stadt“ ; mfi Immobilien Marketing GmbH 2012). Leipzig, eine reine Erfolgsgeschichte? – An solchen Orten wohl eher nicht.
Der Ausspruch vom Schwarzbrot und der Sahnetorte der Denkmalpflege, mit dem mein Architektenkollege Dietmar Fischer so verächtlich zitiert wurde, erscheint mir in diesem Licht gesehen auch heute noch hochaktuell. Er entstammt einem Interview mit der „Leipziger Volkszeitung“ vom 1.12.1989 und lautet im ungekürzten Original:
„Seit jeher ernährt sich die Menschheit von Schwarzbrot und nicht von Sahnetorte. Ich bin für eine funktionstüchtige Stadt – auch mit Sahne. Wie viel Sahnetorten wir uns leisten können, werden wir sehen.“ Allerdings ist dieser Ausspruch nicht von Dr. Fischer, sondern von mir.
Dr.- Ing. Frieder Hofmann
Freier Architekt, Leipzig
Mitglied der Architektenkammer Sachsen