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Wiener Mut

Österreichs Hauptstadt wächst seit Jahrzehnten – und bietet Vorbilder für urbanen Wohnungsbau

29.01.201510 Min. Kommentar schreiben
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Gewinner am Wiener Nordbahnhof: Das Projekt „Interkulturelles Wohnen >com<“ ist ein Beispiel für die neuen, sozial integrativen Wohnungsbauvorhaben in Österreichs Hauptstadt.

Text: Roland Burgard

Die Donaumetropole erlebt eine zweite Gründerzeit. Im Jahr 2013 zählte man Eindreiviertelmillionen Einwohner; für 2030 rechnen die Planer mit zwei Millionen. Jedes Jahr müssen 7.000 Wohnungen neu errichtet werden. Doch schon seit der Mitte der 1980er-Jahre steht ein mit Weitsicht geschaffenes Steuerungsorgan zur gezielten Bodenbevorratung und Bodenpreisdämpfung, der „Wiener Bodenbereitstellung- und Stadterneuerungsfonds“, bereit. 1995 wandelte der damalige Wohnbaustadtrat Werner Faymann, heute österreichischer Bundeskanzler, dieses Instrument zum Wohnfonds Wien um. Förderanträge für den Wohnbau werden seither einem Beirat vorgelegt und bei entsprechender Größe dem Bauträgerwettbewerb unterworfen, an dem sich Projektteams aus Bauträgern, Architekten und Sonderfachleuten beteiligen können.

In den letzten 20 Jahren sind so 53 Bauträgerwettbewerbe durchgeführt worden. Seit 2004 hat die Gemeinde Wien keine eigenen Gemeindebauten mehr errichtet, sondern sich auf Bauträgerverfahren mit kommerziellen und gemeinnützigen Bauträgern beschränkt. Zum Standardrepertoire dieser Wettbewerbe gehört das Wohnen in den Baulücken der Innenstadt, in den neuen Stadtteilen und an der Peripherie. Darüber hinaus wird auch nach Antworten auf gesellschaftlichen Veränderungen gesucht. Wichtige Erfahrungen wurden bei der Umwandlung von Brachflächen in große Wohngebiete gewonnen, wie bei der Wienerberg City, Monte Laa oder dem Kabelwerk. Zwei einstmals große Gleisfelder wandeln sich derzeit. Beispiele am Nordbahnhof und Südbahnhof Wiens zeigen Merkmale des aktuellen Wiener Wohnbauwesens auf. In mehreren Etappen entsteht derzeit am ehemaligen Nordbahnhof ein neuer Stadtteil mit 10.000 Wohnungen für 20.000 Einwohner und 10.000 neuen Arbeitsplätzen. Schon vor 1918 war der Bezirk um den Nordbahnhof das Ziel von Zuwanderern aus den Ländern der Donaumonarchie. Sicherlich ein 18_Wien_2gewichtiges Argument für einen Bauträgerwettbewerb „Interkulturelles Wohnen >com<“ an diesem Ort. Dabei ging es nicht mehr nur um soziale Durchmischung, sondern auf die Schaffung eines Raumangebots, das Begegnungen ermöglicht. Mit diesen Vorgaben fügten die Architekten des Büros Froetscher Lichtenwagner bei ihrem Siegerprojekt ­„Interkulturelles Wohnen >com<“ zwei Baukörper zu einem nach Süden offenen Block, der 96 Wohnungen aufnimmt. Im kleineren Bauteil mischen sich um das zentrale Treppenhaus elf Ateliers mit überhohen Räumen unter die Geschosswohnungen. Die Anmutung des größeren, L-förmigen Bauteils bestimmt eine längsgerichtete, 400 Quadratmeter große Eingangshalle mit dem Charakter einer Hotellobby. Ihre Decke schmückt in fünf Metern Höhe ein Kunstwerk der Gruppe „okcool“, die den Hauseingang mit den Wohnungstreppen und den Eingängen zu acht Mini-Offices für Start-ups zusammenbindet. ­Gerade das macht das „Interkulturelle Wohnen“ zu einem echten Haus der Begegnung. Im selben Quartier steht ein „Wohngebirge“, entworfen vom Architektenduo Anna Popelka und Georg Poduschka PPAG. Aus dem städtebaulichen Wettbewerb „Wohnen am Park“ hervorgegangen, beherbergt es auf acht Obergeschossen und zwei Dachgeschossen 272 Wohnungen. Die Front zur Straßenseite ist kubisch gegliedert – nicht regelmäßig, aber sie wirkt auch nicht zufällig. Zum Park hin ist die Ansicht homogener; rubinrote Glasbrüstungen steigern hier die Spannung. Wer das äußere Erscheinungsbild des Baus verstehen will, muss sich mit dessen Innenleben vertraut machen. In ihrem erbitterten Kampf gegen Monotonie und Schematismus der klassischen Wohnmaschine entwickelten die Architekten für diesen Bau ein striktes Regelwerk: Erstens dürfen sich die Flure nicht über die ganze Länge der Wohnanlage erstrecken. Zweitens sollen die Flure unterschiedlich lang sein und in ihrer Breite ­variieren. Und drittens erhalten übereinander liegende Flure Sichtbeziehungen.

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Anpassungsfähig: Das Projekt „Smart Wohnen im Sonnwendviertel“ soll dank Stützenfreiheit…

Als Ergebnis finden sich im Innern abwechslungsreiche, den Kontakt unter den Bewohnern fördernde Wohnwege mit einem ­hohen Wiedererkennungswert. Aus der Überlagerung des variantenreichen Erschließungssystems mit drei Wohnungs­typen entsteht dann das bewegte Äußere. Das „Wohnen am Park“ ist ein sehr großes Haus und steckt zugleich voller liebevoller, den Wohnwert fördernder Details. Wer hätte je daran gedacht, dass es in einer „Wohnmaschine“ nette Plauderecken für Bewohner geben würde und man, um die Abstellräume der Wohnungen zu erreichen, nur vor die Wohnungstür gehen muss!

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…und modularer Grundstruktur Ausbauvarianten für unterschiedliche Haushalte und Lebensformen erlauben.

Im benachbarten Bezirk Floridsdorf wurde schon Ende der 1990er-Jahre eine „Autofreie Mustersiedlung“ nach dem Entwurf von Cornelia Schindler und Rudolf Szedenik realisiert. Im Zeichen des Fahrrad-Hypes lag es jetzt auf der Hand, Radfahren einmal nicht nur verkehrspolitisch oder unter physiologischen Aspekten zu betrachten, sondern als Ausdrucksform eines Lebensstils. Unter dem Arbeitstitel „Rad und Wellness“ planten königlarch architekten ihren ursprünglichen Wettbewerbsbeitrag „Wohnen am Park“ um. Herausgekommen ist ein aus „Bike City“ und „time2live“ gebildeter Baukomplex, der direkt neben dem „Wohnen am Park“-Projekt von PPAG gut bestehen kann. Zwei Einschnitte öffnen die Anlage zur Nachbarschaft, sonst konzentriert sie sich auf ihren Innenhof.

Die Funktionsräume der „Bike City“ mit großem Fahrradraum, Reparatur- und Wartungsflächen für die Drahtesel sind im Erdgeschoss platziert. Daneben liegen der Fitnessbereich für die Biker und Räume für die Aktivitäten der Kinder, Teens und Twens. Doch die Hingabe der Radler zum Gefährt endet nicht im Erdgeschoss. Großzügig bemessene Aufzüge ermöglichen die Mitnahme ihrer Räder über üppige Erschließungsflure bis zu den Fahrradabstellplätzen an den Eingängen der nach Süden orientierten 99 Maisonette-Wohnungen.

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Häuser mit Ausstrahlung: Klaus Kada gestaltete blutrote Türme, deren Wirkung durch die wechselnde Sonneneinstrahlung im Tagesverlauf noch dramatisiert wird. Die Brücken ermöglichen den Bewohnern einen Rundlauf durch alle drei Bauteile und verbinden Gemeinschaftseinrichtungen.

Darüber hinaus gibt es eine abschließbare Box für besonders wertvolle Exemplare im Keller. Die Bike City ist ein wahres Paradies für Radfahrer, weswegen der Verkehrsclub Österreich sie als „Verkehrssparhaus“ mit dem Mobilitätspreis ausgezeichnet hat. Nicht zwingend erscheint aber, dass es neben den 330 Fahrradstellplätzen auch noch 56 Pkw-Stellplätze gibt.

Die zweite große Konversion eines Bahnareals in ein Wohngebiet befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Südbahnhofs. Um den europäischen Hochgeschwindigkeitszügen einen zeitraubenden Fahrtrichtungswechsel zu ersparen, wurde der neue Hauptbahnhof als Durchgangsstation konzipiert, was auch die Verkehrsbeziehungen zwischen dem X. Gemeindebezirk Favoriten im Süden und dem IV. Bezirk Wieden im Norden erleichtert. Der 2004 beschlossene Masterplan „Bahnhof Wien – Europa Mitte“ weist den beiderseits der neuen Bahntrasse frei gewordenen Gleisfeldern neue Nutzungen zu: Im Norden Büros, doch auf der Südseite entsteht auf 39 Hektar das Sonnwendviertel, das im Endausbau 2019 einmal 13.000 Einwohnern in 5.000 Wohnungen eine ­Heimat bieten soll. Die sieben Baufelder wurden 2009 im Rahmen eines Bauträger­verfahrens an sechs kommerzielle oder ­gemeinnützige Bauträger und deren Architekten vergeben. Beim siebten wurden private Baugruppen bedacht. Für das gesamte Gebiet ist ein gemeinsames Freiraumkonzept erarbeitet worden, was bei vielen anderen Bauträgerverfahren versäumt worden war.

Experiment mit Sozialcharakter

Der Bauträger „Win4Wien“ wagte auf einem trapezförmigen Bauplatz mit Klaus Kada von kadawittfeldarchitektur aus Aachen, Riepl Kaufmann Bammer und Studio Vlay mit Lina Streeruwitz ein drei Architektengenerationen übergreifendes Experiment, in das die drei Teams sich ganz unterschiedlich einbringen. Kada inszeniert im Zentrum der sich nach Süden öffnenden Anlage drei siebengeschossige, aufregend gestaltete, blutrote Türme. Ihre Wirkung wird durch die im Tagesverlauf wechselnde Sonneneinstrahlung noch dramatisiert. Den Rahmen gibt das Fassadenkontinuum der Wohnbauten von Riepl Kaufmann Bammer und Studio Vlay mit Lina Streeruwitz ab, die das Areal im Osten, Norden und Westen begrenzen. Es entstehen markante Außenräume, die im dritten Obergeschoss von drei Brücken überspannt werden. Sie ermöglichen den Bewohnern einen Rundlauf durch alle drei Bauteile und binden die über die Anlage verteilten Gemeinschaftseinrichtungen zusammen. Dem Auftritt des „Wohn_Zimmers“ entsprechend, gibt es ein üppiges Angebot, wie eine Gemeinschaftsküche samt Essraum, ein Wellnesscenter, einen Jugendraum, ein Kleinkino und einen Musikübungsraum. Sogar ein Kräutergarten ist im Angebot.

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Gegliederte Masse: Das „Wohnen am Park“ von PPAG Architekten in Floridsdorf enthält in zehn Geschossen insgesamt 272 Wohnungen. Das Innere ist vielfältig gegliedert.

Während dem „Wohn_Zimmer-Sonn­wendviertel“-Projekt noch das Regime der alten Förderbedingungen zugrunde lag, hat Wohnbaustadtrat Michael Ludwig 2012 auf die angespannte Haushaltslage reagiert, Korrekturen vorgenommen und die Akzente verschoben. Ein neues Beurteilungs­kriterium wurde für die Bauträgerwettbewerbe eingeführt. Es nennt sich „soziale Nachhaltigkeit“, verspricht ein hohes Kosteneinsparpotenzial, und hat gleich drei Ziele: „leistbares Wohnen“, „hohe Qualitätsstandards“ und „innovative Projektinhalte“. Nach wie vor ist die Mischung unterschiedlicher Einkommensgruppen oberstes Gebot, was durch einen Verteilungsschlüssel aus staatlichen Fördermitteln und den von den Bewerbern selbst zu erbringenden Eigenmitteln gesteuert wird. Der monatliche Mietzins pro Quadratmeter Wohnraum der „Smart Houses“ liegt derzeit bei 7,50 Euro.

Das Rote Wien der Gegenwart

Zu den ersten derart geförderten Projekten gehört eines von Geiswinkler & Geiswinkler, das aus dem Bauträgerwettbewerb „Sonnwendviertel II – Smart Wohnen“ hervorgeht und innen wie außen Rationalität demonstrativ zur Schau trägt. Konstruktion und Grundriss­organisation folgen demselben linearen Ordnungsprinzip. Die ­Gebäudetiefe ergibt sich aus dem 40 Quadratmeter großen „Smart Wohnen“- Grundmodul. Über die gesamte Gebäudelänge werden diese Grundmodule um 15 oder 30 Quadratmeter vergrößerte Module erweitert – womit sich der geforderte Mix an Wohnungsgrößen problemlos realisieren lässt. Weil über die gesamte Länge des Baus die Decken frei von konstruktiven Wänden und Stützen ausgeführt werden und sie ihre Last auf die Außenwände abtragen, können die Nutzer ihre Wohnungen völlig frei gliedern.

Der Kampf zwischen rigidem Grundmuster und individueller Ausformung bestimmt die Vor- und Rückfassade des siebengeschossigen Baus. Die Straßenfront ist großstädtisch und trotzdem nicht abweisend. Vor die Südseite der Wohnungen legen die Architekten ein Rahmenwerk als Auflager für große und kleine Balkone. Der Puffer zwischen Straßenraum und Wohnraum soll nicht nur den Lärm dämpfen, sondern begrünt auch das Mikroklima verbessern. Rückseitig werden alle Wohnungen über Laubengänge erschlossen und mit Erweiterungen und Zusatznutzungen versehen. Nach positiven Erfahrungen in anderen Projekten werden auch hier die Erschließungsflächen über das zwingend notwendige Mindestmaß hinaus vergrößert und Gemeinschaftseinrichtungen angeboten, was die Kommunikation unter den Bewohnern fördert. Auch diese Erkenntnis wurde berücksichtigt.

Ist Wien wirklich anders? Drei Konstanten kennzeichnen den Wiener Wohnbau: Seit dem Ende der Monarchie steht er auf der politischen Agenda ganz oben, eine gezielte Durchmischung des Stadtgebietes mit Gemeindebauten verhindert Segregation und wohnungspolitische Ziele werden durch Einbinden in einen architektonischen Überbau nobilitiert. Dies begann in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit den „Volkspalästen“ des Roten Wien und wird heute mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts fortgesetzt.

Prof. Roland Burgard hat an der Universität für angewandte Kunst Wien gelehrt und zuvor das Hochbauamt Frankfurt am Main geleitet

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Reinhard Seiß (Hrsg.)
HARRY GLÜCK.
WOHNBAUTEN.
Mit Fotografien von Hertha Hurnaus und ­Interviews mit Friedrich Achleitner und Harry Glück.
240 Seiten, 23 x 28 cm,
Müry Salzmann Verlag,
48 Euro

Harry Glück entwarf in Wien Wohnungen wie am Fließband – 18.000 wurden von ihm insgesamt errichtet, die meisten davon in den 1970er-Jahren und im sozialen Wohnungsbau. Das sah und sieht man vielen seiner Häuser nicht an, im Gegenteil: Sie prunken mit Luxus-Insignien wie großen, abgestuften Terrassen, reichlich Gemeinschaftsräumen und Schwimmbädern auf dem Dach. Er sparte anderswo: Für den gestalterischen und städtebaulichen Funktionalisten war jeder Zierrat zu viel und zu teuer und die Orientierung an einem kleinteiligen Kontext im Zweifel verzichtbar.

Glücks quantitativ und in den Augen vieler auch qualitativ größte Leistung ist der „Wohn- und Kaufpark Alt-Erlaa“ mit 27-geschossigen, sich nach oben verjüngenden Wohnscheiben, sieben Dachpools und Saunen, 32 Clubräumen, aber in den Wohnetagen mit Mittelfluren und in den Wohnungen mit winzigen Funktionsräumen. Über 30 Jahre nach dem Bau ist Alt-Erlaa dennoch ein beliebtes Mittelschichtquartier und gilt Liebhabern der Hochmoderne als Beleg für das Gute jener Zeit. Auch wenn es in fast jeder Hinsicht eine Ausnahme darstellt – oder vielleicht gerade deshalb.

Leben und Werk Harry Glücks sind jetzt in einem Buch beschrieben und reflektiert, das nicht nur für Wiener das Lesen lohnt. Seine Methoden sind nicht insgesamt kopierbar. Aber an ihm lässt sich musterhaft die Methode studieren, alles in die Inhalte und möglichst nichts in die Form zu stecken – mit allen guten wie schlechten Konsequenzen.

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